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„Den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds (EWF) weiterentwickeln, der im Unionsrecht verankert sein sollte.“ Diese Ankündigung findet sich im Koalitionsvertrag von Union und SPD aus dem Jahr 2017. Von beidem – Weiterentwicklung des ESM zu einem EWF und Verankerung des ESM/EWF im Unionsrecht – ist nicht mehr die Rede. Martin Schulz wird sich das Seine dabei denken. Dass man sich heimlich von der Schnapsidee verabschiedet hat, den Mechanismus Währungsfonds zu nennen, soll noch angehen. Währungsfonds sind schließlich nur für die Regulation internationaler Währungsbeziehungen zuständig, und so ganz international ist die europäische Währungsunion ja nicht mehr. Die Sache mit dem Unionsrecht ist schon gravierender: Würde der ESM/EWF im Unionsrecht verankert, wäre ein Teil der Spaltungen, die Deutschland in der so genannten Eurokrise bewirkt hat, zurückgenommen. Die Nationalen und Liberalen in Berlin haben gegen die Übernahme in Unionsrecht – die Kommission machte dazu 2017 einen rechtlichen Vorschlag – mächtig gewettert – und offensichtlich erfolgreich. Wie heißt es so schön in dem Papier einer nationalliberalen Denkfabrik: Hauptsache ist, dass im ESM nichts gegen Deutschland entschieden werden kann. Und das wäre bei einer Übernahme in Unionsrecht nicht mehr ohne Weiteres gewährleistet. Wie der reformierte ESM heißen wird, ist eigentlich gleichgültig. Sollte aber Ehrlichkeit ein Kriterium für die Namensgebung sein, müsste man ihn besser „Staatenrettungsfonds“ nennen oder – noch naheliegender – „Bail-Out-Fonds“, sozusagen als Kontrast zum existierenden No-Bail-Out-Artikel im bestehenden AEUV. So kompliziert liegen die europäischen Dinge.
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Die Reform des ESM, die eigentlich auf dem Dezembergipfel des Europäischen Rats 2019 verabschiedet werden sollte, ist blockiert, weil Italien (und andere) sich weigert/n. Warum? Es geht darum, dass man sich im Ministerrat auf eine Art staatliches Insolvenzrecht im Rahmen des reformierten ESM vorläufig geeinigt hat. Die Italiener wurden von ihren Nationalisten der Lega zum Widerstand getrieben, weil mit der Reform der Staatsbankrott erleichtert würde und dadurch italienische Staatsanleihen sich verteuerten und die Souveränität erheblich eingeschränkt wäre. – Der Reihe nach.
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Das Insolvenzrecht für Staaten steht auf der wirtschaftspolitischen Liste der Marktradikalen ganz ganz oben. Der verhasste Wirtschaftsstaat – im Gegensatz zu dem geschätzten Gewaltstaat – könnte weiter in seinen Möglichkeiten reduziert und beschnitten werden und – endlich – zum Marktteilnehmer schrumpfen. Oder – noch besser – Nicht-Teilnehmer, wenn er überhaupt keine Kredite mehr aufnimmt, was ja bekanntlich eine der Visionen im mittlerweile sozialdemokratisch geführten Bundesfinanzministerium ist. Obwohl es im Nachkriegseuropa vor der europäischen Ordnungskrise nur bei zwei Ausnahmestaaten eine Insolvenz gab, dem Deutschen Reich nach 1945 und Russland 1997, wird bei den Marktradikalen – frei flottierend – eine lebhafte Diskussion um die staatliche Insolvenz geführt. Deutschland – wiederum – gebührt das Verdienst, die Diskussion befeuert zu haben, indem man das Thema aus der Dritten Welt ins zivilisierte Europa holte und 2012 an Griechenland ein Exempel statuierte. Seither hat sich im marktradikalen Lager die Diskussion mit beachtlichem Tempo weitergedreht. – Aber: Das Insolvenzrecht für Staaten erfreut sich großer Beliebtheit auch auf der Linken, die sich bei der durchgeführten Insolvenz daran erbauen kann, dass die Reichen, die Banken und die imperialistischen Staaten bei einer Staatsinsolvenz endlich einmal bluten müssten. Insbesondere in der entwicklungspolitischen Debatte kann man das nachlesen., aber auch im Falle Griechenlands waren solche Stimmen zu hören.
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Was ist das eigentlich: das Insolvenzrecht für Staaten? Einmal abgesehen von der Frage, ob es einen Staatsbankrott überhaupt geben kann und einmal abgesehen davon, dass ein starker und vernünftiger Staat für sich Insolvenzunfähigkeit reklamieren wird, dann werden in einem solchen staatlichen Insolvenzverfahren, das es jetzt noch nicht gibt, weder international noch europäisch, u.a. folgende Fragen geklärt: Wer soll Herr des Verfahrens sein, der Schuldner, also der Staat, oder die Gläubiger? Wer soll es einleiten? Anhand welcher Kriterien wird das Verfahren eingeleitet, etwa bei Überschreiten einer gewissen Schuldenhöhe? Soll es eine neutrale Stelle bzw. ein Schiedsgericht geben? In welchen Dimensionen wird die Restrukturierung vorgenommen, Streckung der Tilgung, Teilverzicht auf die Nominalforderungen, Aussetzung der Zinszahlungen etc.? Wo soll die Gläubigermehrheit quantitativ liegen? Soll es Gläubiger geben, die außerhalb des Verfahrens bleiben und als bevorrechtigt gelten? Und noch vieles andere mehr kann juristisch kodifiziert werden.
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Die deutschen Marktradikalen haben schon lange für ein staatliches Insolvenzrecht in Europa getrommelt. Jetzt haben die Beamten des smarten Herrn Scholz einen Weg gefunden, wie es in das europäische Rechtsgebäude hineingeschmuggelt werden kann. Das Fatale ist, dass sich offensichtlich eine Mehrheit der Staaten in der Eurozone diesen Blödsinn hat aufdrängen lassen. Der Trick geht so: Der ESM soll reformiert werden. Bislang war der Mechanismus als solcher noch relativ frei von Marktradikalismus und hätte auch für sinnvolle Wirtschaftspolitik eingesetzt werden können. Jetzt soll in den Vertrag geschrieben werden, dass Schuldentragfähigkeit („debt sustainability“) gewährleistet sein muss, bevor ein ESM-Hilfsprogramm gewährt werden kann. Und wenn eben keine Schuldentragfähigkeit vorliegt, dann muss es zur Restrukturierung kommen, solange bis Schuldentragfähigkeit vorliegt. Davon bekommen die Marktteilnehmer an den Finanzmärkten natürlich Wind und preisen in ihre Zinsforderungen eine weitere Risikoschicht mit ein. So die Befürchtungen. Und die sind nicht ganz von der Hand zu weisen.
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Die Schuldentragfähigkeit ist ein weiteres Konzept aus der marktradikalen Giftküche. Pseudowissenschaftliche, um nicht zusagen beliebige Größen werden miteinander ins Verhältnis gesetzt, die Glaskugel wird befragt und schon hat man eine Antwort auf die Frage: Kann dieser Staat seine Zins- und Tilgungszahlungen in der Zukunft noch gewährleisten. Wer befindet über die Schuldentragfähigkeit? So richtig klar ist das in dem Entwurf nicht geregelt, aber es läuft darauf hinaus, dass letztlich der ESM-Gouverneursrat, also die Finanzminister der Eurozone, und die EU-Kommission darüber entscheiden sollen, jedenfalls nicht mehr der betroffene Staat, was einen erheblichen Souveränitätsverlust darstellte.
7.
Die Reform des ESM, so die offensichtliche Intention, soll eine Staatsinsolvenz erleichtern, ganz nach dem Geschmack der marktradikalen Gemeinde. Wie soll das funktionieren? Seit 1. Januar 2013 enthalten alle europäische Schuldverschreibungen so genannte „double-limb CACs“ (CAC = Collective Action Clause), die eine doppelte Mehrheit für die Restrukturierung erfordern, einmal einer Mehrheit bei der betreffenden Bondserie und zum anderen eine Mehrheit für alle Serien. Das erschwert die Restrukturierung. Deshalb ist vorgesehen, dass ab 1. Januar 2022 nur noch „single-limb CACs“, die für den Durchschnitt aller Emissionen stehen, für die Bonds gelten, was das Erreichen der Mehrheit bei den Gläubigern und damit für den Staatsbankrott erleichtern würde. Aufgebaut werden soll damit eine Drohkulisse für die Kapitalmärkte, ein Wink mit dem Zaunpfahl, damit diese „endlich“ die richtigen Risikoprämien für die begebenen Anleihen fordern. – Nebenbei: Eine empirische Untersuchung von Eichengreen und Mody (2004) kommt zu dem Ergebnis, dass CACs bei schwachen Ländern eine Zinserhöhung, bei starken Ländern eine Zinsminderung bewirkt.
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Ursprünglich kommt die Diskussion um eine Kodifizierung von staatlichen Insolvenzen aus dem Bereich der Entwicklungsdiskussion, da Schwellen- und Entwicklungsländer häufiger von Restrukturierungen betroffen waren, meist aufgrund der Tatsache, dass sie der „Ursünde“ der Verschuldung in Fremdwährung verfallen waren. Entwickelte Industriestaaten lehnten solche Regelungen für sich ab, die USA bis heute. In Deutschland galt lange Zeit, dass der Staat bzw. seine Gliederungen vom Insolvenzrecht ausgenommen waren. Ein staatliches Insolvenzrecht, internationalisiert auf IWF-Ebene, verhindern die USA hartnäckig weiter. CACs stellen kein vollständiges staatliches Insolvenzverfahren dar, es handelt sich um eine softe Vorform im außergesetzlichen Raum. Mit ein wenig Phantasie kann man sich vorstellen, was die nächsten Schritte in dieser marktradikalen EU-Politik sein werden, wenn sich die Deutschen weiter so ohne jeden Widerstand durchsetzen können: die Einführung und Ausgestaltung eines kompletten Insolvenzverfahrens, das sich mit einer qualifizierten Mehrheit im Rat durchsetzen ließe u.ä.m.
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Ein Blick in die jüngere Geschichte: Die deutschen ordnungspolitischen Fanatiker saßen – wieder einmal – früh in den Startlöchern. Sie sorgten dafür, dass schon in der Frühphase der Griechenlandkrise der Staatsbankrott an die Wand gemalt wurde. Bei dem Krisenmanagement solle es auf „eine faire und substanzielle Beteiligung des Finanzsektors an den Krisenkosten“ ankommen, so in der Erklärung des Europäischen Rates der Eurozone vom 7. Mai 2010. Der berüchtigte Spaziergang von Deauville (Merkel und Sarkozy) im Oktober des Jahres machte dann Nägel mit Köpfen: ein Insolvenzrecht für Staaten sollte in die europäische Gesetzgebung einfließen. Wieder einmal ließ sich ein Franzose über den Tisch ziehen. Und als man sich auf deutschen Druck hin daran machte, den Staatsbankrott konkret zu üben, indem man Griechenland in den Friseursalon für den „haircut“ beorderte, war es ein anderer Franzose, der damalige EZB-Chef Trichet, der das für eine katastrophale Entscheidung hielt. Er sollte Recht behalten. Es dauerte nur wenige Tage, bis auf Deauville die Finanzmärkte dafür sorgten, dass Irland sturmreif geschossen war und unter den Rettungsschirm schlüpfen musste, später dann Portugal. In der Folge, als man ein wenig erschrocken war, beeilte man sich zu betonen, der griechische Haircut sei ein einmaliger Fall gewesen.
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In der rechtsökonomischen Fachliteratur wird das staatliche Insolvenzrecht wertneutral als Versuch abgehandelt, etwas Ordnung in die Beziehungen von Gläubigern und Schuldnern bei Zahlungsproblemen oder -ausfällen zu bringen, auch um Rationalität für beide Seiten zu schaffen, keineswegs nur zu Lasten des Schuldners. Das mag für Entwicklungs- und Schwellenländer vielleicht so sein, die europäische Debatte um das staatliche Insolvenzrecht hat aber einen ganz anderen Kontext und Hintergrund. Hier ist die Staateninsolvenz ein weiteres kleines Rädchen für die ebenso kunstvolle wie fragile Maschine in der Währungsunion, die die Neigung zur staatlichen Kreditaufnahme bremsen soll. Diese Maschine bestand im ersten Jahrzehnt der Währungsunion im Wesentlichen nur aus einem Rädchen, dem so genannten No-Bail-Out-Artikel im AEUV. Dieses Rädchen hat die Kapitalmärkte aber wenig beeindruckt, weshalb man dann auch für alle Bonds den gleichen Zins nahm, man praktizierte also Eurobonds. In der Zwischenzeit sorgten die Deutschen für allerlei mehr Rädchen, um die Maschine angsteinflößender für die Kapitalmärkte zu machen: Memoranda of Understanding für Programmländer einschließlich deren Kujonierung durch Troikas und Institutionen, konstitutionelle Schuldenbremsen, Verschärfungen des Stabilitätspakts, Schuldenschnitt für Griechenland, aufgeschreckte Ratingagenturen, re-nationalisierte Gesellschaften etc. Mit dem reformierten ESM und der eingebauten Staatsinsolvenz soll dann noch ein weiteres Rädchen für die Schuldenunterdrückungsmaschine hinzukommen.
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Schwache Staaten beschäftigen sich mit Insolvenzordnungen und lassen sich einschlägige Klauseln in ihre Bonds hineinschreiben. Starke Staaten denken nicht einmal daran, solchem marktradikalen Trash nachzugeben. Die EU ist kein Staat, also irgendwie dann doch schwächlich. Insofern passt die Diskussion um die Staateninsolvenz im ESM dann doch zur EU – könnte man sagen. Aber: All dieser marktradikale Trash, inklusive der praktischen Umsetzung bei dem griechischen Haircut wurde von ordnungspolitischen Gartenzwergen aus Deutschland in die Währungsunion eingeführt. Das ist die eine Hälfte des Mondes. Die andere Hälfte des Mondes wird beherrscht von dem Thema, wie der Euro angesichts von Handelskriegen, Boykotteskalationen und erratischen geoökonomischen Blockbildungen Weltgeltung erhalten soll. Die einfache Antwort: Das geht nur, wenn die ordnungspolitischen Gartenzwerge aus Deutschland in die Scheune wandern und die wirtschaftspolitische Diskussion in Europa ihre Richtung verändert: weg von der Innenrichtung, die einen Abnützungskrieg gegen die Staatsverschuldung mit dem Ziel einer stabilitätspolitischen Erziehungsdiktatur führt, hin zu einer Außenrichtung, die wenigstens wirtschaftspolitisch einen starken Staat ausmacht, was nur geht – mit Eurobonds.
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Die wenigen kritischen Untersuchungen zu dem genannten Thema gehen von problematischen Voraussetzungen aus: von irrationalen, aber dominanten Kapitalmärkten einerseits und Staaten, die sich subordinieren, andererseits, ohne dass Verbindungen bestehen. Tatsächlich ist es aber so, dass die von den Marktradikalen vorgesehenen Regeln und Regulationen wie Schuldentragfähigkeit, CACs, Staatsinsolvenz auf eine simulierte Unterwerfung des Staates unter die Kapitalmärkte zielen. Tatsächlich ist es so – zu besichtigen zuletzt in der Finanzkrise von 2008 –, dass die Finanzmärkte auf den Staat als Retter, als eine Art Lender of Last Resort, angewiesen sind, wenn sich große dunkle Löcher und Abgründe auftun. Im normalen Geschäftsgang sind die Kapitalmärkte zum einen Teil irrational, zu einem anderen Teil aber auch rational. Im ersten Jahrzehnt der Währungsunion hielt man es an den Kapitalmärkten – ganz rational – z.B. für unmöglich, dass die maßgeblichen Akteure der Währungsunion eines ihrer Mitglieder fundamentalen Gefährdungen aussetzen würden. Deshalb ließ man sich auf Eurobonds ein. Die Staatsvertreter, insbesondere die deutschen, handelten demgegenüber irrational und ließen die Griechenland-Krise eskalieren. CAC-etikettierte Anleihen mit dem Stempel „Vorsicht Risiko!“ entsprechen nicht den Bedürfnissen der Anleger auf den Anleihemärkten, die müssen erst dazu erzogen werden, auf die neuen staatlichen Vorgaben einzugehen. Es ist umgekehrt so, dass an den Anleihemärkten neben Risiko auch Sicherheit verlangt wird. Und die mit Abstand sichersten Assets sind Staatsanleihen, die ein starker, rationaler Staat begibt. Für die europäische Währungsunion sind das Eurobonds.