Weidmann. Der ganze Wahlkampf der letzten Wochen war vergebens. – Warum die EZB keine normale Zentralbank ist, wie sie eine werden und die Target-2-Hysterie verschwinden könnte

 

Jetzt bleibt er doch einfacher Bundesbankpräsident, Jens Weidmann. Dabei hatte er die letzten Wochen doch europäische Kreide gefressen und gab sich ein ums andere Mal europafreundlich. Die Kanzlerin hat dem ein Ende bereitet und die institutionellen Ambitionen Deutschlands in eine andere Richtung geschraubt. Anderes war auch gar nicht denkbar. Eine solche Provokation in Europa wäre in der veränderten europäischen Wetterlage einer politischen Katastrophe gleichgekommen.

Dabei hatte sich der Bundesbank-Präsident durchaus angestrengt. Sogar der sinnfreien neoliberalen Target-2-Hysterie der letzten Wochen ist er – wenigstens in dem ihm möglichen Rahmen – entgegengetreten. In einem Interview der FASZ (19. August 2018) äußerte er sich wie folgt.

„Machen wir ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, wir hätten eine zentral bei der EZB verbuchte Geldpolitik. Wenn von morgen an die Liquiditätsbereitstellung nicht mehr über die nationalen Notenbanken, sondern über die EZB bilanziert würde, wären die Target-Salden verschwunden.“

Das Gedankenexperiment ist eine sehr sinnvolle Methode geistiger Arbeit. Auch dieses spezielle Gedankenexperiment ist sehr sinnvoll, es wird aber nicht ganz konsequent zum Ende geführt. Angesprochen wird nämlich nicht einfach ein Buchungsproblem der Geldpolitik, sondern die Struktur der EZB bzw. des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) überhaupt: Weil die EZB keine richtige Zentralbank ist, ausgestattet mit allen Mitteln der Macht und Stabilität, sondern eine (absichtsvoll?) geschwächte „künstliche“ Zentralbank, ergibt sich u.a. die vermeintliche Target-2-Problematik.

In der Struktur einer richtigen europäischen Zentralbank wären die nationalen Zentralbanken, so auch die Bundesbank, das, was in der Bundesrepublik früher Landeszentralbanken genannt wurde. Das waren reine Verwaltungseinheiten der Bundesbank, ohne jede Macht und Mitsprache. Da im ESZB die nationalen Zentralbanken aber tragende und mitsprechende Einheiten sind, ist in dieser Struktur ein Moment der Reversibilität der Währungsunion eingebaut. Und nur in diesem Zusammenhang, dem Zusammenhang der Auflösung der Währungsunion, machen ja die Angstmachereien der Neoliberalen zu den Traget-2-Salden Sinn.

In dieser Struktur drückt sich auch aus, dass in Maastricht keine Staat „Europa“ gegründet wurde, sondern eine Politische Union, ein Gebilde, das getragen wird von Nationalstaaten. Gleichwohl ließe sich darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll wäre, die EZB weiter in Richtung einer richtigen Zentralbank auszubauen. Dies würde ein Stück mehr Irreversibilität in die Währungsunion einbringen und sie stärker machen in der Zukunft, wenn es zu wirklichen „Bedrohungen“ durch die Finanzmärkte kommt. Denn: Die Große Finanzkrise von 2008 und die Eurokrise von 2010-12 stellten ja keine wirklichen Bedrohungen für die EZB und/oder die Währungsunion dar, im Gegenteil, die EZB bzw. ihr Präsident konnte mit einem Zauberwort („whaterever it takes“) das Geplänkel um die Ausreiser bei den Renditen für bestimmte Staatspapiere beseitigen.

Ein solcher Umbau der Struktur des ESZB, der einer Zentralisierung gleichkäme, hätte nicht nur die genannten Effekte. Er würde auch den jetzigen Anachronismus beseitigen, dass sich die EZB in der Konzeptionierung und Durchführung ihrer Politik mit einer dauerhaften und grenzwertigen hausinternen Opposition herumplagen muss. Die Bundesbank bzw. ihr Präsident betreiben seit Jahren eine Art hausinterne Kritik an der offiziellen Geldpolitik der EZB, ohne dass dies von irgendeiner Seite beanstandet würde. Dabei heißt es doch im Protokoll Nr. 4 über die Satzung des europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank in Artikel 14.3:

„Die nationalen Zentralbanken sind integraler Bestandteil des ESZB und handeln gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB.“

Schleierhaft bleibt, wie sich diese Regel mit der Amtsführung der vergangenen Jahre des derzeitigen Bundesbankpräsidenten verträgt.

Wie dem auch sei. Wären die nationalen Zentralbanken nur noch „verwalterisch“ tätige Landeszentralbanken, lösten sich einige Fremdkörper der derzeitigen Währungsunion in Nichts auf, das sogenannte Target-2-Problem, die hausinterne Opposition und die Schwächung der EZB bzw. der Währungsunion.

Die Fixierung auf wirtschaftspolitische Regelbindung der Deutschen. Erzählung von einem Mythos

Gemeinhin wird der deutschen Wirtschaftspolitik, aber auch der Politik allgemein attestiert, sie beruhe ihrem Wesen nach auf dem Prinzip der Regelbindung. Im Bereich der Wirtschaftspolitik gilt es geradezu als Markenkern des Ordoliberalismus, dass er regelgebundener Wirtschaftspolitik den Vorzug vor diskretionären Eingriffen gibt. Regeln gehören zum Ordnungsrahmen und der bildet das Kerngerüst der Wirtschaft, innerhalb dessen sich dann die Marktgesetze entfalten sollen. Der Regelbindung gegenüber steht auf der Skala wirtschaftsphilosophischer Postulate die diskretionäre Wirtschaftspolitik, wie sie insbesondere die angelsächsische Welt, aber auch große Teile Europas kennzeichnet.

Zuletzt haben Brunnermeier u.a. in ihrem Buch („Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen“, 2018) auf die fundamentalen Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Wirtschaftspolitik hingewiesen. Für Deutschland halten sie fest: „Eine Konzentration auf die rechtlichen, moralischen und politischen Grundlagen freier Märkte mit vereinbarten Regeln, bei denen es sich um Verträge, Gesetze, gemeinsame Absprachen oder Vereinbarungen handeln kann“ (S. 89). Für Frankreich konstatieren sie demgegenüber, dass Regeln flexibel auszulegen seien und dass sich der Staat nicht durch Regeln einschränken sollte (S. 99).

Ganz oben, an der Spitze der Pyramide der wirtschaftspolitischen Axiome der deutschen Politik steht nicht die Regelbindung. Diese Annahme ist grundfalsch. Sie ist falsch aus zwei Gründen. 1.) Ganz oben steht, wenn man es tugendphilosophisch formuliert, das bereits aus Erhards Zeiten bekannte Maßhalten oder Gürtel-enger-schnallen, wenn man es fachlich formuliert, die Stabilitätsorientierung und Sparpolitik. Von hier aus strahlt alles auf nachgeordnete Ziele und Zwecke: die Eroberung von Wettbewerbspositionen, die Kreditfeindlichkeit, die Anti-Wachstumspolitik. Ob mit oder ohne Regelbindung, alles wird diesem heiligen Nukleus deutscher Wirtschaftspolitik subordiniert. 2.) Die Regelbindung für sich genommen, wird von der deutschen Politik längst nicht in dem Maße befolgt, wie das meist in den Selbsteinschätzungen und wissenschaftlichen Fremdeinschätzungen unterstellt wird. Im Gegenteil. Zugespitzt ließe sich die These aufstellen: Die Deutschen befolgen und konstruieren Regeln, die ihnen gefallen, sie ignorieren und verletzten Regeln, die ihnen missfallen. Darum soll es im Folgenden anhand dreier Beispiele gehen.

 

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Das erste Beispiel handelt von Verteidigungspolitik. Dabei wird konsequent von der Frage abstrahiert, ob eine Steigerung des Wehretats in dieser Zeit eine angemessene Reaktion auf die internationalen Krisen ist oder ob es nicht sinnvoll wäre statt den Verteidigungsetat den entwicklungspolitischen Etat merklich aufzustocken. Es geht ausschließlich um die Frage der Regelbindung. Vorweg noch ein Hinweis zur gegenwärtigen Aufrüstungspolitik der NATO: Für das Jahr 2017 betragen die Militärausgaben der NATO-Länder 901,5 Mrd. US-Dollar, die Russlands 66,3 Mrd. US-Dollar. Die Schlussfolgerungen liegen auf der Hand. Soviel zur Vorrede.

Deutschland hat 2014 auf dem NATO-Gipfel in Wales ein Dokument unterschrieben, das besagt, dass der Wehretat eines jeden NATO-Mitglieds innerhalb von zehn Jahren auf mindestens 2 Prozent des BIP steigen soll. Zu diesem Zeitpunkt lag der Wert bei etwas mehr als 1 Prozent. Was ist in den Folgejahren passiert? Nicht viel. Es gab mäßige Steigerungsraten, 2018 beträgt der Wert 1,24 Prozent. Die mäßigen Steigerungen und der offensichtliche Unwille, seinen Verpflichtungen nachzukommen, resultieren nicht daraus, dass plötzlich die Friedensengel ins Kanzleramt eingezogen sind, nein die Verweigerung geht auf die mit ideologischer Verstocktheit verfolgte Politik der Schwarzen Null zurück. Als Nebenergebnis kann festgehalten werden: Das für Konservative eigentlich ureigenste Terrain von Politik, die Sicherheitspolitik, wird einem wirtschaftspolitischen Dogma untergeordnet. Das ist Ausdruck von der Besessenheit, mit der dieses Dogma verfolgt wird.

Das ist aber nicht der Hauptaspekt. Der eigentliche Clou, wie Deutschland mit paraphierten Regeln umgeht, kommt noch. In der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes (bis 2022) ist, von diesem Jahr aus gesehen, vorgesehen, dass der Wert stagniert bzw. leicht fällt. Danach, also in der nächsten Legislaturperiode schnellt er dann hoch – auf die geforderte Zahl von 2 Prozent? Mitnichten, er schnellt hoch auf 1,5 Prozent! Hinter diesen vermeintlichen Miniaturzahlen verbergen sich zweistellige Milliardenbeträge, vom heutigen Stand bis zum Endziel 60 Milliarden EUR. Das vereinbarte Ziel wird also schlicht ignoriert.

Wie ist das zu deuten? Die Deutschen verfügen über ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten der Vermeidung von Regeln. Sie sind nicht nur die Weltmeister der Regelgenerierung, sondern auch die Weltmeister der Regelumgehung. Eine kleine Auswahl aus dem bunten Strauß der Ausreden bei der NATO-Regel: die philosophische Ausrede (Was sind schon Zahlen, Qualität geht vor Quantität), die ausweichende Ausrede (Entwicklungshilfe ist besser als Militärausgabe), die „Ausrede“ des Wegduckens (einfach weitermachen, möglichst nicht entdeckt werden) usw. usf. Theoretisch wird das Free-rider-Verhalten genannt.

Das NATO-2-Prozent-Ziel ist zwar eine einfache, aber keine harte Regel. Sie ist nicht als bindende Vorschrift formuliert und nicht sanktionsbewährt, besitzt auch keinen Regeldurchsetzer. Diese Art von Regeln laden förmlich zum Regelbruch ein. Fest steht, dass die Deutschen die Regel nicht mögen, entsprechend verfahren sie. Am Ende fragt sich dann, warum man die Paraphe unter das einschlägige Dokument gesetzt hat.

 

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Eine der wichtigsten Regeln für eine Währungsunion ohne Wirtschafts- bzw. Fiskalunion, also für den europäischen Fall, zielt auf einen mittelfristigen Ausgleich bei den Handelsbilanzen der Teilnehmerstaaten. Da die Möglichkeiten der Wechselkurspolitik in einer Währungsunion nicht mehr zur Verfügung stehen, Abwertungen zum Verlustausgleich der Wettbewerbsposition nicht mehr möglich sind, sind Länder mit dauerhaften Defiziten zu inneren Abwertungen (Lohnsenkungen, Sparpolitik) gezwungen, während Überschussländer ihre Wettbewerbsposition weiter ausbauen.

Grundsätzlich hat das die EU erkannt und 2011 ein Regelwerk („Sixpack“) beschlossen, innerhalb dessen eine Reihe von makroökonomischen Größen in den Mitgliedstaaten erhoben und interpretiert werden. Die mit Abstand bedeutendste Größe betrifft die Leistungsbilanz. Die präzise Regel lautet hier: Die durchschnittlichen Überschüsse über die letzten drei Jahre sollten den Wert von 6 Prozent des BIP nicht überschreiten, ansonsten läge ein übermäßiges Ungleichgewicht vor, das ein Verfahren für den betreffenden Staat nach sich zöge. Das Verfahren, durchgeführt durch die Kommission, abgeschlossen durch den Ministerrat, sieht einen milden ersten Teil vor (Warnung) und einen schärferen zweiten Teil (Korrekturplan bis hin zu Sanktionen, allerdings nur minimal). Im Defizitfall lautet die Grenze 4 Prozent des BIP.

Obwohl es bei dem Regelwerk der gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren um zentrale realwirtschaftliche Größenordnungen für die Währungsunion geht, hat man hier die Form der schwachen Regel gewählt. Zu dem Ungleichgewichtsverfahren gehört ein schwacher, machtloser Regelexekutor, die Kommission, die ein zahnloser Tiger ist und im Fall der Sanktion sitzt der Regelverletzter noch im entscheidenden Gremium, dem Ministerrat, im Fall der Überschussposition ist die Grenze absurd hoch, es gibt keine Sanktionen, keine Automatismen und Zwänge.

Außenbeitragsquote

Der Blick in die Realität zeigt nun Folgendes. Die bis in die Frühzeit zurückgehende Tendenz der merkantilistischen Überschussbildung setzt sich gerade auch mit Beginn der Währungsunion fort. Seit 2006 überschreitet Deutschland regelmäßig die Marke von 6 Prozent des BIP, so dass eigentlich längst ein „übermäßiges Ungleichgewichtsverfahren“ angestanden hätte. Die Kommission, wohlwissend, dass der Exportüberschuss zu den edelsten und unantastbaren Zielen deutscher Wirtschaftspolitik gehört, will sich nicht die Finger verbrennen und sich mit dem europäischen Hegemon anlegen. Also liegt die Regel auf Eis.

Und was macht der Regelbetroffene? Die Rechtfertigungen für den Regelbruch sind wieder vielfältig, mehr oder weniger dumm. Hier nur einige, wir beginnen auf der Skala bei bodenlos dumm: die ganze Wirtschaftswelt besteht nur aus Mikroökonomie, Makroökonomie gibt es gar nicht: die Handelsbilanz und auch Exportüberschuss seien das Ergebnis millionenfacher Einzelentscheidungen, die ja nicht beeinflussbar seien, letztlich sei die Qualität deutscher Produkte einfach zu gut. Fast noch dümmer ist der Hinweis auf das Grundgesetz, das verbiete, dass die Tarifparteien von außen in ihren Lohnverhandlungen beeinflusst werden. Dummdreist hat der damalige Bundesfinanzminister die Kritik pariert: „Staatliche Eingriffe in die Leistungsbilanz kommen nicht in Frage“ (2017). Seit etwa 2014 räumt die Bundesregierung ein Problem ein, spielt aber die Unschuld vom Land, da man auch nicht wisse, was zu tun sei.

Man sieht, auch diese Regel mögen die Deutschen nicht. Man ist zwar international vollständig isoliert, in letzter Konsequenz wird die Regel aber einfach ignoriert. Woher diese Hartleibigkeit? Exportüberschüsse gehören, neudeutsch formuliert, zur wirtschaftspolitischen DNA Deutschlands. Sie sind das Ergebnis des Maßhaltens (bei Lohnabschlüssen, Konsum und Staatsausgaben), was zusammen mit dem Arbeiterfleiß und der Arbeiterproduktivität die Wettbewerbsvorteile auf den internationalen Märkten bringt.

 

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Das dritte Beispiel für das Regelverständnis der Deutschen betrifft die Verletzung des Stabilitätspakts 2004 durch die Schröder-Regierung, zusammen mit der französischen Regierung. Deutschland und Frankreich hatten seit mehreren Jahren das Defizitkriterium des Maastrichter Vertrages verletzt und sahen sich infolgedessen einer Konfrontation mit der Kommission, der Regelhüterin, ausgesetzt. Über längere Zeit kam es zu Auseinandersetzungen mit den beiden Ländern. Schröder argumentierte u.a., dass der Pakt nicht „dumm“ sei, sondern nur „auslegungsfähig“ und „flexibel“ (Sonderfaktoren seien in Rechnung zu stellen). Nebenbei: in dieser Zeit verletzte Deutschland auch die inländische Regel, dass die Kreditaufnahme die Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfe. Die Gralshüter der Stabilität in Deutschland (neoliberale Wissenschaft, Presse) beharrten auf strikter Anwendung des Pakts, inklusive möglicher Sanktionen. 2006 leiteten Kommission und Ministerrat tatsächlich ein „verschärftes Defizitverfahren“ ein, so dass ein Machtkampf zwischen supranationalen Institutionen und nationalen anstand. Da Deutschland und Frankreich aber im Folgejahr, 2007, wieder in die Stabilitätsspur kamen, glätteten sich die Wogen. Der Pakt wurde dann zu dem jetzigen, selbst für Experten kaum mehr überschaubaren Monstrum umgearbeitet.

Ein statisches Regelwerk wie der Stabilitätspakt ist völlig ungeeignet für eine dynamische Wirtschaft, die sich v.a. durch Konjunkturzyklen auszeichnet. Das wurde auch in der damaligen Situation klar, ist hier aber nicht das Thema. Die Auseinandersetzung um den Stabilitätspakt zeigte, dass große Nationalstaaten der supranationalen Kommission in jeder Hinsicht überlegen sind und demzufolge diese Überlegenheit auch ausspielen. Die Kommission hat weder die Macht noch die Kompetenz, die Regel durchzusetzen. Im Stil der damaligen Auseinandersetzung drückte sich diese Überlegenheit auch aus. Die Rollen von Herr und Knecht waren klar verteilt. Die deutsche Seite hat aus wirtschaftspolitischen Gründen auch nicht davor zurückgeschreckt, das Heiligtum des Stabilitätspakts phasenweise außer Kraft zu setzen.

Wenige Jahre später, als die Finanzkrise über Europa wie ein Tsunami rollte, war auch keine Rede mehr vom Stabilitätspakt. Alle Länder der Eurozone, einschließlich Deutschlands, erhöhten ihre Kreditaufnahme erheblich (20 Prozent und mehr). Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte der Stabilitätspakt überarbeitet werden müssen und die Grenzwerte erheblich nach oben gesetzt werden müssen. Das Gegenteil geschah. Der Anführer bei der Bearbeitung der Eurokrise, Deutschland, setzte eine ganz neue informelle Regel auf und die lautete, dass die durch die Finanzkrise bedingte erhöhte Kreditaufnahme ganz schnell zu vergessen sei und ab jetzt wieder und sofort die üblichen Stabilitätskriterien gelten sollten. Daraus resultierten dann die schier irren Übertreibungen in der öffentlichen Diskussion um die Maßlosigkeit der Überschuldung mancher Staaten und die Forderung, dass jetzt durchgegriffen werden müsse. Auch so gehen die Deutschen mit Regeln um.

 

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Die Liste der Regelverletzungen seitens Deutschlands ließe sich noch um etliche weitere Beispiele fortsetzen. Hier nur noch zwei weitere, eines aus der Geschichte, eines aus der Gegenwart. Als 1967 das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verabschiedet wurde, schien der Keynesianismus endlich auch in der damaligen Bundesrepublik angekommen zu sein. Die in dem Gesetz enthaltene Regel, auf das „außenwirtschaftliche Gleichgewicht“ zu achten und die Außenhandelsbilanz notfalls auszugleichen, wurde in der Folgejahrzehnten konsequent ignoriert. Schon damals bildet sich das Motto aus: Deutsche befolgen nur die Regeln, die ihnen passen. Zweites Beispiel: Als in der Gründungsphase der EZB die Regel festgelegt wurde, geldpolitisches Ziel der EZB solle eine Inflationsrate nahe bei 2 Prozent sein, wurde das im stabilitätsbewussten Deutschland allseits begrüßt. Als die EZB auf der Basis dieser Regel seit 2012 ihre Geldpolitik mit den Niedrigzinsen und dem Ankaufprogramm von Staatspapieren neueinstellte, um deflationären Gefahren vorzubeugen, verfielen die findigen Deutschen auf allerlei originelle Ideen. Weil ihnen in dieser Situation wichtiger als alles andere war, dass der Zins angehoben wird (aus verschiedenen Gründen), schlugen einige der Ideologen vor, die Regel doch einfach auf 0 Prozent Inflation herunterzuschrauben, sodass die Interventionen überflüssig wären. Andere wiederum traten den Nachweis an, dass die Inflation ja gar nicht richtig gemessen würde und in Wirklichkeit (unter Einbezug der Vermögenspreise) viel höher liege. Und dergleichen mehr.

Geschichtlich passt die Regelbindung nicht so ganz in den wirtschaftsliberalen Grundton deutscher Politik. Dem reinen Wirtschaftsliberalismus Hayekscher Provenienz bspw. ist die Regelbindung – wie überhaupt der gesamte Ordoliberalismus – ziemlich fremd. Schon eher lässt sich die Regelbindung in die Gestalt des autoritären Staates, wie er weite Teile der deutschen Geschichte prägte, einpassen, was im übrigen mentalitätsgeschichtlich auch ganz bequem in das Kataster der berühmten deutschen Sekundärtugenden passt. Der oftmals behauptete Zusammenhang von Regelbindung und Föderalismus ist auch nicht ohne weiteres evident. Die zweifellos föderalistischen USA z.B. kommen in ihrer Wirtschaftspolitik weitgehend ohne Regeln gegenüber den untergeordneten Bundesstaaten und für das Zentrum aus, hier tun es einige wenige Gebote und Verbote. Über die Idee, sich auf gesamtstaatlicher Ebene eine Regel (Selbstbindung) wie die Schuldenbremse zu geben, wird dortselbst wahrscheinlich nicht einmal gelächelt, für so absurd wird diese Regel gehalten.

Die bis zu einem gewissen Grade zu konstatierende Regelfixierung der Deutschen gilt fast ausschließlich für die Stabilitätskultur. Um die Stabilitätskultur herum zeichnen sich die Deutschen als außerordentlich erfindungsreich aus. Flexibler sind sie bei anderen Regeln. In der Fixierung auf Regeln drückt sich ein tiefes Misstrauen gegenüber Staat, Politik und Demokratie aus. Auch das lässt sich geschichtlich einordnen. Der Regeltyp, den die Deutschen präferieren, ist der Typ der Selbstbindung. Wirtschaftspolitische Handlungsweisen, Ziele und Strategien werden dem politisch-demokratischen Prozess entzogen. Das wiederum fügt sich wie von selbst in die lange Tradition und Kontinuität deutscher Geschichte ein.

– Als Fazit bleibt: Die Redeweise von der deutschen Regelfixierung ist viel zu undifferenziert. Mit Regeln, die den Deutschen nicht passen, gehen sie um wie Freerider, phantasievolle Regelausleger und selbstbewusste Regelverletzer.

Von Meseberg zum EU-Gipfel. Zum Stand der Eurozonenreform

Es sollte der zentrale Gipfel zur Reform der Eurozone werden. Im Dezember 2017 auf den Weg gebracht, sollten im März 2018 erste Ergebnisse vorliegen, was nicht geschah, endlich aber auf dem Gipfel Ende Juni des Jahres war dann die große Eurozonenreform angekündigt. Wenn nicht ganz die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion, so doch die Wege dorthin sollten in trockene Tücher kommen. Macrons europapolitische Anregungen von der Sorbonne-Rede sollten endlich konkrete Gestalt annehmen, und nach langer Suche und langen Wochen und Monaten des Wartens, man könnte auch sagen, des Hinhaltens, hatte die Kanzlerin in einem Interview sogar eine Antwort darauf gefunden, eine zwar höchst bescheidene, aber immerhin. Die zuständigen Arbeitsgruppen der Regierungen hatten sich ausgetauscht und nach Kompromisslinien sondiert. Und als am Ende Merkel und Macron sich in Meseberg ausgetauscht und auf ein Kommuniqué geeinigt hatten, schien einer Einigung auf dem Brüsseler EU-Gipfel am vergangenen Wochenende nichts mehr im Wege zu stehen. Viel „sollte“.

Aber: Europäische Innenpolitik funktioniert nicht nur nach Plan, mittlerweile funktioniert sie wie nationale Innenpolitik und greift aktuelle Zuspitzungen auf, so dass geplante Themen an der Tischkante herabfallen. Der einzige Unterschied zu nationaler Innenpolitik ist noch der, dass sie nicht Tag für Tag, kontinuierlich abgearbeitet werden kann, eine Folge davon, dass sie intergouvernemental und nicht supranational betrieben wird. Jedenfalls wurde die Eurozonenreform sang und klanglos von der Agende genommen und die Flüchtlingsfrage rückte statt ihrer auf die Agenda.

Verschwörungstheoretisch ließe sich mutmaßen, dass die Sache von deutscher Seite aus perfekt terminiert, orchestriert und inszeniert war. Statt der Eurozonenreform stand die Migrationsfrage im Mittelpunkt und für erstere blieben in der separaten Schlusserklärung nur ein paar magere Sätze – und das war gezielte deutsche Politik, da man auf Zeit spielen muss. Der Hintergrund zu dieser verschwörungstheoretischen These lautet: Im nicht mehr ganz neuen Bundestag lässt sich keine Mehrheit mehr für eine fundamentale Eurozonenreform organisieren, da eine solche eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern würde.

Zur Erläuterung: In ihrem neueren Demokratiefuror haben die Deutschen in den vergangenen Jahren das sogenannte Integrationsverantwortungsgesetz (2009), ein bigotter Begriff, verabschiedet. Dieses in der EU einzigartige Gesetz schreibt vor, dass Gesetze, die auf der Flexibilitätsklausel im AEUV (Artikel 352) beruhen, einem Parlamentsvorbehalt mit einer hohen Hürde unterliegen. Das Abstimmungsverhalten Deutschlands im Rat hängt demzufolge davon ab, ob zwei Drittel der Stimmen im Bundestag und zwei Drittel der Stimmen im Bundesrat für einen Vertrag zustande kommen. Der ESM-Vertrag basiert auf dieser politisch-rechtlichen Konstellation. Und ein Eurozonenbudget, auch „im unteren zweistelligen Bereich“, und die Transformation des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) nicht? Unwahrscheinlich. Für die Arbeitsweise des ESM gilt, dass jede Spesenabrechnung und jede Kredittranche für Griechenland durch den Bundestag gehen muss.

Schaut man sich diesen Bundestag an, zeigt sich Folgendes: Selbst eine Schmalspurreform, die „nur“ eine absolute Mehrheit, die Regierungsmehrheit, erforderte, käme nicht mehr zusammen, da mittlerweile von einer faktischen Mehrheit von Bundestagsabgeordneten auszugehen ist, die europaskeptische bis europafeindliche Positionen vertritt. Wie dieser Tage deutlich wurde, hat die die große Mehrheit der CSU den verzweifelten Übergang in den Rechtsradikalismus vollzogen. Für die CDU geht man davon aus, dass über ein Viertel der Fraktion (200 Mandate) zu den Europaskeptikern gehört. Nimmt man alles zusammen – die offen Rechtsradikalen von der AfD, die Nationalliberalen von der FDP, die Nachfolgestahlhelmer in der CDU und die Nationalkommunisten von der Linken –, dann dürfte das Jahr 2018 eine knappe absolute Mehrheit von Europaskeptikern und Europafeinden dem Bundestag beschert haben.

Die einseitige Erklärung des Generalsekretariats des Rates im Namen des Euro-Gipfels – das ist der Rat im Format der Eurogruppe – vom 29. Juni 2018 enthält folgende Punkte:

  1. Das „Bankenpaket“ (u.a. regulatorische Vorschiften für Banken, ausreichend Kapital für Verlustpuffer bereitzuhalten) gilt als verabschiedet, es muss noch durch die zwei gesetzgeberischen europäischen Instanzen gehen. Die Aufforderung, Verhandlungen über ein Europäisches Einlagensicherungssystem (European Deposit Insurance Scheme, EDIS), die dritte Säule der Bankenunion, aufzunehmen. Der Klartext dazu: Deutschland, das ein solches Reglement mit dem Vorwand der vielen faulen Kredite, die in den Kellern italienischer Banken lagern, rundheraus ablehnt, weil ihm die deutschen Sparkassen im Nacken sitzen, hat sich durchgesetzt und lässt das Projekt auf die lange Bank schieben.
  2. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wird die gemeinsame Letztsicherung für den einheitlichen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund, SRF) für in die Insolvenz gehenden Banken, ein Teil der zweiten Säule der Bankenunion, bereitstellen (zum Verständnis: er ersetzt in Deutschland z.B. die Soffin, Volumen: rund 60 Mrd. EUR). Die Details dazu wie auch die Modalitäten der Weiterentwicklung des ESM zu einem EWF sollen bis zum Dezember 2018, dem nächsten Euro-Gipfel ausgearbeitet werden. Klartext: Ein konkreter Reformschritt (SFR) kann verbucht werden, ansonsten: lange Bank.
  3. In der Euro-Gruppe werden alle weiteren Aspekte erörtert. Klartext: Dahinter versteckt sich vielleicht auch das Eurozonenbudget, ansonsten lange Bank.
  4. Auf der Tagung des nächsten Euro-Gipfels wird all das weiter besprochen. Dazu gibt es keinen Klartext, das ist wirklich als eigener Punkt gelistet.

Folgt man der obigen Verschwörungstheorie, dann ist die deutsche Mission – fiktives Flüchtlingsproblem als Ablenkungsmanöver, bedauerliche „lange Bank“ für die Reform der Eurozone als Konsequenz – perfekt gelungen.

Die Folie, vor deren Hintergrund das Ergebnis des Gipfels ausgeleuchtet werden muss, hält Forderungen wie „Erneuerung Europas“ (Macron an der Sorbonne, 2017), „Eurozonenbudget“ („unverhandelbar“, Macron) in mehreren Prozent des BIP, „Eurozonen-Finanzminister“ (Macron), „Weiterentwicklung des ESM zu einem EWF“ (Koalitionsvertrag, 2018), neue Eigenmittel in Form von Steuern (Digitalsteuer, Transaktionssteuer, Anteile an der Körperschaftssteuer) vor. Zur Verdeutlichung: Die ursprüngliche Forderung Macrons von einem Eurozonenbudget von 300 Mrd. EUR ist bei Merkel auf eine Größenordnung von „im unteren zweistelligen Bereich“ geschrumpft. Nimmt man dies als Maßstab, dann sind von Macrons Vorschlägen etwa 10 Prozent übriggeblieben und nicht einmal die können als gesichert gelten.

Aus all diesen Vorschlägen wurde nichts, weil – ja, weil der europäische Hegemon ein klitzekleines innenpolitisches Problem mit der Rechtsradikalisierung einer regionalen Koalitionspartei hat und das Amt der Kanzlerin auf dem Spiel steht. Das herrscht dem Betrachter geradezu zwei Fragen auf: 1.) Sind die auf eine Reform der Eurozone dringenden Staaten, insbesondere Frankreich und Italien, so dumm, dass sie dieses Spielchen einfach so mitmachen? Und bzw. oder: 2.) Was hat die von großer europäischer Solidarität bei dem EU-Gipfel profitierende Kanzlerin den reformwilligen (und abhängigen) Eurostaaten und den rechtsradikalen Visegrád-Staaten inklusive ihrer alten Habsburger Mutter alles zugesagt?

Man weiß nicht, welches die zielführende Frage ist. Die zweite hätte jedenfalls einen gewissen Charme und ließe ein wenig Hoffnung, dass im Wege der „Quersubventionierung“ die Deutschen zu Zugeständnissen in der europäischen Wirtschaftspolitik (z.B. Abkehr von der Austeritätspolitik und Korrektur bei den Handelsüberschüssen) bewegt werden können. Die Zusagen an die reformwilligen Eurostaaten können aber nicht substantiell gewesen sein. Davor steht nicht nur die europaskeptische bis europafeindliche Sperrminorität im Bundestag, sondern auch der Riss, der durch die Eurogruppe geht. Die Niederlande als Anführer der Reformunwilligen Nordstaaten haben bereits deutlich gemacht, was sie von dem Eurozonenbudget halten – nichts.

Die Kanzlerin hat sich in ihrer Europapolitik vollständig verfahren, sie hat die verschiedenen Krisenhefte nicht mehr in der Hand. Deutsche Kanzler sind am Anfang ihrer Amtszeit in ihrem Denken und Handeln noch vorwiegend national gepolt, erst später lernen sie die Gestaltungsmöglichkeiten in der Europapolitik kennen und mutieren dann in einen europäischen Politikmodus. Bei Merkel hatte sich diese Beobachtungserkenntnis auch so vollzogen, nur hat genau in der Übergangsphase von Nationalem zu Europäischem die falschen Berater an ihrer Seite und Fehler über Fehler begangen.

Die Mutter aller heutigen europäischen Krisen, die sich damit als Folgekrisen entpuppen, kam für Merkel also zu früh. Zunächst zur Mutter aller Krisen. Als die Große Finanzkrise im Herbst 2008 nach dem Lehman-Crash Mitte September 2017 mit irrwitziger Geschwindigkeit in Europa landete, ergriffen der damalige französische Staatspräsident und die EU-Kommission die Initiative und versuchten eine gemeinsame europäische Lösung mit Investitionen und Bankenrettungen auf den Weg zu bringen. Deutschland antwortete ebenso kühl wie bodenlos dumm-provinziell. „Ein jeder kehr vor seiner Tür…“, tönte es aus dem CSU-geführten Wirtschaftsministerium. Die Kanzlerin, noch ganz im nationalen Politikmodus der Anfängerjahre, blockte alle europäischen Lösungen im Verein mit der SPD ab und setzte auf die nationale Karte.

War man bei den Krisenbekämpfungsmaßnahmen 2008/09 noch, wenn auch verhalten, keynesianisch inspiriert – nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“ –, erhielt die sich entwickelnde Matrix der Krisenbekämpfung 2010 mit der Griechenlandkrise ihre kongeniale Ergänzung durch den knochenharten Neoliberalismus, bestehend aus Austerität und Lohnsenkung. Beide Elemente, den Nationalismus aus 2008 und der Neoliberalismus aus 2010, zusammengenommen hätten eine so wunderbare Kombination für das Europa der Zukunft ergeben: den Wettbewerb der Nationen innerhalb der Gemeinschaft. So oder so ähnlich waren die Vorstellungen im Kanzleramt und im Finanzministerium für das europäische Leitbild der Zukunft.

Parallel dazu kam in diesen Jahren die Rede vom neuen deutschen Hegemon hinzu, bestärkt insbesondere durch das rüde, keinen Widerspruch duldende und jeden Kompromiss – die europäische Methode schlechthin – verweigernde Auftreten der Deutschen bei der Programmierung der Memoranda of Understanding für die Programmländer, es galt die ebenso fixen wie bornierten neoliberalen Grundideen im Praxistest zu erproben. Als Hegemon gerierte man sich auch im Nationenwettbewerb, indem man sich durch die inländische Spar- und Maßhaltepolitik bei den Löhnen eine Wettbewerbsposition nach der anderen eroberte und damit explodierende Handelsüberschüsse erwirtschaftete.

Auf dem Höhepunkt angelangt war diese Politikmatrix im Sommer 2015. Griechenland hatte man fast in die Steinzeit zurückgewirtschaftet und konnte dem Land locker mit dem Rauswurf aus der Eurozone drohen (Schäuble) – gegen jede vertragliche Grundlage und gegen jeden europäischen Geist. Die kleinen Programmländer hatte man als größter Geldgeber an der Kandare und die großen folgten den Deutschen in ihrem national-neoliberalen Politikmodell wie halb bewusstlose Dackel. Im Sommer 2015 war alles so schön. Im Kanzleramt und im Finanzministerium muss man sich wie die Götter von Europa gefühlt haben.

Und im Herbst 2015 kam alles anders. Zufall? Kaum. Die Geschichte des Jahres 2015 mit dem dramatischen Wechsel innerhalb weniger Wochen ist längst noch nicht auserzählt. Deutschland, die Kanzlerin, die Bundesregierung befanden sich im Sommer 2015 auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht: Berlin entschied die Wirtschaftspolitik für den gesamten Kontinent, mindestens der Eurozone, Berlin entschied über die Mitgliedschaft in der Eurozone und Berlin war die zentrale Adresse für alle europäischen Fragen. Kam dann das Gefühl auf „Alles ist möglich“? Wurde die Substanz der hegemonialen Position überschätzt? Sollte dem wirtschaftspolitischen Zuchtmeister die gnädige Samariterin folgen?

Alle Nachfolgekrisen, die der Mutter aller europäischen Krisen folgten, hatten ihren Ausgangspunkt in den Jahren 2008-2010, in der neoliberal-nationalistischen Matrix bei der Bekämpfung der Finanzkrise und der Eurokrise. Die nationalistische Eruption in fast ganz Europa, im Westen wie im Osten, der Brexit, die Migrationsbewegungen, Pauperisierung und Arbeitslosigkeit in vielen Ländern, das jämmerliche Wachstum in der Eurozone seit 2016, die tiefen Spaltungen in der Eurozone und tiefen Spaltungen in der Europäischen Union – alle diese Nachfolgekrisen sind das Ergebnis der geschilderten Matrix.

Was die Auflösung dieses wabernden Krisenfeldes so schwer macht, ist weniger die eine oder anderen Entscheidung, die getroffen wurde, für sich genommen, es ist vielmehr die Art und Weise, die Methode, wie diese Entscheidungen getroffen wurden. Das, was Deutschland seit 2008 vorexerziert hat, war: 1.) Nationale Alleingänge haben Priorität (Eroberung von Wettbewerbsvorteilen durch Lohnmäßigung und Sparpolitik, Krisenbekämpfung von 2008/09). 2.) Ideologische Positionen werden gegen die anderen Länder (Programmländer, aber auch das gesamte Eurozonen-Gebiet) ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt (Wirtschaftspolitik ab 2010). 3.) Die essenziellste aller Methoden europäischer Politik wurde ausgerechnet auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik außer Kraft gesetzt und knüppelharte Austerität oktroyiert. 4.) Als die Redeweisen vom neuen Hegemon in Europa unmittelbar nach Krisenbeginn einsetzten, war man in Berlin nicht gewarnt, es schrillten nicht die Alarmglocken, sondern man demonstrierte im Gegenteil geradezu hegemoniale Attitüden, gepaart mit Gesten des Erwischtwordenseins und koketter Zurückweisung.

Gemessen an diesen fatalen Fehlern war die Position des Rest-Europas auf dem Gipfel mehr als erstaunlich. Giuseppe Conte drohte, Emanuel Macron war verstimmt, die Kanzlerin triumphierte ob der europäischen Solidarität zur Rettung ihres Amtes.

Neues vom Niedergang der Sozialdemokratie I „Aufbruch für Europa – Zeit zu handeln“ – Das europapolitische Beschlusspapier der SPD-Bundestagsfraktion

Eigentlich wäre für die Bundestagsfraktion der SPD in dem Beschlusspapier zur Europapolitik ja mal Zeit und Platz gewesen – jenseits von Koalitionszwängen – eigene Noten und Nuancen zur Reform der Eurozone zu setzen. Da die SPD seit fast zwei Jahrzehnten mit in der Regierung sitzt – mit der Ausnahme von 2009-2013 –, hätte auch der Gedanke nahegelegen, einmal selbstkritisch über das nachzudenken, was man in Europa seit Beginn der Währungsunion mit gerichtet und angerichtet hat. Was liest man stattdessen? Einen faden Aufguss des Koalitionsvertrages plus ein wenig Beilagen à la Macron (Bankenunion, Finanzminister). Von eigenen gedanklichen Ansätzen oder gar Selbstkritik ist weit und breit nichts zu sehen.

Statt einmal gesamtwirtschaftliche Überlegungen darüber anzustellen, wie in einer Währungsunion ohne Wirtschaftsunion und ohne Tarifunion Kooperations- und Anpassungsregeln entwickelt werden können, fällt den Sozialdemokraten nichts anderes ein, als Absprachen über den Mindestlohn, Fortschritte beim Entsenderecht und einen Ausbau der Europäischen Säule sozialer Rechte zu fordern. Höchst elegant wird um den Kern des Problems, die Lohnpolitik und die innere Nachfrage- und Investitionsschwäche, herumlaviert.

Man hält fest: „Es muss verhindert werden, dass alleine die Lohnpolitiken als Anpassungsinstrument dienen.“ Dann kommt der Hinweis auf „Stärkung der sozialen Dimension“. Es stellen sich Fragen: Was soll außer der Lohnpolitik noch als „Anpassungsinstrument“ dienen? Gemeint sind wohl die schwächeren Staaten. Aber warum müssen sich die „schwachen“ Staaten mit ihren Volkswirtschaften anpassen? Warum kann sich nicht das Führungsland in der Währungsunion, welches das Lohndumping unter sozialdemokratischer Führung erst begonnen hat, anpassen? Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an Keynes.

Höchst elegant umschifft die SPD-Fraktion auch die Überschussproblematik. Wie? Man erwähnt sie einfach nicht. Das klammheimliche Bündnis der Sozialdemokratie mit dem Neoliberalismus in dieser Frage ist unübersehbar. Die Neoliberalen rechtfertigen den Überschuss mit Sprüchen über deutsche Qualität und den Hinweis auf die anonymen, nicht steuerbaren unzähligen Marktentscheidungen, die Sozialdemokraten lassen das Thema ruhen, weil – vermeintlich – die Interessen ihrer Kernwählerschaft berührt sind. Wann fängt die deutsche Sozialdemokratie an, europäisch zu denken?

„Existenzfragen für Europa“ – Die Kanzlerin antwortet Macron. „Immer gegen Auflagen natürlich…“

Sieht man von den Überlegungen zur europäischen Außenpolitik, der Migrationsfrage und der institutionellen Reform der EU ab, dann unterbreitete Merkel im Interview mit der FAS (3. Juni 2018) drei konkrete Vorschläge zur Reform der Währungsunion.

  1. Mit dem EWF (ehedem ESM) soll eine auf wirklicher Macht beruhende Institution geschaffen werden, die ihre intergouvernementale Struktur mit Parlamentsvorbehalt (in manchen Staaten) beibehielte. Die Macht käme insbesondere durch die Auflagenkompetenz zum Ausdruck, die aus eigener Zuständigkeit erwachsen soll, also nicht mehr durch den Rat und die ehedem so bezeichnete Troika. Nebenbei bemerkt: Diese Maßnahme setzte die Tendenz der Entmachtung der Kommission weiter fort. Der frühere Instinkt, einen solchen EWF nicht gut zu finden, hat die Kommission also nicht getäuscht. Der EWF wäre die neue wirtschaftspolitische Superbehörde in der Eurozone. Ihr Chef würde den Job nicht mehr wie bisher quasi nebenbei erledigen, nein, er rückte, bei der jetzigen Konstellation, in eine Reihe ganz nach vorne neben Tusk und Juncker.
  2. Der neue EWF soll, so Merkel im Interview, die Verwaltung der bisherigen langfristigen Kreditlinie des ESM und die Funktion der Letztsicherung für die Bankenunion übernehmen („Common Backstop“). So ist es auch in dem einschlägigen Verordnungsentwurf der Kommission vorgesehen. Darauf hat man sich offensichtlich schon verständigt. Zusätzlich soll er eine neue fünfjährige Kreditlinie erhalten (Merkel: „Immer gegen Auflagen natürlich, in begrenzter Höhe und mit vollständiger Rückzahlung“). Das wäre der „Schlechtwetterfonds“ gegen so genannte asymmetrische Schocks, z.B. eine in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte Krise Irlands nach dem Brexit.
  3. Schließlich soll es noch zur Einrichtung eines Investivhaushalts (Volumen: „im unteren zweistelligen Milliardenbereich“) in oder außerhalb des regulären EU-Haushaltes kommen. Gedacht ist dieser Fonds offensichtlich als Konvergenzhilfe innerhalb der Eurozone. Diesen Vorschlag hatte die Kanzlerin schon auf dem Höhepunkt der Eurokrise unterbreitet, jetzt greift sie ihn auf, es geht um die Belohnung von „Strukturreformen“, man kann sich vorstellen, was damit gemeint ist.

Die Kanzlerin hat in diesem Interview – sieht man einmal von der neuen kurzfristigen Kreditlinie für den EWF ab – nicht mehr und nicht weniger als den Stand des Koalitionsvertrages referiert. Wort für Wort ist das alles dort nachzulesen. Und das Paket kann auch nicht überraschen, da mit der Kreditstrategie alles, was mit Haftungs- und Transferunion auf europäischer Ebene auch nur im Entferntesten in Verbindung gebracht werden könnte, abgewehrt ist. Die Hintergrundinformation, die man dazu wissen muss, lautet: Europarechtlich ist es keineswegs eine abgemachte Sache, dass die Umwandlung des ESM in einen EWF und andere europäische Reformvorhaben mit den üblichen politischen Mehrheiten beschlossen werden können. Wenn für diesen Prozess eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig sein sollte, dann ist die im Bundestag für die GroKo nicht einmal mehr mit den Stimmen der Grünen zu erreichen. Zu den Zeichen der Zeit gehört also: Im Bundestag gibt es mittlerweile eine rechtsnationale, europafeindliche Sperrminorität von Rechtsradikalen, Nationalliberalen, Unionsnationalen und linken Fundamentalisten. Wer sich bei dieser Mischpoke wohlfühlt, dem ist nicht mehr zu helfen.

Angesichts der erbärmlichen Dürftigkeit der Merkelschen Vorschläge könnte man sich – aus spieltheoretischer Perspektive betrachtet – damit beruhigen, dass die Kanzlerin im Interview das Minimum auf dem Verhandlungsteppich ausgebreitet hat und sie in den Verhandlungen selbst mit Frankreich Ende Juni noch eine europapolitische Schaufel drauflegt. Vielleicht erhält der zukünftige EWF-Chef noch einen „Doppelhut“ (Kommissar plus EWF-Chef) und rückt damit in die Nähe des „Europäischen Finanzministers“ und vielleicht wird aus dem unteren ein mittlerer Milliardenbetrag für den Investivhaushalt. Doch kann dies nicht wirklich beruhigend.

Eine tatsächliche Reform der Eurozone müsste an zwei ganz anderen Baustellen ansetzen. Davon ist Merkel eine ganze Meile entfernt und Macron mindestens eine halbe. Die prozesspolitische oder realwirtschaftliche Baustelle hätte die Verständigung auf eine Gesamtwirtschaftspolitik in der Eurozone zum Thema, sie ist aber kein Vorhaben, das morgen angegangen werden könnte. Es steht auch bei dem Juni-Gipfel nicht auf dem Programm. Außerdem ist diese Baustelle noch nicht einmal auf den Zetteln der beteiligten Akteure. Das ist mit der zweiten Baustelle, der ordnungspolitischen, anders und darauf bezieht sich auch das Merkel-Interview.

Das Thema dieser Baustelle lautet: Die Währungsunion müsste in der Weise rekonstruiert werden, dass sie den politischen Grundstrukturen ihrer Trägerschaft wieder gerecht wird. Was ist damit gemeint? Eines der für das Gemeinschaftsprojekt „Währungsunion“ in den neunziger Jahren qualifizierenden Kriterien war der einheitliche konvergente Zins auf den nationalen Kapitalmärkten. Das Kriterium wurde von den jeweiligen Kandidaten erreicht und so konnte die Währungsunion eingeführt werden. Dies durfte einerseits für die Kandidaten selbst wie auch für die Kapitalmärkte andererseits als Signal interpretiert werden, dass auch die Währungsunion auf der Basis eines einheitlichen konvergenten Zinses funktionieren würde. Und so geschah es denn auch im ersten Jahrzehnt der Währungsunion. Dann kam es bekanntlich in den Turbulenzen der Weltfinanzkrise anders, der No-bail-out-Artikel, für den deutschen Neoliberalismus das Herzstück der Währungsunion, musste erst mit brachialer Gewalt, fast könnte man sagen, gegen die Kapitalmärkte, durchgesetzt werden.

Die angesprochene Trägerschaft der Währungsunion besteht aus politisch souveränen Staaten – in dem Maße eben, wie heutzutage überhaupt noch von Staatensouveränität die Rede sein kann. Das mag man beklagen oder für eine Fehlkonstruktion halten, es ist aber die Realität. Sie ist nicht entstanden aus einer neoliberalen Gedankenwelt, um den Staatenwettbewerb zu organisieren, sie war auch keine deutsche Erfindung zur Absicherung des Exportmodells, sie war das historisch zufällige Ergebnis einer bestimmten Mächtekonstellation in einer bestimmten historischen Situation, die es auch weiter zu beachten gilt. Als unabhängige Konstituante geht dieser fiskalisch eigenverantwortliche Staat in die ordnungspolitischen Voraussetzungen der Währungsunion ein. Man könnte dies auch radikalen Föderalismus nennen.

Wenn dieser radikale Föderalismus – inklusive der darin enthaltenen Verdikte gegenüber finanziellen Transfers – akzeptiert ist, dann muss ordnungspolitisch auch dafür gesorgt werden, dass er leben und gelebt werden kann. Das bedeutet prima facie, dass unterschiedliche Wirtschaftspolitiken in den Trägerstaaten zu akzeptieren sind. Und das wiederum bedeutet, dass der Stabilitätspakt, nicht wie gegenwärtig in Deutschland, wie eine heilige Betonskulptur herumgereicht wird, sondern dass auch sein zweiter Namensteil – Wachstumspakt – zu seinem Recht kommt. Mit anderen Worten: Um dem radikalen Föderalismus in der Eurozone Luft zu verschaffen, muss der austeritätsgetriebene Norden hinnehmen, dass im Süden Wachstums- oder Nachfragepolitik betrieben wird.

Eine solche Politik wird mit ein paar Milliarden für diesen oder jenen Fonds nicht gehen, sondern, nach Lage der Dinge, nur über selbstgesteuerte Kreditaufnahme. Und das funktioniert nur, wenn die Teilnehmer in der Eurozone von den Vorteilen eines großen Währungsraumes profitieren können. Das war die Geschäftsgrundlage des ersten Jahrzehnts der Währungsunion und entgegen den postumen neoliberalen Verzerrungen hat diese Ordnung der Währungsunion ganz gut funktioniert. Die Krise in den späteren Programmländern entwickelte sich erst, als man diese Ordnung beschädigte und durchlöcherte und den Kapitalmärkten signalisierte, dass man zukünftig eine Politik der Risikoprämien bevorzugen würde. Die Verantwortlichen für die Krisenbearbeitung in der Eurozone beeilten sich förmlich, in die Ordnung marktmäßige Strukturen einzuziehen. Der Höhepunkt war die mit kaltem Kalkül durchgezogene Teilinsolvenz des griechischen Staates, mit der nicht nur der erste und einzige Staatsbankrott in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – unter der Voraussetzung, man sieht von dem deutschen Staatsbankrott nach dem Zweiten Weltkrieg ab – inszeniert wurde, sondern dem No-bail-out-Artikel aus dem AEUV erst zum Durchbruch verholfen wurde.

Das Problem des konvergenten Zinses in der Währungsunion wurde in der Zwischenzeit von wichtigen politischen Akteuren auch erkannt. Nichts anderes als der konvergente Zins liegt dem 2012 von der EZB angekündigten, aber nicht realisierten OMT-Programm zugrunde und nichts anderes auch dem QE-Programm (Staatsanleihekaufprogramm). Beide Programme, das angekündigte und das praktizierte, vermochten die Zinsen zwar erheblich zu drücken, dennoch verbleibt noch eine Risikoprämie für einzelne Staaten und diese Risikoprämie schwebt als disziplinierende Drohung über den Staaten und ihren Wirtschaftspolitiken.

Um es dogmatisch zu formulieren: Eine Währungsunion auf der Basis eines radikalen Föderalismus kann nur mit dem konvergenten Zins funktionieren. Das ordnungspolitische Modell, das die deutschen Akteure im Verlauf der Eurokrise durchgesetzt haben, die Währungsunion auf der Basis eines Staatenwettbewerbs, ist gescheitert.

Sehr deutlich wird das Scheitern an dem zusätzlich auf die Tagesordnung des Juni-Gipfels gerückten Fall Italien. Während mit den bisherigen Programmländern nach dem kreditbegleitenden Motto „Immer gegen Auflagen natürlich“ – deshalb hießen die Auflagen auch „Memorandum of Understanding“ – umgesprungen werden konnte, hat man es bei Italien mit einem Vetoplayer zu tun, der nicht ohne weiteres mit ein paar Krediten für den Mezzogiorno abgespeist werden kann.

Die Parteinahme für Italien fällt gegenwärtig schwer, ist höchst degoutant, weil das vorgetragene mehr als berechtigte wirtschaftspolitische Interesse von einem mehr als dubiosen, eben degoutanten Bündnis formuliert wird. Scharf zu trennen zwischen Sache und Personen wird ein Thema des anstehenden Gipfels sein. Zu hoffen ist, dass das Geschwätz über Populismus nicht allzu sehr im Vordergrund steht und die Vetoplayer-Position von der italienischen Seite robust vertreten wird. Das wäre allemal zielführender als das lächerliche Geplänkel um Symbole wie einen Finanzminister, ritualisierte Verdammungen der Transfer- und Haftungsunion und Ablenkungsmanöver auf andere Politikfelder, weil die Stärkung Europas dort angeblich viel wichtiger sei.

Aber: selbst wenn es nur zu der im Merkel-Interview hervorscheinenden Miniatur einer Eurozonen-Reform käme – die Welt respektive Europa respektive die Eurozone ginge auch davon nicht unter. Die Europäische Union hält die kläffenden Nationalisten von allerorten aus und wird sie überleben, auch die deutschen neoliberalen Ordensritter. Schreckens- oder Untergangsszenarien müssen nicht an die Wand gemalt werden.

 

 

154 Wirtschaftsprofessoren sind bekümmert: „Nein zur europäischen Haftungsunion – Germany first“. Zur neuerlichen Symbiose von Nationalismus und Neoliberalismus

Dass Nationalismus und Neoliberalismus überaus enge Verwandtschaftsbeziehungen unterhalten, ist keine so neue Erkenntnis. Wenn Geistesströmungen oder Weltanschauungen in den grundsätzlichen Prämissen und Annahmen – dem Vorrang der eigenen Identität –, und dem Menschenbild dicht beieinander liegen, ist es wenig verwunderlich, dass sich die konkreten Ausprägungen des Weltbildes, die konkreten Schlussfolgerungen und die konkreten politischen Ziele in großen Teilen überlappen. Die Abzweigungen und Verästelungen zwischen Nationalismus und Neoliberalismus beginnen erst sehr spät, und sie sind dann auch nicht so, dass man sich von den verschiedenen Ufern aus, an die man geschwemmt wurde, nicht wiedererkennt.

Der Aufruf der 154 Wirtschaftsprofessoren mit fünf Kümmernissen, einer Zuspitzung und einem wirtschaftsliberalen Nachklapp ist an gedanklicher Armut, an Konfusion und nationalistischem Vorurteil kaum zu übertreffen.

In Punkt eins der Kümmernisse wird die im ESM noch nicht aktivierte, aber vorgesehene finanzielle Absicherung des Abwicklungsausschusses für die Bankenunion, die zweite Säule derselben, abgelehnt, weil, so die wenig überraschende Begründung, damit falsche Anreize gesetzt würden. Gemeint ist wohl in der üblichen marktradikalen Manier, dass man die potentielle Bank ohne Rücksicht auf Verluste besser in den Orkus der Insolvenz stürzen lässt.

In Punkt zwei tragen die Professoren vor, bei der Umwandlung des ESM in einen EWF rückten Nichtmitglieder der Eurozone in den EWF ein und könnten eventuell Gläubigerländer überstimmen, so dass der Bundestag sein Kontrollrecht verlöre. Nichts davon hat auch nur irgendetwas mit der Realität zu tun. Wer sich an Fakten halten will, sei auf den Verordnungsentwurf der Kommission verwiesen, in dem die Umwandlung des ESM in einen EWF vorgeschlagen wird (Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Einrichtung des Europäischen Währungsfonds). Weder in der Begründung noch in der Verordnung noch in dem vorgeschlagenen Text zum EWF (weitgehend identisch mit dem ESM-Text) steht auch nur die Spur davon, was sich die Herrschaften hier zusammenphantasiert haben.

Im dritten Punkt werden, kaum überraschend, die Interessen der deutschen Geldkapitalisten, die ihr Erspartes auf die Stadtsparkassen tragen, vertreten. Die dritte Säule der Bankenunion erfährt eine Abfuhr. Nicht dass da Kunden von maroden italienischen und spanischen Banken mit gutem deutschen Sparkassengeld im Insolvenzfall über eine europäische Versicherung bedient werden. Gut, dass deutsche Banken wie die HSH Nordbank und die Deutsche Bank so prima aufgestellt sind und im einen Fall nicht gerettet wurden und im anderen Fall auch in Zukunft nicht gerettet werden müssen.

Im vierten Punkt werden die Herrschaften nebulös. Gesprochen wird von „geplanten europäischen Investitionsfonds“, die zu weiteren Krediten und Transfers an Euro-Länder führen „dürften“. Wo immer der arme beauftragte Assistent abgeschrieben hat, reale Bezüge hat das nicht. Was es gibt, ist das „Programm zur Unterstützung von Strukturreformen“, das erstens nicht geplant ist, sondern bereits läuft (2017-2020), und zweitens außerordentlich bescheidenen Volumens ist (142,8 Mio. €). Ansonsten gibt es noch den „Europäischen Investitionsfonds (EIF)“, der seit 1994 besteht und in der Risikofinanzierung für kleine und mittlere Unternehmen engagiert ist, ebenfalls auf bescheidenem Niveau. Dann wäre da noch der sogenannte Juncker-Fonds, offiziell: „Europäischer Fonds für strategische Investitionen (EFSI)“, den gibt es aber auch schon, und er führt eher das Leben eines Papiertigers. Ansonsten ist nichts weiter konkret geplant oder in der europäischen Bürokratie. Was es tatsächlich gibt sind vage Denkmodelle im Rahmen des nächsten EU-Haushalts flexibel einsetzbare Fonds unterzubringen, also den so genannten EU-Haushalt wenigstens in Teilen zu einem richtigen Haushalt zu machen. – Originell ist auch, dass in diesem Zusammenhang, im gleichen Absatz, die Target-2-Salden genannt werden, bekanntlich ein reines Buchungssystem, auf das die Herrschaften aber gerne Zinsen für Deutschland hätten. Die nationaldemagogische Machart des Aufrufs – alles, was sich an antieuropäisch Aufgeladenem sammeln lässt, irgendwie in einen Zusammenhang zu bringen – springt gerade hier ins Auge. Fast schon könnte man das Kitsch nennen.

Der Abstrusitäten nicht genug. Das Namedropping wird fortgesetzt mit dem „Europäischen Finanzminister mit Fiskalkapazität“, gegen den man natürlich auch etwas hat, es aber vergessen hat zu sagen. Er wird als schädlicher Gesprächspartner der EZB ins Spiel gebracht, was noch nirgends in einschlägigen Papieren erwähnt wurde. Dann wird die Wassersuppe weiter gerührt und – ohne jeden Zusammenhang – werden die Anleihekäufe der EZB beanstandet. Kein Wettbüro in Europa nimmt noch Wetten für den Europäischen Finanzminister an, aber die professoralen Herrschaften haben etwas dagegen.

Das Pamphlet nähert sich seinem Höhepunkt: „Das Haftungsprinzip ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft.“ Soll wahrscheinlich heißen: auch der europäischen Integration. Und die Bundesregierung soll sich darauf „zurückbesinnen“, so als hätte sie es jemals verlassen.

Das Haftungsprinzip ist alles Mögliche. Es ist eine Kategorie aus der Betriebswirtschaftslehre, speziell der Versicherungswirtschaft, es ist eine Kategorie aus der Moralphilosophie, speziell der Erziehungstheorie, und es ist die neue Schlüsselkategorie des deutschen Neoliberalismus, mit der sich kongenial die Brücke zum Nationalismus schlagen lässt. Entgegen anderer Verlautbarungen: Das Haftungsprinzip ist keine Kategorie der Politik und schon gar keine der Europapolitik. Was es aber dann doch ist: Es ist die Übersetzung ins Deutsche von – „America first“. Endlich sind die deutschen Wirtschaftsprofessoren auf der Höhe der Zeit, der Zeit der Orange, angekommen.

Die alten Kümmernisse und Aufrufe der Professoren sind konsequenterweise eingeflossen in eine neonationalistische Partei im Bundestag. Mit dem Aufruf „Der Euro darf nicht in die Haftungsunion führen“ ist eine weitere Symbiose von Nationalismus und Neoliberalismus gelungen, allerdings auf einem erbärmlichen Niveau. Sogar den nahen Verwandten aus dem internationalen Quartier des Neoliberalismus ist dieser stinkige Nationalismus unerträglich geworden.

1968-2018: Ungeheuerliches aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Für all die Vergesslichen, Somnambulen und Dummköpfe, die nicht wissen, was man gegen festgefressene Exportüberschüsse machen kann

Wie sich die Zeiten doch ähneln und auch wieder unterscheiden.

1968, in der Endphase der Bretton-Woods-Ordnung (und so mancher anderer Ordnung), wurde über eine Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar und weiteren Währungen spekuliert, national und international. Im Herbst des Jahres nahm der Druck auf die Bundesrepublik rasch zu. Der Exportüberschuss von zuletzt 15 Milliarden D-Mark jährlich – heute wäre das die Größenordnung von nicht einmal zwei Wochen (2016) – machte die Westdeutschen im Ausland immer unbeliebter. Der sich nach und nach liberalisierende Kapitalverkehr sorgte für reichlich Zustrom an Spekulationsgeldern. Der Bundeskanzler der seinerzeitigen Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, ein Alt-Nazi, trachtete danach, eine Aufwertung mit allen Mitteln zu verhindern, er wolle lieber zurücktreten, als der Kanzler einer aufwertenden D-Mark sein. Wie heute wurden die Exportüberschüsse also mit Zähnen und Klauen verteidigt.

Als für den November des Jahres 1968 eine Währungskonferenz in Bonn anstand, mussten die Bonner Verantwortlichen etwas anbieten. Das ist der Unterschied zu heute: Damals musste man etwas anbieten, die langen Schatten der Geschichte trübten noch das wirtschaftliche Erfolgsmodell der Deutschen, heute reichen dummes Herumgequatsche, Rechtfertigungstiraden und absurde Behauptungen zum Thema „Überschüsse“. Was dachte man sich 1968 aus, gewissermaßen als kleineres Übel statt der Aufwertung?

Auf der Währungskonferenz (20.-22. November 1968) reüssierte man mit einem Kommuniqué, das

  • eine vierprozentige Exportsteuer und
  • eine vierprozentige Steuererleichterung auf Importe

verkündete. Die „Ersatzaufwertung“, so nannte es die Bundesbank damals, war befristet auf den 31. März 1970. Den Druck auf die Aufwertung der D-Mark konnte sie längerfristig jedoch nicht ableiten: Am 24. Oktober 1969, etwa ein Jahr später, verfügte die neue sozialliberale Koalition eine Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar von 8,5 Prozent.

Was vermittelt uns dieser Rückblick in das unruhige Jahr 1968?

Die klandestine Allianz von neoliberaler Wissenschaft, Gewerkschaften und Fast-Allparteien, die sich zum Fürsprecher des deutschen Wirtschaftsmodells der strotzenden Exporte und der ärmlichen Importe macht, muss heute keine Verteidigungsbarrikaden mehr gegen eine Aufwertung hochziehen. Im Euro und der Währungsunion profitiert die deutsche Exportwirtschaft von einer systemisch bedingten, dauerhaften Unterbewertung. Wie sonst auch sollte erklärt werden, dass gerade mit dem Beginn der Währungsunion die Explosion der deutschen Überschüsse eingesetzt hat?

Obwohl die deutschen Überschüsse fünfzig Jahre nach 1968 geradezu in absurde Höhen geschossen sind, gelingt es dem Ausland, auch dem EU- oder Eurozonen-Ausland nicht mehr, wirksamen Druck auf Deutschland aufzubauen. Die Kommission kann im Rahmen ihrer makroprudenziellen Überwachung Jahr für Jahr die deutschen Überschüsse inkriminieren – im Endeffekt verpuffen ihre Hinweise auf eine Stärkung der Binnennachfrage, höhere Investitionsausgaben und vernünftige Tarifabschlüsse.

Falls es ein wirkliches Interesse – sei es in der EU, sei es in der Eurozone – gibt, das deutsche Modell wirksam in eine andere Richtung zu bewegen – nicht nur in Reden (Macron), Beiträgen (Wissenschaft) und Empfehlungen (Kommission, IWF, OECD) –, dann wird den europäischen Partnern nichts anderes übrigbleiben, als die Grundlagen des deutschen Modells, das Modell des Staatenwettbewerbs, als solches rabiat zum Thema zu machen. Dass Integration im Handelsbereich ihren Ausgangspunkt genommen hat, lag daran, dass man sich auf diesem Gebiet verhältnismäßig schnell einigen konnte. Es bedeutete nicht, dass damit auch das Ende der Integration erreicht war und sich der gesamtwirtschaftliche Großraum Europa in einzelne nationale Parzellen auseinanderlegt, die über Lohnkonkurrenz und Sozialdumping in Wettbewerb zueinander stehen.

Vielleicht sollte angelegentlich des Jubiläumsjahres 1968 über all die schönen kulturellen Phänomene hinaus auch einmal an Exportsteuern und Importsubventionen erinnert werden.

Leistungsbilanz

 

Des neuen Finanzministers Gedanken zu dem Begriff „Transferunion“

Der neu schlaue Finanzminister zum Thema Transferunion im FAS-Interview (15.04.2018):

Von einer Transferunion halte ich gar nichts, und ich kenne auch niemanden, der sie vorantreibt. Das ist eine Schimäre. Natürlich zahlt Deutschland im Saldo mehr an die EU, als es zurückbekommt. Das ist auch in Ordnung, weil wir von der Europäischen Union sehr profitieren. Das ist aber keine Transferunion.

Das ist mindestens genau so schlau wie die dumpfnationalistischen Warnungen und Prophezeiungen der marktradikalen Nationalisten, dass bei der Reform der Eurozone nur keine neue Transferunion entstehen dürfe.

Zur Versachlichung folgt diese Übersicht:

Screenshot (6)

Bleibt die Frage, wenn das, was die Grafik abbildet, kein Transfer ist, was ist dann ein Transfer?

Die EU nennt diese Gegenüberstellung von Nettozahlern und Nettoempfängern „buchhalterisch“, weil darin ein nationalistisch-kleinkariertes Verständnis von Mitgliedschaft in der Europäischen Union zum Ausdruck kommt.

Zum Vergleich und zur Relativierung noch eine Zahl: 2015 hat Deutschland gegenüber der Europäischen Union einen Handelsbilanzüberschuss von 72,3 Milliarden Euro erzielt. Wohlgemerkt der Transfer betrug für dieses Jahr nicht ganz 15 Milliarden Euro, also etwa ein Fünftel des Überschusses. Das meint der schlaue Finanzminister mit „zurückbekommen“, was wiederum kein Transfer ist, aber doch ein geldwerter Vorteil für Deutschland. Wie wäre es, wenn Deutschland seine gesamten Überschüsse in die EU recycelt?

 

Hamburg und Krähwinkel. Zur Hinhaltetaktik Deutschlands bei der Eurozonenreform

Krähwinkel ist die Inkarnation deutscher Spießbürgerlichkeit und Borniertheit. Heinrich Heine verfasste das Gedicht „Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen“ zu der fiktiven Kleinstadt 1854, um seiner Enttäuschung über das klägliche Scheitern der 48er Revolution in Deutschland Luft zu verschaffen. In böser Satire persifliert Heine in dem Gedicht die oben genannten Tugenden der Deutschen, die offensichtlich zu einer Revolution und einer Öffnung des Denkens nicht fähig sind. In Hamburg, denkt man, muss das anders sein. Die Stadt steht für Weltoffenheit, Aufgeschlossenheit und Souveränität. Wir werden sehen.

Um eine Revolution geht es in Europa und der Europäischen Union gegenwärtig nicht gerade, wohl aber um eine Neubesinnung und Neuausrichtung nach den seit 2010 sich wiederholenden Krisenprozessen: der Eurokrise und der gescheiterten Austeritätspolitik, dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU (Brexit), dem Rollenwechsel beim bisherigen benevolenten Welthegemon (Trump-Wahl), der Flüchtlingskrise und nicht zuletzt dem Progress der Rechtsnationalen in nahezu allen Ländern der EU. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat dazu im September des vergangenen Jahres in seiner Sorbonne-Rede eine Vielzahl von Vorschlägen unterbreitet und wartet seither auf eine Antwort aus Berlin. Da nur über die Achse Deutschland-Frankreich das europäische Gefährt wieder in Fahrt kommt, dreht sich seit Wochen und Monaten alles um die Frage, wie das Verhalten der deutschen Spitzenpolitiker zu erklären ist. Hier wird die These vertreten, dass es sich um bewusste Hinhaltetaktik handelt, weil man den Status quo nicht verrücken will, jedenfalls in der Eurozone.

Wochenlang nach der Septemberwahl in Deutschland wurde das Argument herumgereicht, angesichts der Regierungsbildung könne man nicht Präjudizien in der Frage der Eurozonenreform schaffen, das könne erst Ergebnis eines Koalitionsvertrages sein. So ist das natürlich Unfug. Nachdem seit dem 24. September klar war, dass die alte die neue Kanzlerin sein würde, hätte bei einem wirklichen Interesse an einer Verständigung mit Macron über die Eurozonenreform eine kleine Arbeitsgruppe mit den entscheidenden Beratern der Kanzlerin eine auf die Sorbonne-Rede bezogene deutsche Konzeption erarbeiten können. Ganz offensichtlich war das nicht der Fall. Weder der Koalitionsvertrag noch der europäische Gipfel im März, bei dem eigentlich das Eurothema auf der Tagesordnung stand, lassen einen Hinweis zu, dass man sich in der deutschen Entscheidungszentrale auch nur irgendeinen Gedanken zum Thema gemacht hat. Die freundliche Erklärung dazu lautet, es handelt sich nur um Krähwinkler Verschlafenheit. Die unfreundliche, wahrscheinlichere Erklärung lautet, dass man sich auf Hinhalten (früher hieß das Aussitzen) verständigt hat, was ja bekanntlich dem Naturell der Kanzlerin entgegenkommt. Wahrscheinlich ist es auch so, dass man darauf setzt, die Zeit möge einiges von Macrons Tableau wegwaschen, so oder so.

Nicht viel besser sieht es bei den Sozialdemokraten aus. Nach allem, was zu hören ist, war es zwar ihr – bzw. das von Martin Schulz – Verdienst, dass das Europakapitel an prominenter Stelle im Koalitionsvertrag steht, bei genauerem Hinsehen fanden sich aber nur zwei harte Fakten in dem schlimmen und nach dem Abgang von Schulz völlig in der Luft hängenden Text: man zücke bei den EU-Haushaltsberatungen die Brieftasche und man schloss sich der Kommission an, die Wochen zuvor, im November 2017, eine Richtlinie in die politische Zirkulation brachte, die einen im EU-Recht verankerten Europäischen Währungsfonds (EWF) vorsah. Das war auch bereits alles mit dem angeblich so europäisch geprägten Koalitionsvertrag. Schon das zeigte, dass die SPD nur einen Schulz hatte, aber keinen Plan, wie mit den Macron-Vorschlägen umzugehen wäre, ganz zu schweigen von einem Europapolitiker auf Augenhöhe mit Macron.

Und ihr neuer Hamburger Finanzminister? Europapolitisch hatte er sich in den ersten Tagen und Wochen als treues Schoßhündchen seines Vorgängers stilisiert. Emphatisches Bekenntnis zur „schwarzen Null“, Absage an den Einlagensicherungsfonds der EU-Bankenunion und die pseudo-nachdenkliche Einschätzung, dass sich nicht alle Vorschläge Macrons umsetzen ließen. Das ist, kurzgefasst, das europapolitische Programm des neuen Finanzministers, und es ist das, was von der europapolitische Euphorie des Martin Schulz übriggeblieben ist.

Das Festhalten an der „schwarzen Null“ bedeutet, umgelegt auf Europa, zunächst die posthume Beweihräucherung der seit 2010 praktizierten deutschen Eurorettungspolitik. Konnten sich die Sozialdemokraten bislang noch diesbezüglich einen schlanken Fuß machen bzw. wie Gabriel enge Bande zu Macron knüpfen, wird jetzt klar, ein sozialdemokratischer Finanzminister in den Jahren 2010 bis 2017 hätte die gleiche Politik betrieben wie der schwäbische Sparmeister, dumme, rücksichtslose, brutale Austeritätspolitik, miteingeschlossen die Kujonierung der einschlägigen Programmländer. Nach dem Scheitern dieser Politik wäre etwas ganz anderes angesagt gewesen, und zwar das deutliche Einräumen dieses Scheiterns und die Vorbereitung diesbezüglicher Reformmaßnahmen für die Eurozone. Macron hat in seiner Sorbonne-Rede mit Blick auf die Jahre nach 2010 von einem „Bürgerkrieg“ gesprochen.

Mit dem Nein zur Vollendung der Bankenunion hat sich der Finanzminister – sich erinnernd, dass er ein guter Vertreter der deutschen Arbeiterklasse sein will – an die Spitze der Sparkassen-und-Raiffeisenkassen-Bewegung gesetzt. Die ist mit ihren Angriffen auf „Draghi, den Italiener, und seine Zinspolitik“ geradezu die Avantgarde des einfachen Mannes, dem seine kärglichen Ersparnisse bei den Volkskassen nicht mehr verzinst werden. Statt den Gartenzwergen des Finanzmarktes hinterherzulaufen, sollte der Finanzminister seine Pathfinder auf die Suche nach Problemen des deutschen Banken- und Finanzwesens schicken, statt immerfort auf die faulen Kredite im mediterranen Bankensystem zu verweisen.

Im deutschen Bankensystem machte bis vor kurzem die HSH-Nordbank, einst ein staatliches Institut der Bundesländer Hamburg und Schleswig-Holstein, Schlagzeilen. (Nur wenige Kommentatoren haben den neuen Finanzminister nach seiner Rolle bei dem Niedergang und der Verscherbelung der Bank befragt.) Mit sage und schreibe 13 Milliarden Euro aus „Steuergeldern“, so die bisherige Schätzung, wurde das Institut gestützt, um dann bei seiner Zerschlagung für 1 Milliarde an Heuschrecken, die ältere Formulierung eines anderen Sozialdemokraten, verhökert zu werden. Die Bank hatte sich bei Schiffskrediten etwas vertan, das soll, wie man hört, noch viel mehr deutschen Banken so gehen. Der HSH-Nordbank-Skandal geht durch die deutsche wirtschaftsliberale Presse mit relativer Milde durch, um so lauter ist das Schreien, wenn Monte dei Paschi mit einer kleineren Summe in den Genuss des Bail-in durch den Staat kommt.

An der Spitze des im Vergleich zu dem Süden angeblich so mustergültigen deutschen Bankensystems thront immer noch die Deutsche Bank. In vielen vergangenen Jahren hat sie durch zahllose Regelbrüche, Tricksereien und Betrügereien von sich Reden gemacht, was sie viel Strafgeld kostete. Unter anderem deshalb, aber auch wegen eines insgesamt schwieriger gewordenen Bankengeschäfts und erheblicher Managementfehler ist die Bank ins Trudeln geraten. Man könnte auch sagen, sie befindet sich auf einer schiefen Ebene, an deren Basis der worst case stehen könnte. Die häufigen Vorstandswechsel vermochten jedenfalls das Gleiten nach unten nicht aufzuhalten. Und was wird der Finanzminister als mutmaßlich orthodoxer Vertreter eines anderen ordoliberalen Grundprinzips, des Haftungsprinzips, tun?

Einer seiner Vorgänger hatte in diesem Fall die systemrelevante Bank verstaatlicht, die Rede ist von der Commerzbank. Mittlerweile handelt es sich bei ihr um eine halbstaatliche Bank, die einfach nicht weiter auf die Beine kommt und bei jeder passenden Gelegenheit als Übernahmekandidat gehandelt wird.

All das wägt der Finanzminister nicht gegen die ominösen faulen Kredite in den Südländern ab, sondern beharrt darauf, dass die Bankenunion einstweilen auf die lange Bank gesetzt wird. Wie man faule Kredite abräumt, weiß er ja von der Sanierung der HSH-Nordbank, schließlich war Hamburg deren größter Eigner.

Den Vogel schoss der neue Finanzminister ab, als es um die wichtigsten Personalien im Finanzministerium ging. Als Staatssekretär mit dem Aufgabenbereich „Bundeshaushalt, Zentralabteilung, Privatisierungen, Beteiligungen und Bundesimmobilien“ installierte er den Parteifreund Werner Glatzer. Der hatte, koalitionsübergreifend, über die Jahre verschiedenen Herren gedient und gilt als „Architekt der schwarzen Null“ und damit indirekt, vielleicht auch direkt, als Erfinder der verheerenden Austeritätspolitik in Europa. Noch besser wurde es aber bei der Besetzung des Fachbereichs „Finanzmarktpolitik sowie Europapolitik“, hier erkor der Finanzminister einen „Aktienspezialisten“ von Goldman Sachs Deutschland, Jörg Kukies. Erste Wiederholung dazu (in mehr fragender Haltung): Der Finanzminister schreibt einem Aktienspezialisten die Kompetenz zu, ein deutsches Konzept für die Reform der Eurozone zu konzipieren. Verrät uns das etwas über seine eigene Kompetenz? Man weiß es nicht. Zweite Wiederholung (in mehr verzweifelnder Haltung): Der Dompteur bittet seinen Premium-Tiger, da er immer so artig folgt, ihm bei der Dressur zu assistieren. Dritte Wiederholung (in mehr literarischer Haltung): Der neue Finanzminister hat den Bock zum Gärtner gemacht.

Der europapolitische Teil des Koalitionsvertrags taugt nach dem Abgang von Martin Schulz bestenfalls noch zum Gegenstand späterer historischer Studien zum Niedergang der deutschen Sozialdemokratie. Für die Jetztzeit geistert er als Gespenst wirr und orientierungslos durch die politische Welt, hilflose Warnungen (Andrea Nahles) in der Großen Koalition sind – angesichts des Finanzministers und seiner Mannschaft – mindestens genauso wirr und orientierungslos.

Die ebenso europafeindlichen wie provinziell-miefigen Rechtsnationalisten in der Unionsfraktion haben das natürlich gerochen. Dieser Tage haben die Krähwinkler unter Hinweis auf die Verletzung der Fraktionsdisziplin angedroht, im Bundestag bei der Abstimmung zur Reform der Währungsunion gegen auch nur die geringste Veränderung des Status quo zu stimmen. Sie werden sich dann in stiller Partnerschaft mit dem anderen rechtsnationalen Giftpilz im Bundestag befinden. Die Burschenschaft aus der Union muss sich sehr stark fühlen: Man ereifert sich sogar, den einzigen klaren europapolitischen Satz im Koalitionsvertrag, die Forderung nach der Gründung eines EWF und dessen Verankerung im EU-Recht in Frage zu stellen. Ein „Argument“ der Krähwinkler lautet, dass das intergouvernementale Abstimmungsprinzip im zukünftigen EWF – sprich der Bundestag hat eine Vetoposition – erhalten bleiben müsse. Einmal abgesehen davon, dass dies im diesbezüglichen Richtlinienentwurf der Kommission wortwörtlich so steht – offensichtlich sind die Krähwinkler zu doof oder zu dumm zum Lesen –, fragt man sich, nach welchem Leitprinzip diese Politiker politisieren – am „Bundestag soll die Welt, pardon Europa genesen“? Unverblümter könnte man den Anspruch auf Hegemonie in Europa nicht formulieren. Oder sollte es so sein, dass die nationalistischen Krämerseelen während ihrer bisherigen Parlamentsarbeit nicht aufgepasst haben, als über die europäische Einigung und Außenpolitik debattiert wurde?

Seit Schulz die Bühne verlassen hat, kommen Europa und die Reform der Eurozone in der deutschen Politik fast nicht mehr vor. Dabei drängt die Zeit – 2019 sind die Wahlen zum EU-Parlament und ein paar Ergebnisse sollten dann doch schon vorliegen. Frankreich hat den deutschen Attentismus, der in Wirklichkeit Sabotage ist, registriert. Fast nebenbei und geschäftsmäßig hat der französische Finanzminister, Bruno Le Maire, in einem Interview mit der Wirtschaftswoche im März auf die Frage, wie Frankreich reagierte, sollte es kein Eurozonenbudget und keinen Finanzminister geben, geantwortet:

„Wir konzentrieren uns nicht auf den Finanzminister und das Budget. Das sind Langfristziele. Wenn Deutschland und Frankreich bis Ende 2018 ihre Steuersysteme angleichen, wenn wir uns auf die Besteuerung der Digitalkonzerne einigen und Fortschritte bei der Bankenunion machen, erkennen die Franzosen, dass es vorangeht. Es wäre sehr gefährlich, wenn wir vor den Wahlen zum EU-Parlament 2019 keine Entscheidungen träfen (Herv.d.Verf.).“

Das wird sogar ein mit europapolitischen Themen bisher noch nicht befasster Aktienanalyst verstehen und seine Schlüsse beim Konzeptionieren der deutschen Reformvorstellungen für den EU-Juni-Gipfel ziehen können. Bleibt die Frage, warum Frankreich so früh das Terrain räumt und sich mit minimalsten Ergebnissen bescheidet. Oder sollte es etwa so sein, dass Europapolitik weiter im Kanzleramt betrieben wird – einiges deutet darauf hin – und der Staatssekretär Kukies sitzt am Katzentisch?

Man sieht: Es steht schlecht um Europa, schlecht um die Reform der Eurozone. Rabenschwarz schlecht. Keine „Neugründung Europas“ und keine „Souveränität für Europa“ (Macron). All die Papiere und Konzepte zur Reform der Eurozone, die in den letzten Jahren verfasst wurden, können in den Schredder. Das Momentum vom September 2017 haben Merkel, der Hamburger und die Kräwinkler elegant in die Leere laufen lassen.

Es waren multiple Spaltungen, die aus der (selbstverschuldeten) Eurokrise hervorgegangen sind. Auf der europäischen Windrose riss zunächst ein tiefer Spalt zwischen Nordeuropa und Südeuropa auf, dessen Ursache war eindeutig zu bestimmen, es war das Diktat der deutschen Austeritätspolitik, das, statt die Krisen zu lindern, zu vertieften Krisen führte. Komplizierter war es mit den Spaltungen zwischen Westeuropa und Osteuropa, weil sich hier mehrere Probleme überlagerten, von der Bearbeitung der Migrationskrise bis hin zum Aufkommen des Nationalismus. Mit dem Brexit hatte sich das erste Land der EU entschieden, die Windrose ganz zu verlassen, auch hier spielte der aufkommende Nationalismus eine entscheidende Rolle. Und schließlich entwickelten sich innerhalb aller vier Teile der Windrose tiefe gesellschaftliche Spaltungen, von dem Aufstieg nationalistischer Parteien über die Auflösung traditioneller Parteien bis hin zu tiefen sozialen Abstiegsprozessen in der Gesellschaft.

So komplex und vielschichtig es auf der Windrose auch aussehen mag, die Spaltungen lassen sich alle auf einen Kern zurückführen, einen Kern, der sich mit und seit dem Jahr 2010 kristallisierte. Dieser Kern besteht aus zwei miteinander zusammenhängenden und sich gegenseitig bedingenden Politikkomplexen, nämlich der Austeritätspolitik und der Hegemonialposition Deutschlands in der EU und der Eurozone. Alle genannten europäischen Spaltungen lassen sich entweder mehr auf das eine oder mehr auf das andere zurückführen. Bei der Nord-Süd-Spaltung versteht sich der Zusammenhang zur gnadenlos oktroyierten Austeritätspolitik von selbst. Auch die Spaltung zwischen Westeuropa und Osteuropa hat einen Zusammenhang zur deutschen Austeritätspolitik. Die Hintergründe für die einsame Entscheidung des Kanzleramts, 2015 die Grenzen für die Migrationsströme zu öffnen, liegen ja längst noch nicht alle auf dem Tisch. Ein Foliant, der dort sicher liegen wird, trägt den Titel „Luftholen, Imagewechsel und Vernebelung“. Der in Osteuropa sprießende Nationalismus, auch der in Großbritannien, hat seinen Ursprung in dem hegemonialen Gehabe der Deutschen bei der Durchsetzung der Austeritätspolitik. Die Osteuropäer werden es sich mit dieser Erfahrung auch zweimal überlegen, der Eurozone beizutreten, obwohl sie vertraglich dazu verpflichtet sind. Und schließlich gibt es auch eine innere Verknüpfung zwischen der Austeritätspolitik und der Migrationskrise. Das Dublin-System – Asylantragsbearbeitung in den Ankunftsländern – ist zusammengebrochen, weil die Flüchtlinge in den neuen europäischen Armenhäusern gestrandet sind.

Was wäre zu tun, um die Spaltungen zu überwinden? Brücken bauen? Aber welche? Macron hat, wie erwähnt, in seiner Sorbonne-Rede von einem „Bürgerkrieg“, der in Europa in den letzten Jahren tobte, gesprochen. Brücken reichen da nicht mehr aus. An erster Stelle müsste die Rückbesinnung auf einen der wenigen Leitsätze der Integrationstheorie stehen. „Integration gelingt nur auf der Basis von Großzügigkeit“ (Gunnar Myrdal). Der wohlhabende Kern Europas, der sogenannte Norden, die Überschussländer, muss Ost- und Südeuropa eine vernünftige wirtschaftliche Perspektive bieten. Das funktioniert nicht mit Austeritätspolitik. Und damit sind wir beim zweiten Punkt. Es müssten sehr deutliche Signale von Deutschland ausgehen, die den Fehlschlag der Austeritätspolitik als Antikrisenpolitik einräumen und die ein neues Politikmodell eröffnen, das sich von der Austerität verabschiedet.

Von diesem Politikwechsel ist Europa mehr als meilenweit entfernt. Die Nationalen im Kanzleramt, der Hamburger mit seiner formidablen Mannschaft und die Krähwinkler werden den Wechsel zu verhindern wissen.

 

 

 

Die GAFA-Steuer und die neoliberalen Beschwerdeführer. Die Pläne der EU-Kommission zur Einführung einer Digitalsteuer

 iphoneaDie rasant sich verbreitende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Entwicklung gänzlich neuer internetbasierter Geschäftsmodelle und die unübersichtliche Umwälzung sozialer Beziehungen haben innerhalb weniger Jahre ökonomische Verhältnisse hervorgebracht, denen das herkömmliche Steuerrecht hoffnungslos hinterherläuft. In beachtlichem Umfang haben die Internetgiganten (GAFA = Google, Apple, Facebook, Amazon) Wirtschaftsmodelle und Geschäftstätigkeiten kreiert, die sich entweder ganz oder in großen Teilen der staatlichen Besteuerung entziehen, obwohl gerade diese Unternehmen in erheblichem Maße von der ökonomischen, sozialen und technischen Infrastruktur (Einkommen, Bildung, Netze), die die Staaten zur Verfügung stellen, nicht nur partizipieren, sondern sich erst auf dieser Grundlage entwickeln und gedeihen konnten.

Die alte steuerliche Welt – vor Globalisierung und Digitalisierung – funktionierte so: Ein Unternehmen produziert in einem Land Güter, die Gewinne, die aus den Verkaufserträgen fließen, werden mit einer Unternehmenssteuer, der Körperschaftssteuer, belegt, beim Übergang in die Endkonsumtion fällt für den Kunden bzw. Verbraucher die Umsatzsteuer an. So einfach war die Welt früher. Beim Verkauf ins Ausland wurde die Sache komplizierter, aber dafür hat man Lösungen gefunden. Bei der Herstellung des europäischen Binnenmarktes wurde es dann mitunter strittig, die Frage war, ob nach dem Ursprungsland- oder dem Bestimmungslandprinzip verfahren werden sollte. Die Kommission trachtete danach, einen Binnenmarkt, einen „inländischen“ Markt herzustellen, also setzte sie sich für das Ursprungslandprinzip ein.

Ganz kompliziert wurde es im internationalen Steuerrecht mit der Entstehung und Ausbreitung des Internets, das für Unternehmen Standorte oder Betriebsstätten im herkömmlichen Sinne überflüssig machte, und damit emporkommender neuer kommerzieller Modelle, die in Dreiecksmustern Anbieter und Nutzer auf bislang unbekannte Art zusammenbrachten oder auf der Basis von Big Data Nutzerinformation für Werbezwecke verkauften. Das allerletzte Glied in der Internet-Kette, der Nutzer von Diensten, ließ sich mit geschickten Geschäftsideen einer Verwertung zuführen.

 

Die Faktenlage zum Thema Besteuerung von Internetdiensten bzw. -unternehmen sieht so aus:

  • Die neuen digitalen Unternehmen zahlen weniger als die Hälfte der Steuern von traditionellen Unternehmen. Eine von der Kommission zitierte Studie kommt auf einen effektiven Steuersatz von 23,2 Prozent bei traditionellen Unternehmen und von 9,5 Prozent bei digitalen Unternehmen. Wenn denn die digitalen Unternehmen überhaupt Steuern zahlen. Aus dieser Konstellation ergeben sich gravierende Wettbewerbsvorteile gegenüber traditionellen Unternehmen.
  • Die großen Internet-Konzerne haben i.d.R. keinen Sitz in der EU – schon gar keine Produktionsstätte, da nichts im herkömmlichen Sinn produziert wird –, also keine Gebäude, Büros, Mitarbeiter usw., erzielen mit ihrer geschäftlichen Tätigkeit in Europa aber Gewinne. Genau hier liegt die Lücke des alten Steuerrechts: die Körperschaftssteuer ist gebunden an einen Unternehmenssitz.
  • Zwei neue digitale Geschäftsmodelle entziehen sich der Besteuerung sehr weitgehend bis ganz: 1.) Unternehmen wie z.B. Facebook und Google, die Giganten des internationalen Werbemarktes, die Nutzerdaten en masse sammeln und Erträge dadurch erzielen, dass sie diese Daten für Werbezwecke verkaufen. 2.) Unternehmen wie z.B. Airbnb oder booking.com, die als Intermediäre fungieren und Nutzergruppen im Netz zusammenbringen und dadurch Erträge erzielen, dass eine der Nutzergruppe Gebühren o.ä. zahlt.
  • Im europäischen Binnenmarkt droht in Hinblick auf die Digitalsteuer eine Fragmentierung, da es Mitgliedstaaten gibt, die eine Digitalsteuer bereits eingeführt haben (Italien), Staaten, die kurz davorstehen oder sich stark für eine Digitalsteuer einsetzen (Frankreich, Deutschland usw.) und solchen, die eine Digitalsteuer ablehnen (die üblichen Steuerparadiese: Irland, Luxemburg).

Die Kommission hatte im Herbst 2017 auf Druck einiger Mitgliedstaaten eine Initiative für die Einführung einer Digitalsteuer („Google-Tax“) angekündet und dieser Tage zwei Richtlinienentwürfe vorgelegt, mit denen die Problematik angegangen werden soll. Der eine Richtlinienentwurf befasst sich mit einer langfristigen Lösung und versucht sich an der Überarbeitung des Betriebsstättenkonzepts durch die Einführung einer „digitalen Betriebsstätte“. Die zweite Richtlinie, jene, die für Aufregung in der neoliberalen Öffentlichkeit gesorgt hat, ist als kurzfristige Zwischenlösung gedacht und versucht eine Besteuerung neuartiger digitaler Geschäftstätigkeiten in der EU herbeizuführen, solange es noch keine internationale Lösung gibt. Hier soll es nur um diesen zweiten Entwurf gehen („Richtlinie des Rates zum gemeinsamen System einer Digitalsteuer auf Erträgen aus der Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen“, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=COM:2018:148:FIN).

Die Richtlinie ist ausdrücklich als Zwischen- oder Übergangslösung gedacht, bis man sich im Rahmen der OECD – geplant ist das Jahr 2020 – international geeinigt hat. Die neuen unkonventionellen internetbasierten Geschäftsmodelle folgen nicht mehr der herkömmlichen analogen Kausalität von Betriebsstätte (Wertschöpfung, Produktionsort, Unternehmenssitz) und anschließendem nationalen oder internationalem Verkauf, so dass der Gewinn am Unternehmenssitz und der Umsatz beim Kundenkontakt besteuert werden kann, sondern folgen gänzlich neuen Gegebenheiten.

Zu diesen neuen Gegebenheiten gehören: Unternehmen virtualisieren sich und sind nicht mehr an physische Präsenzen gebunden. „Produkte“ virtualisieren sich gleichfalls, beschleunigen sich gewaltig und werden in Gestalt von Big Data zu ganz neuen Produkten generiert. Und schließlich gerät die gesamte Ökonomie von Kosten und Nutzen, Tauschwert und Gebrauchswert, Anbieter und Nachfrager usw. durcheinander, so dass auf dieser Basis eben die vollständig neuartigen Geschäftsmodelle entstehen.

In der Begründung für die Besteuerung digitaler Unternehmen geht die Kommission davon aus, dass eine Wertschöpfung durch die Nutzer digitaler Dienste – jenseits monetärer Bewertungen – erfolgt.

„Die Digitalsteuer ist eine Steuer mit einem zielgerichteten Geltungsbereich, die auf Erträge aus der Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen erhoben wird, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Wertschöpfung durch die Nutzer erfolgt (Herv.d.V.). Bei den Dienstleistungen, die in den Geltungsbereich der Digitalsteuer fallen, stellt die Beteiligung eines Nutzers an einer digitalen Aktivität einen wesentlichen Input für das Unternehmen dar, das diese Aktivität ausführt, und das Unternehmen kann daraus Erträge erwirtschaften.“

Im Richtlinienentwurf benennt die Kommission in „Artikel 3. Steuerbare Erträge“ drei durch einen Rechtsträger, d.h. ein Unternehmen, angebotene Dienstleistungen, mit denen Erträge erwirtschaftet werden, die zu einer Besteuerung führen sollen:

  1. Erträge aus dem Verkauf von Online-Werbeflächen,
  2. Erträge aus der Vermittlung von Nutzern (interaktive Portale), von denen einer ein Entgelt entrichtet,
  3. Erträge, die aus dem Verkauf von Nutzerdaten erzielt werden.

Nicht betroffen wären Streaming-Dienste und reine Verkaufsplattformen. Steuerpflichtig sollen Unternehmen sein, die a) weltweit mehr als 750 Millionen EUR in einem Geschäftsjahr erzielen und die b) innerhalb der Union mehr als 50 Millionen EUR erzielen. Schätzungen zufolge geht es um etwas mehr als 100 Unternehmen.

Die Digitalsteuer soll 3 Prozent betragen (Artikel 8). Die Steuer erhält der Staat, in dem der jeweilige Nutzer, der den Beginn der Wertschöpfungskette darstellt, seinen Sitz hat. Der Ansatzpunkt sind die Bruttoerträge des Unternehmens minus Mehrwertsteuer u.ä. Es wird geschätzt, dass es um Einnahmen von rund 5 Milliarden EUR geht, also eine eher überschaubare Größe.

Kaum dass der Richtlinienentwurf der Kommission am 21. März 2018 publiziert war, setzte auch das neoliberale Lamento ein. In Kommentaren und Artikeln geriert man sich als Schutzpatron der Internetkonzerne, als Anhänger der Steuersystematik und als Internationalist, der sich für das internationale Steuersystem stark macht. Und über allem schwebt die fundamentale Aversion gegen Steuern überhaupt, insbesondere Unternehmenssteuern, und gegen die Europäische Union, insbesondere wenn sie als EU-Kommission auftritt.

Der Kommission unterstellt man, dass sie mit der angestrebten Digitalsteuer eine Art „Rachesteuer“ gegen die in den USA weitgehend steuerbefreiten Internetunternehmen plane. Das ist die übliche neoliberale Europafeindlichkeit. Dass die Kommission gegen die Fragmentierung des Binnenmarktes vorgehen muss, wird umgedreht, und es wird ihr untergeschoben, dass sie selbst sich neue Einnahmequellen erschließen möchte.

Die Verliebtheit in das alte analoge Besteuerungsprinzip – beim produzierenden Unternehmen werden Körperschaftssteuern erhoben, beim kaufenden Kunden die Umsatzsteuer – ist so ausgeprägt, man weint ihr etliche Tränen hinterher und will das Kommissionskonzept der „Nutzerwertschöpfung“ partout nicht akzeptieren. Die Verliebtheit in das alte System geht sogar so weit, dass man die „Kostenlos-Kultur“ im Internet anfeindet, sie abgeschafft sehen möchte, um dann wieder „normale“ Umsatzsteuern auf die digitalen Dienstleistungen zu erheben. Man will den Geist, der aus der Flasche entfleucht ist, koste es, was es wolle, in die Flasche zurück zwängen.

Auch die Passion für das internationale Steuersystem ist beeindruckend. Die USA haben die Internetgiganten doch nicht von der Steuer freigestellt, um sie Jahre später in OECD-Verhandlungen fremden Steuerordnungen zu unterwerfen, ganz abgesehen von der jüngsten Steuerreform, mit der man die Abtrünnigen zurücklocken will. Wie nur kann man auf die Idee kommen, dass der auf Krawall gebürstete US-Präsident im OECD-Rahmen einer alle Seiten zufriedenstellenden neuen internationalen Steuersystematik 2020 zustimmen wird?

Ganz besonders delikat ist der Hinweis, dass das exportorientierte Deutschland es keinesfalls durchgehen lassen könne, wenn, wie im Kommissionsvorschlag vorgesehen, das Besteuerungsrecht in das Land des Kunden verschoben wird. „Damit droht ein Paradigmenwechsel, der die gegenwärtige Balance der Steuerkompetenzen zugunsten der importierenden Staaten aufhebt“ (Wolfgang Schön, „Der digitale Steuerirrweg“, FAZ, 06. April 2018). Man wird gewahr: Im Welthandelssystem rumort es viel kräftiger und noch an ganz anderen Orten (z.B. bei dauerhaft-erratischen Handelsbilanzüberschüssen), als es die bisherigen protektionistischen Geplänkel zwischen den USA und China ankündigen.

Die Digitalsteuer wird in absehbarer nicht kommen, es wird ihr so ergehen wie der Finanztransaktionssteuer, die irgendwo im europäischen Kanalsystem stecken geblieben ist. Steuerfragen sind Veto-Fragen, sie müssten einstimmig beschlossen werden. Ob eine Lösung wie bei der Finanztransaktionsteuer („verstärkte Zusammenarbeit“) möglich ist, erscheint fraglich. Die bekannten europäischen Steuerparadiese stehen im Wege. Ganz besonders ärgerlich ist das im Falle Irlands. Schon ein Skandal war, dass man Irland im Rahmen des Hilfsprogramms der Eurozone nicht dazu gezwungen hat, steuerpolitisch mehr europäische Kooperationsbereitchaft zu zeigen. Ein fast noch größerer Skandal ist, dass sich Irland nach wie vor weigert, die Steuernachzahlung von Apple in Höhe von 13 Milliarden EUR einzutreiben und weiter auf Obstruktion setzt. Und das in einer Situation, in der das Land im Zusammenhang mit den Brexit-Verhandlungen und noch mehr bei Lösungen oder Nicht-Lösungen in allerhöchster Gefahr steht.