Wie die realistische Theorie auf die internationale Politik blickt. Von Illusionen, Macht und Ordnungen

 

Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens, Bonn 2023, 199 Seiten (Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Original: Beck-Verlag, 2016).

 

Das Büchlein ist in der Erstauflage bereits 2016 erschienen, jetzt hat es die Bundeszentrale für politische Bildung in einer aktualisierten und um ein Nachwort zur „Zeitenwende“ erweiterte Fassung neu aufgelegt. Es ist unter drei Gesichtspunkten von Interesse: 1.) Es enthält ein Plädoyer für den Realismus als Theorie der internationalen Politik. 2.) Es trägt schonungslos die Illusionen des Westens zur internationalen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges zusammen. Und es entwickelt 3.) eine These über den gegenwärtigen Zustand der internationalen Politik.

 

1

Den eigenen Ansatz charakterisiert Masala so: Ausgangspunkt ist die Annahme, „dass internationale Politik primär durch das Streben nach Macht gekennzeichnet ist. In einer Welt, in der es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die darüber wacht, dass Regeln eingehalten werden und die, wenn Regeln verletzt werden, diese automatisch sanktioniert, sind Staaten stets um ihre eigene Sicherheit besorgt. Und um diese zu garantieren, streben sie nach Macht. Dadurch entsteht zwischen Staaten ein Wettbewerb, der durchaus in Krieg münden kann. Großmächte sind in dieser Sichtweise die eigentlichen und zentralen Antriebskräfte der internationalen Politik. Sie ringen miteinander um regionale und letzten Endes auch um globale Vorherrschaft. Ihr Handeln wird nicht durch eine Orientierung am Allgemeinwohl motiviert, sondern durch nationale Interessen (was immer sie dafür halten). Institutionen, Regeln und Normen sowie das Völkerrecht haben in meiner realistischen Sichtweise eine eher nachrangige Bedeutung zur Erklärung der internationalen Politik“ (S. 16).

Hauptfeind des Verfassers ist die liberale Theorie der internationalen Politik, deren optimistische Betrachtungsweise er ganz offensichtlich nicht teilt, ebenso wenig wie den Nutzwert der Unterscheidung zwischen „guten“ und „bösen“ Staaten. Auch mit der Annahme, dass Demokratisierung und Kooperation zur Verbesserung der internationalen Politik beitragen könnten, kann sich der Verfasser nicht anfreunden.

Realismus soll also der Leitfaden in der Theoriebildung und der Politikberatung zum Internationalen sein. Dagegen ist nichts einzuwenden, wie sollte man etwas gegen Realismus haben. Der Fairness halben muss man allerdings hinzufügen, dass der Realismus raum-zeitlich ganz spät an der internationalen Politik ansetzt. Wenn alle anderen Politikberater (des Liberalismus, des Institutionalismus und des Konstruktivismus) mit ihren Vorschlägen fertig sind, kommt der Realismus aus dem Gebüsch und plärrt „Alles Illusion!“ Dazu passen auch die eher seichten Politikberatungen des Verfassers für die bundesdeutsche Außenpolitik: 1.) sich nur „selektiv“ international einzumischen und wenn, dann 2.) nur in Kooperation mit anderen, also nach der Olaf-Methode (S. 155 ff.).

Dass Masala in dem etwas eifernden Plädoyer für den Realismus auch höchst problematische Einschätzungen unterlaufen – vor allen anderen: Institutionalisierungen sind in der internationalen Politik „nachrangig“, – sei zunächst nur am Rande vermerkt. Wenn der Westen in der heraufziehenden neuen Blockbildung noch einen strategischen Vorteil hat, dann sind es seine Institutionen (NATO, EU).

 

2

Ausgesprochen erfrischend lesen sich die Passagen, in denen sich Masala als Drachentöter betätigt, wenn es also gegen den Drachen „Liberalismus“ in seinen verschiedenen Gestalten geht. Der erste Drache, den er erledigt, ist die „Demokratisierung“ (S. 21 ff.), deren Ausbreitung in der Welt friedensstiftend wirken sollte. Der 1990 einsetzende Traum, so der Autor, sei drei Jahrzehnte später, ausgeträumt, denn die Entwicklung von Demokratie sei viel „voraussetzungsreicher und eher in Jahrzehnten als in Jahren zu messen“ (S. 28). Der zweite Drache steht für die Vorstellung von den segensreichen Wirkungen militärischer Interventionen, getarnt als humanitäre Interventionen (S. 32 ff.). Zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte kam es, so der Autor, zu mehr militärischen Interventionen (des Westens) wie in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges. Die Ergebnisse sind bekannt: verlorene Kriege, menschliches Elend, failed states, Instabilität, Beförderung des Terrorismus. Der nächste Drache, der dritte, der erledigt wird, betrifft die internationalen Institutionalisierungen (S. 46 ff.). Internationale Organisationen sollten die globale Politik stabilisieren. Aber wer soll diese These vertreten haben? Sicher nicht die USA, die nach dem Ende des Kalten Krieges begannen, die UNO zu schwächen, die NATO und in deren Windschatten die EU aus Eigeninteresse zu erweitern und zu festigen. Die in diesem Themenkomplex angesiedelten Thesen des Autors – die NATO suche weiter nach einer Aufgabe (S. 55), NATO und EU seien in Folge der Erweiterungen geschwächt („Als Instrumente globaler oder regionaler Ordnungspolitik haben sie im 21. Jahrhundert keine Relevanz“, S. 59) – sind so nicht haltbar. Der vierte Drache, den Masala zerstört, ist der der Verrechtlichung (S. 60 ff.). Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen (Einrichtung von Strafgerichtshöfen, Schiedsgerichtsverfahren im Rahmen der WTO usw.), so war die Hoffnung, könnte für mehr Gerechtigkeit, Stabilität und Sicherheit sorgen. Da der Westen, insb. die USA, sich aber selbst nicht um das Völkerrecht scherten (Kosovo, Irak), ist auch diese Illusion zerplatzt.

All diese großen Illusionen des „siegreichen“ Westens zerstoben in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges. Und der Autor fügt im Verlauf seiner Darstellung noch weitere geplatzte Illusionen hinzu: die Illusion, es ließen sich heutzutage noch große Sicherheits- und Stabilitätsstrategien entwickeln (S. 152 f.), die Illusion, es ließe sich wertebasierte Außenpolitik betreiben, so die Annahme der „Kreuzritter des Guten“ (S. 154), die Illusion, große Kriege würden unwahrscheinlich, da sie zu hohe Kosten verursachten (S. 164 f.), und schließlich die Illusion, dass ökonomische Interdependenzen („Wandel durch Handel“) zivilisierende Wirkung auf die internationalen Beziehungen zeitigten (S. 171 f.).

 

3

All dieser trunkenen Politik des Westens und ihrer Theoretisierungen im Liberalismus und Institutionalismus setzt Masala seine realistische Theorie der internationalen Politik entgegen. Internationale Politik fuße auf einem „anarchischen internationalen System“ (S. 60, 153), das „keine den Staaten übergeordnete Zwangsgewalt“ (S. 16, 153) (mit „automatischen Sanktionsmechanismen“) kenne. In diesem System zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden, führe zu nichts (S. 62), da sich alle gleich verhielten, eine nihilistische Sichtweise, die so manchen politischen und medialen Akteur in Deutschland schlucken lassen dürfte, hat man sich doch nach Beginn „des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges“ (und was der Tautologien mehr sind) moralisch gerade so richtig aufgeblasen und in Positur gebracht. In der internationalen Politik agierten Großmächte und Mächte, die nicht kooperationsbereit sind, über „keine gemeinsame Idee“ (S. 150) für die Kooperation verfügten und nichts kennten als Macht, Interessen und das Recht des Stärkeren.

Oben wurde bereits auf eine Schwäche dieser Perspektive auf die internationale Politik hingewiesen: die Geringschätzung von Institutionalisierungen. Die Hauptschwäche liegt aber woanders und aus ihr folgen Konsequenzen für die Hauptthese des Textes. Die Hauptschwäche in Marsalas Blickweise auf die internationalen Beziehungen liegt in seiner Charakterisierung des internationalen politischen Systems als anarchisches System. Anarchie unterstellt einerseits Gleichheit der Akteure, andererseits Beziehungslosigkeit der Akteure. Beides sind unzulängliche Beschreibungen des internationalen Systems und seiner Beteiligten. Statt „Anarchie“ als Ordnungsbegriff der Wahl empfiehlt sich der Begriff „Hierarchie“ (einschließlich der darin angelegten Begriffe Macht und Einfluss). Es gibt eine begrenzte Anzahl von Akteuren, die am Spiel „internationale Politik“ teilhaben, wobei die Zahl nicht identisch ist mit der Mitgliederzahl der UN, sie ist erheblich kleiner. Von Dänemark als internationalem Player zu sprechen, macht sicher wenig Sinn. Territoriale Größe und Lage, Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und militärische Stärke sind die entscheidenden Dimensionen, wobei die militärische Dimension sicher die härteste Währung darstellt. Gemessen in dieser Währung sind die USA in Quantität und Qualität die einzig verbliebene Supermacht, die in der Lage ist, weltweit zu agieren. Nach den USA kommt lange lange nichts. Die beiden nächsten in diesem Zusammenhang Verdächtigen, Russland und China, können als Groß- oder Weltmächte bezeichnet werden, die in ihrem Aktionsradius aber deutlich auf Nähe zu ihrem eigenen Territorium beschränkt sind und sich so auch verhalten. Danach folgen eine Reihe von Mächten, von denen eine Gruppe über Atomwaffen verfügt und von daher eine gewisse Rolle in der internationalen Politik spielen kann, dann Staaten, die über eine gewisse Wirtschafts- und Technologiekraft (G-7, G-20) verfügen, schließlich solche, die unter regionalen Gesichtspunkten in der Bevölkerungsgröße herausragen (z.B. Brasilien für Südamerika). All das ist mit „anarchischem internationalen System“ falsch beschrieben.

Alles andere als Anarchie ist auch, dass sich Staaten in wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bündnissen zusammentun. An erster Stelle zu erwähnen sind für die Gegenwart in diesem Zusammenhang die NATO und die EU. Geschichtlich die NATO und der Warschauer Pakt. Auch kann nicht behauptet werden, dass zwischen den Staaten bzw. Blöcken keine Kommunikation bestehe. Im Kalten Krieg gab es sicherheitspolitische Absprachen und Abrüstungsverträge. Auch in der Gegenwart gibt es Formen der Kommunikation, die im Wesentlichen rund um das Abschreckungspotential der Kernwaffen angesiedelt sind. Die NATO bzw. die USA haben sich vor der russischen Invasion nicht dazu hinreißen lassen, eine Gegenreaktion offen zu lassen, also „Strategische Ambiguität“ walten zu lassen, wie die USA es für Taiwan tun (eine Einladung für Russland und v.a. eine der vielen Enttäuschungen für die Ukraine).

All das und noch vieles mehr spricht dagegen, vom internationalen politischen System als anarchischem System zu sprechen. Das führt uns zu der Hauptthese von Masalas Büchlein. Sie lautet: „Die Welt des 21. Jahrhunderts ist in Unordnung (Herv.d.Verf.). Ordnung wird sich weder auf der globalen noch in weiten Teilen dieser Welt regional einstellen“ (S. 159). Dazu wüsste man natürlich gerne, was sich der Autor unter einer internationalen Ordnung, die in Ordnung ist, vorstellt. Oder auch: Entsprach die internationale Welt des Kalten Krieges einer ordentlichen Ordnung?

Glaubt man die einzelnen im Text verstreuten Puzzlestücke zusammen, ergibt sich in etwa folgendes Bild. Internationale Ordnung ist für Masala eine konstruktivistisch angelegte Welt mit einer „übergeordneten Instanz“ (S. 153), die den Staaten und der Staatenwelt Regeln setzt, die sie zu befolgen haben; danach kommen Großmächte ins Spiel, die die internationale Politik kooperationsbereit und verständnisvoll mit einer „gemeinsamen Idee“ managen (S. 150, 180), die nicht auf nationalen Interessen, sondern auf dem „Allgemeinwohl“ aufbaut (S. 16). Soll das eine Karikatur der liberalen Theorie sein? Man weiß es nicht. Soweit ich die Sache überblicke, gab es eine solche Ordnung noch nie in der Weltgeschichte, selbst zu Hochzeiten der Imperien und des Imperialismus nicht. Sollte es dann etwa so sein, dass es noch nie internationale Ordnungen gab? Ist das die These des Realismus? Immer nur Anarchie?

Wo kommt die neue „Weltunordnung“ her oder – umgekehrt – warum kann es keine Weltordnung mehr geben? Eher nebenbei formuliert Masala: „Die Natur von Macht [hat] sich grundlegend verändert“ (S. 150). Der Autor deutet 1.) für den politisch-militärischen Bereich an, dass große in diesem Sektor machtvolle Staaten sich nicht mehr einfach durchsetzen könnten, womit wohl die Erfolglosigkeiten der US-amerikanischen Missionskriege gemeint sind. Und für die „ökonomischen Machtmittel“ hält er 2.) fest, dass „neben Staaten, transnationale Wirtschaftsunternehmen, unsichtbare Märkte und Nicht-Großmächte“ (S. 151) eine immer größere Rolle spielten. Beides allerdings, so der bescheidene Einwand, ließ sich aber schon für die Zeit des Kalten Krieges feststellen.

Im Nachwort der aktualisierten Auflage, nach der „Zeitenwende“ verfasst, kommen Masala dann doch Zweifel, ob die These von der „Weltunordnung“ stimmt. Einige seiner Prognosen von 2016 haben sich schließlich nicht bewahrheitet. Nimmt der Weltgeist doch wieder die Gestalt der Bipolarität (und damit der Ordnung) an (S. 179 f.)? Masala: Das mögen die Chinesen zwar anstreben, sie sind aber noch weit davon entfernt (was militärisch gesehen stimmt). Das Bündnis mit Russland, einer absteigenden Macht, sei „keine Allianz für die Zukunft“ (S. 180). Warum eigentlich nicht? Und die BRICS-Formation? Zu konstatieren wäre aber auch: Die Durchsetzungsfähigkeit des Westens mit den USA an der Spitze sinke beständig. Ergo: „Es bleibt also bei einer Weltunordnung, … in der die auf- und absteigenden Mächte sich weiterhin nicht als Manager des internationalen Systems im 21. Jahrhundert verstehen“ (S. 180).

Man kann die Sache auch anders sehen: Es gibt spontane Ordnungen, die Masala nicht kennt, und konstruktivistische Ordnungen, die er kennt. Die Ordnung des Kalten Krieges (1947-1990) war eine Mischung. Sie entstand als spontane Ordnung im Sinne von ungeplanter Ordnung zwischen zwei Systemen, Westen und Osten, die einander feindlich mit Aufrüstung, Systemkonkurrenz und einem gefesselten Vernichtungswillen gegenüberstanden. Sie wurde später um konstruktivistische Elemente (KSZE, Ostpolitik, Abrüstungsvereinbarungen usw.) angereichert. Die darauffolgende Ordnung der „Unipolarität“ der US-Hegemonie (1990-2020) war eine spontane Ordnung, die aus dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers resultierte und auf keinerlei offizieller Verständigung beruhte. Sie zeichnete sich einerseits durch einen gewaltigen wirtschaftlichen Globalisierungsschub und andererseits einen ungebremsten internationalen „Gestaltungswillen“ der US-Administration aus. Die gegenwärtig entstehende neue Ordnung wird die Unipolarität ihrer Vorgängerin überwinden und in ihrer Anfangszeit eher Züge einer spontanen Ordnung aufweisen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sich eine neue Bipolarität herauskristallisieren wird, für deren einen Pol mit dem „Westen“ bereits eine Begrifflichkeit existiert. Der andere Pol sucht sich noch seine Begrifflichkeit. Was seine Mitgliederkartei angeht – und die des Westens ebenso –, sollte man die Zuordnungen internationaler Organisationen wie dem IWF für die Begriffe „Industrieländer“ und „Schwellenländer“ zu Rate ziehen.

 

DIE TRAUMWANDLER – Es geht um nicht weniger als den Dritten Weltkrieg

Josef Braml/Mathew Burrows, Die Traumwandler. Wie China und die USA in einen neuen Weltkrieg schlittern, C.H.Beck, München 2023 (198 Seiten)

 

Josef Braml, deutscher USA-Experte, und Mathew Burrows, ehemaliger CIA-Mitarbeiter und Außenpolitik-Experte, haben ein außerordentlich wichtiges Buch zu der krisenhaften internationalen Situation und denkbaren zukünftigen Entwicklungen vorgelegt. Angesichts der ungeheuerlichen Gefahr eines Dritten Weltkrieges verstehen sie ihren Text als „Weckruf“ (13), als „Politikberatung“ (15) und widmen es „den Friedensstiftern dieser Welt“.

Der Titel spielt an auf Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ (2012/13), in dem – revisionistisch – das Rad der Geschichtswissenschaft zurückgedreht wurde und die seit der Fischer-Kontroverse der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts dominierende These von der Hauptschuld des Deutschen Reiches für den Ausbruch des 1. Weltkrieges zurückgenommen wurde und die Schuldfrage im großen Wasser unübersehbarer historischer Vorgänge und mit bestem Willen beseelter Politiker versenkt wurde. Alle damaligen Großmächte trugen gleichermaßen durch ihr Verhalten für den Ausbruch des 1. Weltkrieges Verantwortung, so Clarks These. Das war auch die Überzeugung der Geschichtswissenschaft in der düsteren Adenauer-Ära, und es beruhigte die deutsche konservative Seele auch in der jüngeren Zeit, trug man mit Clarks These doch nicht an allen Schandtaten des 20. Jahrhunderts die Verantwortung, mehr noch: mit der Verrauchung der Verantwortung für die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Kennan) war man gleich auch noch ein wenig Eigenverantwortung, wenn auch klitzeklein, für den Aufstieg des Nationalsozialismus los.

Braml/Burrows erörtern in ihrem Buch die Gefahr eines neuen Weltkriegs mit den Hauptbeteiligten China und USA, die, so die Autoren, wie die Großmächte vor dem 1. Weltkrieg in einen neuen Krieg hineintaumeln. Vorweggenommen sei: Das ist schon im Ansatz, der sich bei den Autoren auf die Zukunft richtet, genauso fragwürdig, wie Clarks These zur Vergangenheit. Es gibt immer Haupttreiber, berechtigte und unberechtigte Interessen, Möglichkeiten der Verantwortungszuordnung usw. usf.

Die Struktur des Buches wird durch drei Szenarien vorgegeben. 1.) „Das schlechte Szenario – Die neue Bipolarität ist bereits da“, 2.) „Das hässliche Szenario – Ein Dritter Weltkrieg“, 3.) „Das gute Szenario – Katalysatoren für eine Kooperation“. Das abschließende vierte Kapital trägt die Überschrift „Wie ein Dritter Weltkrieg vermieden werden kann“. Genaugenommen ist das erste Szenario, wie schon in der Überschrift anklingt, kein Szenario, sondern die Beschreibung der Gegenwart, also der Ausgangspunkt für die beiden anderen Szenarien.

 

Kapitel 1

„Das schlechte Szenario – Die neue Bipolarität ist bereits da“

Für die Autoren steht fest, dass es bereits zu einem neuen Kalten Krieg gekommen ist, ein Kalter Krieg, der im Wesentlichen von einem durch die USA angezettelten Wirtschaftskrieg gegen China besteht, der von Biden mit dem Ziel geführt werde, „den Aufstieg Chinas zu stoppen“ (28). Ausführlich widmen sie sich in diesem Zusammenhang dem „CHIPS Act“. Lagerübergreifend habe man in den USA einen „verächtlichen Ton“ (29) gegenüber China angeschlagen, es gehe einzig darum, China zu „verprügeln“ (31). Fälschlicherweise laste man China den Verlust industrieller Arbeitsplätze an (33), habe den Multilateralismus und seine Institutionen in Misskredit gebracht, strebe eine Entkopplung an und befürworte das „Friend-Shoring“ (36ff.), verprelle dabei seine Verbündeten in der EU (z.B. durch die Blockade des Investitionsabkommens zwischen der EU und China, 52f.) und in Asien. Den USA unterliefen dabei weitere Fehleinschätzungen, z.B. dass der technologische Vorsprung gehalten werden könne und dass Taiwan „als Teil der ‚westlichen‘ Domäne“ (51) beansprucht wird. Gegenüber dem Globalen Süden habe sich der Westen „unaufmerksam und nachlässig“ (58) erwiesen. China demgegenüber zeige nur „defensive Aggressivität“ (58ff.), hege keine „territorialen Ambitionen“ (60), abgesehen von Taiwan, die Rhetorik von der „chinesischen Übernahme der Weltherrschaft“ sei „übertrieben“ (ebd.). Etwas wunderlich nehmen sich die Ausführungen zu den „zwei verwundeten Riesen“ (64ff.) an; gemeint sind dabei die USA und China. Beide befänden sich im „abwärts gerichteten ‚Power Cycle‘“ (65). Weder finden sich wirklich belastbare Anzeichen dafür, dass sich die USA weltpolitisch auf dem absteigenden Ast befinden, wie allenthalben behauptet wird, noch trifft dies für China in seinen weltpolitischen Ambitionen zu.

Das Kapitel endet mit der Feststellung, dass weder Xi noch Biden einen Krieg wollten (66). Aufgegriffen ist damit die Zentralthese des Buches vom möglichen schlafwandlerischen Hineinschlittern in den Dritten Weltkrieg. „Auch vor dem Ersten Weltkrieg wollte niemand einen Krieg. Aber er geschah trotzdem“ (ebd.). Die ganze Fragwürdigkeit vom ungewollten Krieg tritt hier zutage – sowohl bezogen auf den chinesisch-amerikanischen Konflikt als auch bezogen auf den Ersten Weltkrieg. Um bei ersterem zu bleiben: Beide Akteure ziehen in ihren Positionsmarkierungen selbstredend die Möglichkeit des Krieges mit ein, wenn sie zum nächsten Schritt ausholen. Die Chinesen, wenn sie Taiwan ein Ultimatum für die Wiedervereinigung stellen, die USA, wenn sie Taiwan als souveränen Staat anerkennen, also die Ein-China-Politik offiziell suspendieren, und sich als Schutzmacht Taiwans deklarieren.

 

Kapitel 2

„Das hässliche Szenario – Ein Dritter Weltkrieg

Kapitel 2 (vom Titel des Buches her gedacht das zentrale Kapitel) beginnt – angelehnt an Stephen S. Roach[1] – zunächst mit dem Bezug auf eine noch abstrusere These als die Traumwandler-Schlafwandler-These, dass nämlich die gegenwärtige Konfliktkonstellation mit den Großmächten Amerika, China und Russland eine zufällige sei, die nur eines Funkens bedürfe, um in einem großen Krieg zu enden – und darin der Konstellation vom Juli 1914 ähnele. Es geht weiter mit einem der amerikanischen Scharfmacher, Eldrige Colby, der die „Notwendigkeit eines Krieges mit China“ (69) predigt. Die Ausführungen kulminieren in der Feststellung, dass der amtierende US-Präsident Biden „offen einen Krieg mit einem nuklearen China ins Auge gefasst“ (70) hat. Die neuerweckten Atlantiker in Deutschland werden, wenn sie das lesen, aus dem Schlucken nicht mehr herauskommen.

Biden habe sich mit seiner Aussage, Truppen zu entsenden, falls China eine Invasion in Taiwan vornehme, in eine „Falle“ (78) und „gefährliche Gewässer“ (88) manövriert, da er die Vorteile „strategischer Ambiguität“ (86) aufgegeben habe. „Wie würde ein Krieg um Taiwan aussehen?“, fragen die Autoren. Diverse Autoren und Thinktanks, die „Kriegsspiele“ (82ff.) durchspielen, zitierend, ergibt sich die Quintessenz: Vor Ende des Jahrzehnts sei eine militärische Auseinandersetzung unwahrscheinlich, entscheidend sei die zukünftige Innenpolitik Taiwans, die psychologische Kriegsführung Chinas setze sich fort, eine Invasion Taiwans könnte im Süden der Insel stecken bleiben, gewinnen könnte die eine wie die andere Seite. Anders als eine Unterüberschrift ankündigt – „Ein Dritter Weltkrieg“ (85ff.) – bleiben die Ausführungen zu einer Ausweitung des Krieges dünn, vage, kaum argumentativ greifbar.

 

Kapitel 3

Das gute Szenario – Katalysatoren für eine Kooperation

Einer der Katalysatoren scheint den Autoren die Demographie zu sein. „Die Waage hat sich zu Gunsten der Arbeitnehmer verschoben“ (91), was die westlichen Länder und ihre Führungen zu einem „neuen großzügigeren Gesellschaftsvertrag“ und mehr Einwanderung zwinge. China nehme Marktreformen und Privatisierungen vor, so ein weiterer Katalysator, was zu einer „reformierten WTO“ (93) führen könnte. Mit einer „gehörigen Portion Glück“ ließen sich die chinesisch-amerikanischen Spannungen abbauen, Taiwan verzichte auf weitere Unabhängigkeitsbestrebungen, Europa festige sich im westlichen Bündnis, Russland würde bestraft und demokratisiere sich. Und der Westen widme sich mehr dem Globalen Süden. – Für all diese Katalysatoren gäbe es „schwache Signale“ (94), die einen kalten oder heißen Krieg vermeiden würden. All das hört sich indessen eher wie ein Wunschkonzert an.

Die Ausführungen zum Russland-Ukraine-Krieg gehen von der Überzeugung aus, dass „Russland aus dem Krieg gegen die Ukraine so gut wie sicher (Herv.d.Verf.) als wirtschaftlich und diplomatisch geschwächte Macht hervorgehen wird“ (95). Es folgen allerlei voluntaristische Überlegungen, die sich von der Vorstellung leiten lassen, dass die USA einen „Keil zwischen Russland und China“ (96) treiben sollten, was so weit geht, dass sie ein Plädoyer für die „legitimen Interessen Chinas“ (97) halten, widersprechen sich dann aber ein paar Zeilen weiter: „Die Tatsache, dass wir keine legitimen Interessen anerkennen können…“ (ebd.). Weitere Katalysatoren für die Kooperation seien die in Umfragen deutlich werdende Priorisierung der Klimapolitik der jungen Generation, die Tatsache, dass alternde Gesellschaften weniger militaristisch seien, und der Neustart für die Globalisierung und eine reformierte WTO vielversprechend sei. Der Klimawandel sollte die oberste Priorität erhalten.

 

Kapitel 4

„Wie ein Dritter Weltkrieg vermieden werden kann“

Der Dritte Weltkrieg könne, so die Autoren, verhindert werden, wenn es auf drei Feldern gelinge, Fortschritte zu erzielen: dem Russland-Ukraine-Krieg, der Klimapolitik und der weltwirtschaftlichen Zusammenarbeit.

 

1

„Russlands Krieg gegen die Ukraine entschärfen“

Um es vorwegzunehmen: Wie der Krieg entschärft werden kann, erfährt der Leser/die Leserin in diesem Kapitel nicht. In den gewunden und lavierend anmutenden Ausführungen lassen sich bestenfalls Bedingungen und Probleme für eine Entschärfung ausmachen.

Ein Friedensvertrag zu russischen Bedingungen (Abtretung der vier Provinzen in der Ostukraine und der Krim) scheint den Autoren nicht vertretbar, da es auf eine Ermutigung Russlands hinauslaufen würde (112f.). Der Krieg sei keine rein regionale Angelegenheit mehr, sondern eine globale, denn eine drohende Niederlage Russlands könnte eine Eskalation mit Atomwaffen auslösen. „Das Risiko einer nuklearen Eskalation kann nicht ausgeschlossen werden“ (113f.). Widersprüchliche Ziele seien zu verfolgen: „Putin nicht gewinnen zu lassen und den Krieg so schnell wie möglich zu beenden“ (114), eine „komplexe Aufgabe“. Die Autoren plädieren für Realismus, nicht Moral, ein deutlicher Hinweis.

Die ukrainischen Bedingungen (vollständiger Abzug der russischen Truppen, Reparationen und Bestrafung) seien zwar nachvollziehbar. Aber: „Es ist verständlich, dass die Selenskyj-Regierung harte Friedensbedingungen fordert. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass sie erreicht werden können“ (116). Eine Schwächung Russlands bis zur Machtlosigkeit „ist verständlich, aber äußerst gefährlich“ (115). Alles scheint auf einen „eingefrorenen Konflikt“ (115), eine „Pattsituation“ (117) hinauszulaufen, darauf, dass die Ukraine nicht allein die Bedingungen für Frieden diktieren kann. Die Autoren trauen es sich aber nicht offen zu formulieren. „Welche Art von Frieden sollte der Westen anstreben?“ (118), fragen sie weiter. Es folgen die hilflosen Textbausteine aus den Talkshows: Russland darf nicht als Sieger aus dem Konflikt hervorgehen, die Ukraine muss möglichst viel Territorium zurückerlangen, und – als einzige Sicherheitsgarantie – bleibe die Ausstattung der Ukraine mit modernen Waffen. Dann formulieren die Autoren eine Jahrhundertaufgabe: „Eine stabile, wohlhabende und demokratische Ukraine wiederaufbauen“ (118), was i.W. eine europäische Aufgabe sein würde. Eine realistische, konsistente Analyse jedenfalls sieht anders aus.

Abschließend, für die Zeit danach, führen die Autoren aus: Ein dauerhafter Friede erfordere Zusammenarbeit und Dialog mit Russland, sei „unabdingbar“ (119), Entspannungspolitik, Rüstungskontrollverhandlungen, eine neue Sicherheitsstruktur für Europa im Rahmen der OSZE, Russland nicht als Erzfeind zu betrachten, die Marshallplan-Methode sollte Verwendung finden, nicht die Versailles-Methode, eine Demütigung Russlands solle nicht angestrebt werden.

 

2

„Den Klimawandel bekämpfen“

Die Autoren tragen hier eine ganze Reihe von Untersuchungsergebnissen zusammen, die alle auf dasselbe Resultat hinauslaufen: Die USA, Europa, China und der Rest der Welt unternehmen zu wenig, um den Klimawandel zu bekämpfen. Ihre zwingende Schlussfolgerung: „Wenn der Klimawandel eine beispiellose internationale Herausforderung von gigantischem Ausmaß ist, dann müssen alle Anstrengungen global sein, und wir sollten nach Möglichkeiten einer weltweiten Zusammenarbeit suchen“ (138). Zusammenarbeit ist das Schlüsselwort, das Gegenteil ist Konfrontation. Auf die Schlussfolgerung, dass der Westen seinen konfrontativen Kurs in der Taiwan- und Ukraine-Frage aufgeben müsste, kommen die Autoren aber nicht. Oder zweifeln sie an der Kausalität ihrer Aussage? Hier rächt sich, dass in der Analyse beider Fragen nicht nach den Hintergründen, Ursachen und Kontexten gesucht wurde. Und: Zurecht betonen die Autoren im Fall des Ukraine-Konflikts, dass sich die Ukraine nicht allein von eigenen Erwägungen leiten lassen darf, sondern dass es übergeordnete Dimensionen gibt. Die einzig mögliche Schlussfolgerung kann nur lauten, dass die beiden Konflikte nicht nur in einem globalen Kontext betrachtet werden müssen, sondern als der Bekämpfung des Klimawandels nach- und untergeordnet – alles unter der Voraussetzung, dass man den Klimawandel als das bedrohlichste aller Weltprobleme erachtet.

 

3

„Einen stärkeren Westen aufbauen“

(Dieser Teil ist offensichtlich hereingeschneit, was auf ein wenig sorgsames Lektorat hindeutet.)

In diesem halten die Autoren ein Plädoyer für die „internationale Ordnung nach westlichem Vorbild“ (147). Voraussetzung dafür sei aber, „die innenpolitischen Ursachen des Niedergangs der Demokratie in den westlichen Ländern anzuerkennen“ (147). Diese machen sie fest am Rückgang des Lebensstandards der Mittelschicht, wachsenden Ungleichheiten und Funktionsstörungen in der Regierung. Wirtschaftspolitisch empfehlen sie – man glaubt es kaum – deutsche Ordnungspolitik à la Eucken, von dem man erfährt, dass er „verstorben“ ist (145). Mit dem libertären Programm (Vertragsfreiheit, Privateigentum und Haftungsprinzip) und einem starken Staat als Hüter des Wettbewerbs könne den Krisenerscheinungen begegnet werden. Was „progressive Innen- und Außenpolitik“ (150) ist, erfährt man im Text nicht (Überschrift sucht Text oder umgekehrt).

 

4

„Die Weltwirtschaftsordnung stabilisieren“

Die multilaterale Ordnung im Rahmen der WTO sollte rekonstruiert werden, was den Autoren aber für die nächste Zeit „unwahrscheinlich“ (155) erscheint. Makroökonomische Ungleichgewichte sollten abgebaut werden: Deutschland sollte mehr investieren und weniger sparen, den Leistungsbilanzüberschuss abbauen, die USA umgekehrt. Die internationale Finanzordnung sollte multipolar werden, d.h. ein Ersatz für den Dollar als internationale Währung sollte gesucht werden, China arbeite schon am „Petroyuan“, den Europäern fehle es an dem Bewusstsein, den Euro zu einer internationalen Währung aufzubauen (faktisch gemeint sind Eurobonds, die werden aber nicht genannt, 163). Was der „perfekte“ Sturm für die internationale Wirtschaft wäre, wird nicht richtig klar.

 

 

„Fazit: Hoffnung auf Kooperation und ein friedliches Miteinander“

Im Fazit (167ff.) endet das Buch enttäuschend. Den beteiligten Mächten wird die „Mont Fleur-Szenario-Übung“ empfohlen, innerhalb der im südafrikanischen Konflikt 1991/92 ehedem verfeindete Akteure zusammenkamen und nicht, wie üblich, über Positionen, Interessen und deren Ausgleich redeten, sondern über die Zukunft Südafrikas, wobei die Entwicklung von Verständnis das tragende Moment war. „Warum sollte dies nicht ein Vorbild für den Westen, China, Russland und den Globalen Süden sein, sich auf Gemeinsamkeiten zu konzentrieren und ein gemeinsames Vokabular und Verständnis dafür zu entwickeln, was auf dem Spiel steht?“ (170) Ausgerechnet auf dem Gebiet der internationalen Politik, auch Geopolitik genannt, auf dem es um nichts anderes geht als Interessen, Macht und Hegemonie sollen die Führer der genannten Mächte sich in Verständnis üben. Was im Übrigen in jeder der vorherigen Konfliktstationen auch hätte geschehen können.

Statt zuzuspitzen bleiben die Autoren also auf der Ebene gruppendynamischer Übungen. Apropos Zuspitzung. 1.) Die Autoren entwickeln an diversen Stellen eine etwas versteckte Sympathie für die chinesische Position in der Taiwan-Frage. Im Fazit weisen sie zum wiederholten Male darauf hin, dass China in seiner 5000jährigen Geschichte – anders als der Westen – „nicht zu großen Eroberungszügen außerhalb seiner Region aufbrach“ (167). Warum findet sich dann in dem Büchlein an keiner Stelle die explizite Benennung, dass die USA mit ihrer Taiwan-Politik das Problem darstellen? 2.) Das Buch ist weit entfernt von der Anwendung einer vollständigen Szenario-Methode auf die internationale Politik der Zukunft. Das ist ihm nicht vorzuwerfen. Wohl aber wünschenswert wäre gewesen, sich gelegentlich auf die klare Benennung von Eintrittswahrscheinlichkeiten, Akteursbewertungen und eigene Positionierungen einzulassen. – Vielleicht gibt es einen Zusammenhang: Nur wer Politiker und ihre Beratungsstäbe nicht konsequent, d.h. zugespitzt analysiert, und ihre Bekundungen – „Alle wollen Frieden“ – für bare Münze hält, kann auf die Idee kommen, dass sie schlafwandeln, träumen, stolpern. Oder auch umgekehrt.

Bei aller Kritik: Das Buch hebt sich wohltuend ab von den in Deutschland in Mode gekommenen „wertegeleiteten“ geopolitischen Talkshow-Diskursen, die von nur Schwarzweiß kennenden Farbenblinden, Schäumenden mit Aggressionsstau und Hochmeistern der empathischen Entkontextualisierung bestritten werden. Es kennt Differenzierung, Perspektiven, nüchterne, auch unangenehme Analyse. Es vermittelt einen guten Überblick über Positionen und Literatur. Und, ein kaum zu unterschätzender Vorteil, es ist frei von Moralisierungen. Daher: Unbedingt lesenswert!

 

[1]              Stephen S. Roach, Accidental Conflict: America, China, and the Clash of False Narratives, London 2022.

Von der alten Dreiteilung der Welt zur neuen Dreiteilung der Welt. Eine Erinnerung an Alfred Sauvy, den Schöpfer des Begriffs „Dritte Welt“

  1. Eine kurze Geschichte des Begriffs „Dritte Welt“
  2. Die Dritte Welt als Dritter Stand
  3. Die gegenseitige Stabilisierung der Ersten und Zweiten Welt im Kalten Krieg (1947-1990)
  4. Die Krise der Ersten Welt nach dem Untergang der Zweiten Welt (1990-2021). Das Interregnum
  5. Die Neuformierung der drei Welten
  6. Schluss

Einleitung

In den Anfangsjahren des Kalten Krieges erschien in dem französischen Wochenmagazin L’Observateur (14. August 1952) ein Artikel des französischen Ethnologen, Demographen und Historikers Alfred Sauvy, der sich in Hinblick auf die internationale politische Begreiflichkeit als bahnbrechend erweisen sollte.[1] Die Begriffe der Ersten und der Zweiten Welt, der Kontrahenten des beginnenden Kalten Krieges, hatten sich gerade eingebürgert, Sauvy fragte, was mit dem Rest der Länder des Planeten sei. Für sie sah er den Begriff der „Dritten Welt“ vor. Das war aber nicht der eigentliche begriffliche Clou. In Anlehnung an den französischen Revolutionstheoretiker Emanuel Joseph Sieyès „identifizierte“ Sauvy die Dritte Welt als Dritten Stand in der Ordnung der Welt. Sauvys Aufsatz enthält aber noch weitaus mehr als Begriffsbildung und Analogieschluss. Er entwickelt die Logik des sich damals entfaltenden Kalten Krieges zwischen den ersten beiden Welten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Dritte Welt.

Es ist ergiebig, sich an Sauvys Artikel zu erinnern, ihn einer neuen Lektüre zu unterziehen, da er in seinem beschreibenden und analytischen Charakter beachtliche Parallelen zu der Gegenwart enthält.[2] Der Vergleich mit der Gegenwart vermag aber auch Auskunft zu geben, was sich in den gut sieben Jahrzehnten seit 1952 verändert hat und was geblieben ist – mit der Dreiteilung der Welt.

Im Folgenden wird zunächst ein knapper Überblick über den Begriff der „Dritten Welt“ und die These von der Dreiteilung der Welt gegeben. Anschließend gehen wir auf Sauvys Analogie von Dritter Welt und Drittem Stand ein. Danach greifen wir seine These von der gegenseitigen Stabilisierung der ersten beiden Welten in der Zeit des Kalten Krieges (1947-1990) auf. Im Anschluss daran erfolgt – ausgehend von Sauvys These, dass das Verschwinden von einer der beiden ersten Welten eine „beispiellose Krise“ erzeugen würde – eine Skizze des Interregnums (1990-2021), in dem sich eine Auflösung der Dreiteilung der Welt im Rahmen der so genannten Globalisierung zu ergeben schien, was aber tatsächlich auf die Herrschaft des Anführers der Ersten Welt, die USA, hinauslief. Im Schlussteil wird – über Sauvys Aufsatz hinausgehend – die These entwickelt, dass wir gegenwärtig unter veränderten Vorzeichen eine Neuauflage der Dreiteilung der Welt, von der noch nicht abzusehen ist, ob sie Blockbildung oder einen erneuten Kalten Krieg sein wird, erleben.

1

Eine kurze Geschichte des Begriffs „Dritte Welt“

Der Begriff „Dritte Welt“ bürgerte sich schnell nach Sauvys Artikel ein und diente fortan dazu, eine ordnende Struktur in die in Folge der Dekolonisierung explosionsartige Zunahme von Staaten auf der Welt zu bringen.[3] Alle drei Begriffe, Erste, Zweite und Dritte Welt, an sich am Politischen orientierte Begriffe, wobei Dritte Welt mehr eine Restgröße darstellte, wurden ins Ökonomische und Entwicklungspolitische übersetzt: Die Erste Welt erfuhr die Attribuierung „Industrieländer“ oder auch marktwirtschaftlich oder kapitalistisch geprägte Länder; die Zweite Welt wurde mit den Begriffen „Sozialismus und Planwirtschaft“ verbunden; die Dritte Welt, die Residualgröße, bekam das Etikett „Entwicklungsländer“. Politisch schlossen sich letztere in der „Gruppe der 77“, den sogenannten Blockfreien zusammen. In der entwicklungspolitischen Debatte wurde die Dritte Welt noch weiter ausdifferenziert, die ärmsten Länder, die Least Developed Countries (LDC), wurden zu einer Art Vierten Welt zusammengefasst.

In Ländern der Ersten Welt entstanden spezielle Administrationen und Ministerien für die Entwicklungsländer, Entwicklungsministerien, die später in einer frühen Anwandlung von „woker“ Sprache in „Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit“, eine an Aberwitz kaum zu überbietende Begrifflichkeit, umetikettiert wurden. Als größtes Problem erwies sich die Heterogenität der Ländergruppe der Dritten Welt. Nur zwei Probleme seien genannt: die Zuordnung der lateinamerikanischen Länder und die der südostasiatischen Länder. Sauvy sah insbesondere das zuletzt genannte Problem und setzte sich später – auch vor dem Hintergrund des Aufstiegs der so genannten Tigerstaaten – vom Begriff der „Dritten Welt“ ab.

Der Epochenbruch von 1990 brachte die ganze Begrifflichkeit von der Dreiteilung der Welt schließlich zum Einsturz, da die Zweite Welt im Orkus der Geschichte verschwand. Es blieben nur noch die Erste und die Dritte Welt, für ordnungs- und mathematikliebende Beobachter ein unhaltbarer Zustand. Für die Erste Welt fand man mit dem „Westen“ schnell einen neuen Begriff, der auch den Vorteil hatte, weniger wertend zu sind. Für die „unterentwickelten“ Länder verbreitete sich der Begriff des „Globalen Südens“. Was aber ist mit dem Rest der Welt, z.B. Russland und China? Sie existieren und existierten vor sich hin, entzogen sich einer Zuordnung. Über dieser Unordnung schwebte aber die ökonomische Begrifflichkeit mit der Aufteilung in Industrieländer, Schwellenländer und Entwicklungsländer, die blieb und noch einen gewissen Sinn ergab. Aber auch nur einen gewissen Sinn, denn die Industrieländer z.B. sind längst keine Industrieländer mehr, sie haben sich in „Dienstleistungsländer“ verwandelt. Oder auch: Russland sei, so manche Beobachter, eigentlich kein Schwellenland, es sei ein Rohstoffproduzent, der von einer durchgreifenden Industrialisierung ziemlich weit entfernt sei. In der Zeit des Interregnums (1990-2021) schien es unter den segensreichen Wirkungen der Globalisierung so, als sei die ganze Aufteilung der Welt obsolet und man habe es nur noch mit Weltländern zu tun, die m.o.w. weit vom Wohlstandsparadies der Ersten Welt entfernt seien. Für die Nachrichtensendung genügten die geographischen Begriffe „Westen“, wozu auch Japan gehörte, und, seit einiger Zeit, „Globaler Süden“. Was aber ist mit dem „Osten“ – eine der Fragen, die sich heute stellen.

2

Die Dritte Welt als Dritter Stand

Sauvys Artikel endet mit dem Satz: „Schließlich will auch diese Dritte Welt, die wie der Dritte Stand ignoriert, ausgebeutet und verachtet wird, etwas sein.“ Das war 1952 formuliert, und es blieb so, es blieb so bis heute.

„Ignoriert“: Sauvy unterschied zwischen „Hauptsorgen“, der Vorbereitung auf den Krieg, und „Nebensorgen“, dem Hunger der Welt. Das war im alten Kalten Krieg so, und es gilt fast noch mehr für den möglicherweise entstehenden neuen Kalten Krieg, der gerade einsetzt. Großzügig und wie aus dem Nichts finanzieren die Staaten der Ersten Welt ihr Militär, nicht ganz so großzügig fallen die karitativen Aktionen in der Zivilgesellschaft aus, wenn zu Spenden für „Brot für die Welt“ aufgerufen wird. An den Hunger in der Dritten Welt hat man sich in dem Maße gewöhnt, wie der eigene Wohlstand stieg.

„Ausgebeutet“: Die späteren Länder der Dritten Welt wurden von „ihren“ Kolonialherren ausgebeutet – die Geschichte reicht vom Sklavenhandel bis zur Baumwollernte –, sie wurden später, nach der Entkolonisierung, ausgebeutet durch die Ölmagnaten der Welt und die Schürfer nach sonstigen Rohstoffen. Heutzutage beruhigt man die mitfühlende Seele mit „Fair Trade“ und der generösen Rückgabe von Kulturgütern.

„Verachtet“: Verachtet wurde die Dritte Welt v.a. in Gestalt der Kriege, mit denen die Erste Welt – durchaus auch die Zweite Welt in den Stellvertreterkriegen – sie überzog. Die Befreiungskriege gegen die Kolonialmächte standen am Anfang, die Missionskriege der Ersten Welt in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten zuletzt.

„Die Dritte Welt will etwas sein.“ Sie war und ist nur Objekt, von einem eigenen Sein ist sie heute wie vor sieben Jahrzehnten weit weit entfernt. Als Subjekte werden die Staaten nur eingeladen, wenn man etwas von ihnen will, z.B., sich zu Klimazielen zu bekennen oder den Russland-Ukraine-Krieg zu verurteilen.

Der Schlussabsatz in Sauvys Artikel rückt noch einmal die Erste Welt mit ihrer Führungsmacht, den Amerikanern, in den Mittelpunkt. Sauvy bezeichnet die Amerikaner als „Neophyten der Herrschaft und Mystiker des freien Unternehmertums“. Er fragt, ob die Welt Nr. 1 in ihrem „größeren Vorsprung“ und „hellem Licht“ „nicht unempfindlich“ gegenüber „dem wilden Drang zum Leben“ der Dritten Welt sein könnte. Die fragende Haltung, der Konjunktiv und die doppelte Verneinung verraten große Skepsis. Und die sollte sich den folgenden Jahrzehnten bewahrheiten. Die Dritte Welt steht heute da, wo sie vor sieben Jahrzehnten stand.

Mit der Analogie von Dritter Welt und Drittem Stand verband sich bei Sauvy insofern ein unterschwelliger Optimismus, als der Dritte Stand aus den Wirren und Kämpfen nach 1789 als Sieger über das monarchistische System, den Ersten und Zweiten Stand, hervorgegangen war. Zum Zeitpunkt, als Sauvy die Analogie prägte, befand sich die Dritte Welt mitten im Dekolonisierungsprozess, so gesehen passte die Analogie. In zwei großen Wellen, im frühen 19. Jahrhundert der südamerikanische Subkontinent, von den vierziger bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts der afrikanische und der südasiatische Kontinent erreichten die ehemaligen Kolonien ihre staatliche Unabhängigkeit. Geblieben allerdings ist bis in die Gegenwart die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Ersten Welt, den ehemaligen Kolonialherren, die in großen Teilen daraus besteht, dass die Kolonien zu Rohstoff- und Nahrungsmittellieferanten für die Erste Welt degenerierten. Eigenständige industrielle Entwicklungen fanden nur im asiatischen Raum statt.

Im Sinne der Entwicklungspotentiale der Dritten Welt führt Sauvy einen weiteren Aspekt des „Ständekampfes“ auf dem Planeten, den medizinischen Fortschritt, der zu höherer Lebenserwartung, Bevölkerungswachstum und wirtschaftlich am Ende zu höherer Produktivität führt, an. Das Aber folgt indessen auf dem Fuße, wenn es um die Eröffnung einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung geht: „Dennoch ist es verständlich, dass dieses Bevölkerungswachstum mit erheblichen Investitionen einhergehen müsste, um den Behälter an den Inhalt anzupassen.“ Genau das hat aber in den sieben Jahrzehnten seit Sauvys Artikel nicht stattgefunden. Wenn von der Ersten Welt investiert wurde, dann in die Ausbeutung der Rohstoffquellen für eigene Zwecke, nicht in systematische wirtschaftliche Entwicklung. Dabei hätte die es gegeben, z.B. mit dem Desertec-Projekt, das an dummen betriebswirtschaftlichen oder marktwirtschaftlichen Überlegungen gescheitert ist. Heute dämmert es: Desertec hätte ganz Nordafrika eine Perspektive geboten und, wie sich in diesen Tagen zeigt, auch dem europäischen Teil der Ersten Welt.[4]

Bleibt man noch für einen kurzen Moment bei dem Analogieschluss Sauvys zwischen den Weltteilen und der französischen Ständeordnung ließe sich in der Gegenwart fragen, wem der Erste Stand, der Klerus, der die Macht verlieh, und der Zweite Stand, die Aristokratie, die seit der Neuzeit über die politische, militärische und wirtschaftliche Macht verfügte, entspricht. Da die Zweite Welt als solche sich im historischen Nichts aufgelöst hat, bleibt für eine Zuordnung nur noch die Erste Welt. Der „Westen“ allerdings, die Erste Welt, hat nach dem Ende des Kalten Krieges gleich beide Funktionen der alten Ständeordnung übernommen. Als klerikale Macht setzt er seine Predigten in die Reste der Welt ab, mal krakeelen die Wertepriester über Menschenrechte, mal über Freiheit, mal über Demokratie und – sic! – über Marktwirtschaft, die allesamt zum Wertekanon des freien Westens zusammenaddiert werden. Marktwirtschaft als Teil des Wertekanons der freien Welt – wohlgefälliger hätte Hayek es nicht formulieren können. Sie ist nicht mehr Mittel, sondern wird zum Zweck geadelt. Und als politische, militärische und wirtschaftliche Macht kujoniert der Westen die Weltreste, sei es mit militärischen Interventionen, oder traktiert sie mit Freihandelsabkommen, die eigene wirtschaftliche Entwicklungen blockieren, und saugt sie gnadenlos weiter aus, neuerdings über – man glaubt es nicht – Fachkräfteanwerbung, für deren Ausbildung nichts bezahlt wird und die die wirtschaftliche Entwicklung der Dritten Welt hemmen und aufhalten. Auch Ungelernte werden benötigt, als Pflegerinnen in den Altenheimen des Westens.

In einem Appendix zu seinem Artikel spricht Sauvy selbst die verlockende Frage an, in welchem der Weltteile denn der Erste und der Zweite Stand in der französischen Ständeordnung ihre Entsprechung finden könnten. Eher scherzhaft formuliert er, dass die kapitalistische Welt mit dem Adel (reale Macht) und die kommunistische Welt mit dem Klerus (Heilsversprechen) korrespondiere, ohne die Sache weiter zu erläutern.

Ignoranz, Ausbeutung und Verachtung – das gilt heute „nur noch“ für die Restbestandteile der vormals Dritten Welt, Afrika, Vorder- und Mittelasien plus einige im Fernen Osten. Speziell Nordafrika und Vorderasien traf in den beiden ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends die Verachtung umso vernichtender. Sie wurden mit Kriegen seitens der Ersten Welt und ihres Anführers überzogen und um Jahrzehnte zurückgebombt. Zurückblieben sind Failing States, menschliches Elend und perspektivlose Perspektivlosigkeit. Das restliche Afrika zieht sich die ganze Verachtung der Ersten Welt zu und wird von der Ersten Welt nur noch durch gelegentliche, sinnlose militärische Interventionen und als Migrationsproduzent wahrgenommen. Sauvy fragt: „Hören Sie an der Côte d’Azur nicht die Schreie, die uns vom anderen Ende des Mittelmeers, aus Ägypten oder Tunesien, erreichen? Glauben Sie, dass es sich dabei nur um Palastrevolutionen oder das Knurren einiger ehrgeiziger Menschen handelt, die auf der Suche nach einem Platz sind? Nein, nein, der Druck im menschlichen Kessel steigt ständig.“ Schon 1952 waren Schreie von Nordafrika her zu hören, es sollte noch schlimmer kommen. Die Dekolonisierung brachte einen blutigen Abnabelungsprozess, am blutigsten im Algerienkrieg. Heute sind die Schreie nicht mehr nur an der Küste Nordafrikas zu vernehmen, wenn man will und kann – z.B. wenn Bewohner der Ersten Welt mit ihren Segelyachten auf dem Mare Nostrum cruisen –, hört man sie mitten auf dem Mittelmehr, auch an den europäischen Grenzen.

Derweil bewahren die europäischen Tugendwächter, sich der Schwere ihrer Aufgabe bewusst, die Ruhe; sie kümmern sich um die Menschenrechte in anderen, fernen Teilen der Zweiten Welt und sinnieren darüber, wie die ungebetenen Gäste, für die ein absurder Begriff erfunden wurde – „illegale Migranten“ – aus dem Globalen Süden ferngehalten werden können, sie sinnieren über Asylantragszentren in der Dritten Welt, über Zäune und Mauern, über Niederknüppeln an den Grenzen und dulden – als ultima ratio – die aus dem Militärischen bekannte Methode der Abschreckung: Ersaufen lassen im Mittelmeer. Wie formulierte Sauvy vor über sieben Jahrzehnten? „Der Druck im menschlichen Kessel steigt ständig.“ Und er lieferte gleich die Lösung mit, um dem Druck zu begegnen: „erhebliche Investitionen“.

Die Kapitalbewegungen auf dem Markt der Welt folgen den Profitinteressen und haben in den sieben Jahrzehnten seit Sauvys Artikel einzig dazu geführt, Rohstoffvorkommen, Energiequellen und Agrarprodukte zu erschließen, was keinen wesentlichen Unterschied zu den kolonialen Zeiten bedeutete. Erforderlich wäre massive globale Investitionslenkung in den Globalen Süden, Aufbau von Schulen und Universtäten und Fabriken, Krankenhäusern und Infrastruktur und internen Wirtschaftskreisläufen durch Auflage von „Sondervermögen“ und „Dekrete“ für die Konzerne, einen (großen) Teil ihrer Kapitalanlagen dortselbst zu tätigen und nicht immer und immer wieder in ihren eigenen Zentren. Weltweite Investitionslenkung.

3

Die gegenseitige Stabilisierung der Ersten und Zweiten Welt im Kalten Krieg (1947-1990)

Über die Ausführungen zur Dritten Welt hinaus enthält Sauvys Artikel einen Gedanken zu den ersten beiden Welten, der in seiner Reichweite noch anregender und wertvoller ist, gerade auch bezogen auf die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit. Sauvys formuliert: „Der Kapitalismus des Westens und der Kommunismus des Ostens stützen sich gegenseitig. Wenn einer von ihnen verschwände, würde der andere eine beispiellose Krise (Herv.d.Verf.) erleiden.“

Der erste Teil der Aussage hat sich für über vier Jahrzehnte bewahrheitet. Die äußere Gegnerschaft der geopolitischen Systeme im Kalten Krieg führte zu einer Konzentration nach innen. Für beide Seiten, die Erste und Zweite Welt, bedeutete das Aufrüstung im militärischen Bereich mit sich gegenseitig aufschaukelnder Tendenz. Für die Erste Welt hatte die Konzentration auf das Innere im wirtschaftlichen Bereich die Konsequenz, den Kapitalismus zu zügeln und neoliberale, marktradikale Ambitionen zu bremsen. Die Besteuerung war hoch, Staatseigentum weit verbreitet und keynesianische wirtschaftspolitische Interventionen gang und gäbe. Planerisches Denken machte sich breit (Planification in Frankreich, Strukturpolitik in der Bundesrepublik). Im Währungsbereich blieben die Verhältnisse stark reguliert (Bretton-Woods-Ordnung mit festen Wechselkursen), der grenzüberschreitende Kapitalverkehr wurde in engen Bahnen gehalten. Der Ausbau des Sozialstaats wurde sukzessive betrieben, und die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen hatten starke Positionen inne. Im politischen Raum wurden die Ränder, links wie rechts, gezügelt.

Zu der von Sauvy angedeuteten Konvergenz der Ersten und Zweiten Welt ist es bekanntlich nicht gekommen. Die Konvergenztheorie, die insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren einen Aufschwung nahm, besagte, dass die kapitalistischen und die sozialistischen Systeme aufgrund ähnlich gelagerter industriegesellschaftlicher Problemstellungen einander annähern. Die kapitalistischen Systeme seien zunehmend gezwungen, planerische Elemente in ihre Wirtschaftspolitik einzubeziehen, während umgekehrt die sozialistischen Systeme die zentral- planwirtschaftlichen Strukturen in Richtung eines Einbezugs marktwirtschaftlicher Elemente erweitern müssten. Die „Neophyten der Herrschaft und Mystiker des freien Unternehmertums“, um in den Worten Sauvys zu bleiben, trugen dafür Sorge, dass der Systemwettbewerb konserviert und in ihrem Sinne entschieden wurde. Es war aber, wie sich heute zeigt, ein Pyrrhussieg, dazu später.

In der Ersten Welt schien sich sogar ein Interesse breitzumachen, das sich mit der Existenz einer Zweiten Welt abfinden und die neuen Realitäten anerkennen würde. Die Bundesrepublik erkannte nunmehr in der DDR einen eigenen souveränen deutschen Staat an, die in Jalta und Potsdam fixierte Grenze an Oder und Neiße zu Polen wurde akzeptiert, Gebietsansprüche ad acta gelegt. Abkommen mit der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Pakts folgten. Mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) schien eine europäische Friedensordnung gefunden, die eine friedliche Koexistenz zwischen Erster und Zweiter Welt in Europa ermöglichen könnte. Ihren allgemeinen Ausdruck fand die Entspannungspolitik in der vieldeutigen Formel vom „Wandel durch Annäherung“, im Wirtschaftlichen „Wandel durch Handel“. Die Entspannung zwischen Erster und Zweiter Welt hielt aber nur bis zu den frühen achtziger Jahren (NATO-Doppelbeschluss, Stationierung von SS-20-Raketen in Osteuropa). Das Arrangement zwischen Erster und Zweiter Welt erwies sich als ephemere Blüte der siebziger Jahre.

Die dunkle Prognose, die Sauvy den Entwicklungsländern in Aussicht gestellt hatte, schien sich in den sechziger und siebziger Jahren nicht unbedingt zu bewahrheiten. Es kam zwar zu zahlreichen Stellvertreterkriegen und blutigen Kolonialkriegen (Algerien, Rhodesien, Vietnam), die Befreiungskriege verliefen aber im Ergebnis erfolgreich: Ende der siebziger Jahre war die Dekolonisierung praktisch abgeschlossen. Die Industrieländer der Ersten Welt zeigten auch Bereitschaft, auf die Entwicklungsländer zuzugehen. 1970 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution, in der empfohlen wurde, dass in den Haushalten der Industrieländern 0,7 Prozent des BIP für die Entwicklungshilfe vorgesehen werden sollte. Die Empfehlung gilt bis heute. Allerdings wurde sie im folgenden halben Jahrhundert nur von wenigen Ländern erfüllt.[5]

Die Dritte Welt demonstrierte auch durchaus so etwas wie neues Selbstbewusstsein: In den Vereinten Nationen wurde 1974 die Resolution über eine Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO) und eine Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten verabschiedet (Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit, Reparationen der Kolonialmächte, Hoheit über die Bodenschätze, Stabilisierung der Rohstoffpreise, striktere Regeln für transnationale Unternehmen), es kam zu zahlreichen Enteignungen amerikanischer Unternehmen, und die OPEC wurde gegründet, die mit Eingriffen in die Preisbildung auf dem Erdölmarkt in den siebziger Jahren zwei Krisen in der Ersten Welt hervorrief. Die neue Macht war aber nicht von langer Dauer, der deregulierte internationale Kapitalverkehr sollte mit seinen Verlockungen, nicht zuletzt für die Entwicklungsländer, im Folgejahrzehnt die internationalen Kräfteverhältnisse zugunsten der Ersten Welt drehen (Washington Consensus).

4

Die Krise der Ersten Welt nach dem Untergang der Zweiten Welt (1990-2021). Das Interregnum

Eine klare Evidenz liegt auch für den zweiten Teil von Sauvys oben zitierter These, dass bei einem Verschwinden des einen Teils der Systemkonkurrenten der andere in eine „beispiellose Krise“ geriete, vor. 1990 war es tatsächlich so weit gekommen, dass der eine Teil aus der Dreiteilung der Welt, die Zweite Welt, „verschwand“. Die ganze an Ordinalzahlen orientierte Aufteilung der Welt schien zusammengefallen, und es brach, so Beobachter, ein Zeitalter der „Unipolaren Welt“, popkulturell zu „One World“ erhöht, an. Wir bezeichnen dieses Zeitalter als Interregnum (1990-2021), da spätestens mit der russischen Intervention in die Ukraine ein abermaliger Epochenbruch – nur und ausschließlich in Deutschland „Zeitenwende“ genannt – eingetreten ist. Mit Interregnum ist dabei die Herrschaft der ehemals Ersten Welt gemeint, deren Grundpfeiler, Demokratie und Marktwirtschaft, sich durchgesetzt zu haben schienen. Vorweggreifend sei schon erwähnt, dass man in dieser Zeit des Interregnums der Sache mit der einen unipolaren Welt nicht so ganz traute, denn es breiteten sich geographische Begriffe wie der „Westen“ und der „Globale Süden“ aus. Der „Osten“ war ein schwarzes Loch.

Die Krise der Wirtschaftspolitik

Das neue Zeitalter wurde wirtschaftspolitisch bereits in den achtziger Jahren eingeläutet, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits durch eine Neuformierung der Wirtschaftspolitik in der Ersten Welt mit dem Umschalten auf neoliberale Politikmodelle. In den angelsächsischen Ländern kamen mit Ronald Reagan und Margret Thatcher wirtschaftspolitische Marktfundamentalisten an die Macht, die mit ihren Konzepten nicht nur den Rest der Ersten Welt, sondern auch die Dritte Welt auf verhängnisvolle Weise prägen sollten. Anderseits – wie es der Zufall wollte – in der Dritten Welt, deren Wirtschaftspolitik in Südamerika nach kurzschlüssigen äußeren Öffnungen in einen Krisenstrudel geriet, den man mit der im Washington Consensus zusammengefassten Politik aus der Ersten Welt begegnen wollte. Wir beginnen mit dem Washington Consensus.

Ausgehend von der lateinamerikanischen Schuldenkrise formulierte man im Kernland der Ersten Welt, den USA, und den von ihnen dominierten internationalen Organisationen (IWF, Weltbank) den so genannten Washington Consensus. In ihm wurde eine marktradikale Rezeptur für die Dritte Welt zunächst formuliert und dann verordnet: Deregulierung, Privatisierung, Freihandel und radikale Freigabe des Kapitalverkehrs sollten endlich den jahrzehntelangen Stillstand in der Dritten Welt beenden, die Krise eindämmen, Wohlstand schaffen, Armut und Hunger beseitigen.

Die in Washington formulierte Handlungsanleitung sollte in den folgenden Jahrzehnten für einen Teil der Dritten Welt fatale Konsequenzen zeitigen. Die Länder, deren wirtschaftspolitische Eliten sich an die Vorgaben hielten oder halten mussten, insbesondere Südamerika und Teile Afrikas versanken durch die externe Öffnung zu in wirtschaftliches Chaos führende existenzielle Krisen. Sie waren zum Spekulationsobjekt für internationale Kapitalströme, die, mal hier mal da, nach Anlagemöglichkeiten suchten, geworden. Die Länder, die das genaue Gegenteil an Wirtschaftspolitik, verschiedene Staaten in Ostasien – z.T. in der asiatischen Schuldenkrise Ende der neunziger Jahre kuriert – erzielten wirtschaftliche Erfolge, allen voran China und Südkorea. Eine der Folgen war die Differenzierung und Neusortierung dessen, was bis zu diesem Zeitpunkt als Dritte Welt bezeichnet wurde. Ein Teil der Staaten vollzog die Entwicklung hin zu Schwellenländern, ein anderer Teil blieb im Armenhaus der Dritten Welt eingemauert.

Die Umschichtungen im Interregnum waren aber noch nicht zu Ende. Angetrieben durch die trunken machende Euphorie über die Implosion der Zweiten Welt („Ende der Geschichte“) nahm die durch Reaganomics, Thatcherismus und Washington Consensus angetriebene Rallye in den neunziger Jahren erst so richtig Fahrt auf. Das Geheimrezept des Westens – Deregulierung, Privatisierung und Freihandel – verallgemeinerte sich in den N-1-Staaten der Ersten Welt und erhielt ein neues Etikett: Globalisierung. Die überschäumende Kapitalakkumulation der Vorperiode gebar allerlei wundersame Geldvermehrungsmaschinen, so genannte Institutionelle Investoren (Investmentfonds, Hedgefonds, Private Equity etc.). Und, nicht zu vergessen, der Finanzsektor wurde bis an die Wurzeln dereguliert, traditionellen Banken ging es an den Kragen, Schattenbanken entstanden, wuchsen über den traditionellen Sektor hinaus und erfanden ihrerseits neue „Produkte“ (z.B. Verbriefungen). All das hier nur unvollständig und skizzenhaft Aufgezählte waren genuine Produkte aus dem Führungsland der Ersten Welt. Die in einer Parallelwelt stattfindenden Debatten um ein Ende der pax americana, der US-Hegemonie, waren Gespensterdebatten. Europa spielte dabei nicht nur keine Rolle, sondern ließ sich bereitwillig auf den neuen Kapitalismus ein, bis hin dazu, dass man die Axt an seine vorgeblichen Erkennungsmarken legte, die Infrastruktur und den Sozialstaat.

Der im Interregnum so richtig entfesselte Kapitalismus produzierte, kaum dass er sich breit gemacht hatte, aber eine ganze Kaskade von Krisen. Am Anfang standen noch zwei „exterritoriale“ Krisen in Asien und Russland. Es begann mit der Asiatischen Schuldenkrise 1997/98. Der neuen Wirtschaftspolitik folgend hatten sich große Teile Südostasiens den internationalen Finanzmärkten geöffnet und wurden Objekt spekulativer Kapitalbewegungen. Die Krise begann in Thailand, griff auf andere Staaten über, u.a. Südkorea und Indonesien, führte zu Währungskrisen, Zusammenbrüchen von Finanzinstitutionen und sozialen Verwerfungen. Der IWF sorgte im Sinne des Washington Consensus für Ordnung.

Es folgte die Russland-Krise von 1998/99. Was der Übergang von der Zweiten Welt in die Erste Welt der entfesselten internationalen Finanzmärkte bedeutete, konnte Russland in der Endphase der Jelzin-Ära erfahren. Das Land beherzigte unter Boris Jelzin die Empfehlungen aus dem Washington-Consensus und vollzog eine Radikalprivatisierung, die eine der übelsten Varianten des Kapitalismus, den Oligarchen-Kapitalismus, hervorbrachte. Die Übernahme des westlichen Vorbilds traf auf ein völlig unvorbereitetes internes Wirtschaftssystem, das durch wilde Spekulationen intern zusammenbrach. Es folgten Börsen- und Währungskrisen – und Abhängigkeiten von IWF-Krediten.

Die in der neuen Wirtschaftspolitik der Ersten Welt beherbergten Krisenpotentiale fraßen sich dann aber doch noch im eigenen Haus ein – und brachten es an den Rand eines Zusammenbruchs. Es begann mit der so genannten Dotcom-Krise im Jahr 2000, als überzogene Spekulationen in IT-Unternehmen zu massiven Börseneinbrüchen in der Ersten Welt führten. Die folgende Wirtschaftskrise nahm aber noch einen glimpflichen Verlauf, so dass man diesseits und jenseits des Atlantiks keinerlei Ansporn hatte, die neoliberale Rezeptur kritisch zu überdenken. Im Gegenteil. Der Finanzkapitalismus US-amerikanischer Art trieb im Mutterland absurde neue Wirtschaftskreisläufe hervor und breitete sich unter großem Beifall auch in Europa aus. Europa begann im Casino mitzuspielen.

Der große Knall innerhalb der Ersten Welt, jetzt „Westen“, kam mit der Globalen Finanzkrise von 2007/08. Die immanente Stabilität der Finanzmärkte erwies sich als billiges Ammenmärchen. Gleich einem Kartenhaus krachten die Finanzmärkte im September 2008 schlagartig in sich zusammen, und es bedurfte massiver Interventionen der Staaten und ihrer Zentralbanken, in den USA und in Europa, um das System am Leben zu erhalten. Die Europäer waren so dumm, mit ihrer auf deutschen Rat erfolgenden Austeritätspolitik gleich noch eine Sekundärkrise herbeizuführen, die aber durch die Zentralbank gezügelt werden konnte. Die mühselig anlaufende Konjunktur endete dann am Ende des zweiten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend, überlagert durch die Pandemiekrise (2020-22), die erstmals vor Augen führte, wie verletzlich die einst gefeierte Globalisierung sein konnte. Sie wurde plötzlich hinterfragt, was aber nur ein Hinterfragen an der Oberfläche war, tatsächlich verbargen sich dahinter gewaltige tektonische Verschiebungen innerhalb der drei Welten.

Die Marktwirtschaft– mittlerweile upgegradet zum heiligen Zweck –, erwies sich in den drei großen Krisen der jüngeren Vergangenheit als höchst instabile Veranstaltung und bedurfte massiver staatswirtschaftlicher Stützungsmaßnahmen, um halbwegs über die Runden zu kommen, was ihre „Mystiker“ (Sauvy) freilich nicht davon abhält, die Gesänge von der Überlegenheit der Marktwirtschaft weiter anzustimmen, nicht mehr als Ganze, sondern mehr mit ihrem Instrumentarium.

Und die Dritte Welt, für die jetzt kein Name mehr da war? China und einige ostasiatische Staaten waren während der Globalisierung zu ernsthaften wirtschaftlichen Konkurrenten – ein Kollateralschaden der Globalisierung – herangewachsen. Der noch verbliebene Rest wurde zusätzlich zu seinem ohnehin bestehenden wirtschaftlichen und menschlichen Elend mit einer Serie von Erziehungs- und Missionskriegen überzogen. Es schien, als wolle der Westen sein marktwirtschaftliches Scheitern wenigsten durch die edle kriegerische Mission der Demokratisierung in der Dritten Welt retten.

Die Dritte Welt steckte v.a. in einer grundlegend veränderten Konstellation im Weltgefüge, was auf eine enorme Schwächung hinauslief. Um sie musste nicht mehr geworben werden wie im Kalten Krieg, als Erste und Zweite Welt mit ihren jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsvorstellungen um ihre Sympathien buhlen mussten. Jetzt, im Interregnum, galt nur noch der Washington Consensus mit den marktwirtschaftlichen Vorstellungen von IWF und Weltbank. Entwicklungsprojekte mussten sich betriebswirtschaftlich „lohnen“.

Die Demokratie-Krise

Auch der zweite Markenkern des Westens, die Demokratie, war während des Interregnums in tiefe Erschütterungen und Krisenprozesse geraten. Die sozialistischen Staaten der Zweiten Welt, die vielleicht zu Sauvys Zeiten und in den fünfziger und sechziger Jahren mit ihren Versprechungen eine potentielle Alternative darstellen konnten, erwiesen sich als reformunfähig und ordneten denkbare innere Reformen geopolitischen Erwägungen des Machterhalts rigoros, teils auch brutal unter. Am Ende des Kalten Krieges war das äußere Widerlager für die westliche Demokratie vollständig verschwunden und innere widerstreitende Interessen und Kräfte konnten sich frei entfalten.

Es begann damit, dass in den neunziger Jahren das jahrzehntealte Parteiensystem in heftige Unwetter geriet. In den USA setzte der Ideologisierungs- und Radikalisierungsprozess bei den Republikanern ein (Newt Gingrich, Neokonservativismus, später die Tea-Party-Bewegung). In Europa erodierten staatstragende Parteien, über Jahrzehnte die Regierungen stellend, auf der Rechten und der Linken in atemberaubendem Tempo. Die bei Wahlen eingefahrenen Ergebnisse schmälerten sich, v.a. konservative Parteien wurden bedeutungslos oder lösten sich ganz auf und wurden durch Bewegungen ersetzt. Die kommunistischen Parteien verschwanden noch schneller von der Bildfläche. Das Ende des sozialdemokratischen Zeitalter wurde ausgerufen. Rechtsradikale und nationalistische Bewegungen und Parteien wurden in die Parlamente gespült. Die Parteiensysteme diversifizierten sich. – All diese Phänomen ließen sich darauf zurückführen, dass der Antikommunismus mit dem Untergang der Zweiten Welt als äußere Sinnstiftung und Referenzgröße verloren gegangen war und innere Findungs- und Suchprozesse einsetzten.

Vorläufige Höhepunkte wurden in den beiden angelsächsischen Mutterländern der Demokratie und des Westens Mitte der Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts erreicht, als die neue Paria die Zinnen der Macht erklomm. In den USA kam Donald Trump 2016 an die Macht, getragen von einem „Bündnis“ zwischen ultraradikalen Ideologen (Tea Party) und Abgehängten aus dem Rust Belt, dem Kollateralschaden der in der Globalisierung. Die für USA-Mystiker ungeheuerliche Frage kam auf, ob es überhaupt möglich sein kann, dass in den USA ein Faschismus entstehen kann.[6] In Großbritannien kam es in einem demokratischen Prozess zu Aufwallungen gegen die EU, was schließlich zum Brexit und in der Folge zu abenteuerlichen Schlingerungen im politischen System führte.

In der Werteunion Europa blühten so gut wie in jedem Land rechte Strömungen und Parteien auf. Ganz offiziell sitzen mittlerweile Faschisten in Regierungen oder unterstützen die etwas harmloseren Brüder und Schwestern im Geiste dortselbst. Und die nächsten großen Länder, Frankreich und Spanien, sind nur noch einen Schritt weit davon entfernt. Es scheint bloß noch eine Frage der Zeit, bis die Werteunion Europa mehrheitlich von rechtsextremen, halbfaschistischen, faschistoiden Staaten getragen wird. Je lauter die Rechtsradikalisierung Europas voranschritt, desto schriller ertönten die Werteorientierung der EU.

Schließlich Osteuropa. Die Satelliten der kollabierten Sowjetunion hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich unter die schützenden Dächer von NATO und EU zu begeben. Als halbfaschistische, korrupte und alimentierte Staaten fristen sie dort ihr Dasein, werden aber als Scharfmacher immer lauter, selbstbewusster – und unangenehmer. Willfährig und gehorsamsvorauseilend haben sie den Lügen- und Angriffskrieg der USA auf den Irak mitgemacht, ohne je – wie ihr Anführer, der US-Präsident George W. Bush und sein Pudel Tony Blair – zur Verantwortung vor einem internationalen Strafgerichtshof gezogen worden zu sein; in Belgien wurde eine Klage gegen Bush und Blair wegen Kriegsverbrechen, bezogen auf den Afghanistan- und Irakkrieg eingereicht, wegen diplomatischer Verstimmungen mit den USA aber in die Heimatländer weitergereicht. Der halbe Sichelmond der muslimischen Welt, ein Bestandteil der alten und neuen Dritten Welt, wurde in Elend und Chaos gestürzt. Kaum beachtet wird, dass in den osteuropäischen Staaten die gesamte „westliche“ Geschichtsschreibung in Frage gestellt wird. Roosevelt kann nicht verziehen werden, dass er sich Ende der dreißiger Jahre für den falschen Gegner im Zweiten Weltkrieg entschieden hatte,[7] und auch nicht Churchill, der 1946 in seiner Züricher Europa-Rede noch die neue Weltordnung gemeinsam mit der Sowjetunion aufbauen wollte.

Der latente osteuropäische Rassismus, nichts anderes ist die Weigerung, Flüchtlinge aus der alten und neuen Dritten Welt aufzunehmen, spritzt nicht parteipolitisch auf wie in Westeuropa, er ist struktureller Natur. Die Werteeuropäer im alten westlichen Europa händeln ihn mit großer Nachsicht und Verständnis. Gegen die rechtsstaatlichen Systemprobleme in Polen und Ungarn geht man vehement vor, verhängt Sanktionen und hält finanzielle Transfers zurück, was grundsätzlich auch in der Flüchtlingsfrage möglich gewesen wäre. In dieser Frage sitzt den Werteeuropäern aber die eigene Bevölkerung im Nacken, was zu verstehenden Reaktionen in der Migrations- und Asylrechtsfrage führt. Rechtsstaatsprobleme sind eben etwas anderes als humanitäre Probleme, je abstrakter die Probleme, desto entschiedener das Agieren. Umgekehrt umgekehrt. Für die Zukunft darf man schon gespannt der Zeit entgegensehen, wenn die dereinst unter dem NATO- und EU-Dach konsolidierte Ukraine, die weiß, warum sie Stefan Bandera zum Nationalhelden stilisiert hat – unzählige Straßen sind nach ihm benannt, unzählige Denkmäler von ihm kann man besichtigen und auf Briefen in der Ukraine prangt sein Konterfei –, die ganz dunklen und weniger dunklen Gäste aus der Dritten Welt begrüßen wird. – Der Westen hatte sich vor dem Zweiten Weltkrieg eben den falschen Gegner auserwählt.

Um sich einen Reim auf seine Demokratieprobleme zu machen, erfanden die Ideologen des Westens einen Begriff und ein Konzept. Mit dem Begriff „Populismus“ wurde ein Teil der am demokratischen Prozess Teilnehmenden für unmündig und nicht reif für die Demokratie erklärt, weil einfachen Problemlösungen anhängend. Mit dem Konzept verhielt es sich etwas komplizierter. Man schwankte zwischen Ausgrenzung – Demokratie nur für Demokraten, das altgriechische Konzept – und Partizipation. Mittlerweile scheint sich die Richtung auf Partizipation einzupendeln. Das Aufkommen des Populismus, der eigentlich nur eine euphemistische Umschreibung für eine Art gesäuberten Faschismus darstellt, führte zu allerlei grotesken Phänomen. Da, wo der Populismus demokratisch an die Macht gelangt war (USA, Großbritannien), war man im Ausland verstört und rieb sich die Augen. Im Werteeuropa war besonders Groteskes zu beobachten. Man rieb sich nicht mehr die Augen, siehe Italien. Dafür schickte man seine Diplomaten in alle möglichen Teile der neuen Zweiten und Dritten Welt und ließ dort Menschenrechts- und Demokratieprobleme anprangern, während man zu Hause, im Werteeuropa, nicht einmal in der Lage war, die eigenen populistischen Regierungen in die Schranken zu verweisen.

Die vormals Dritte Welt, jetzt Globaler Süden, war nicht so ganz schuldlos an den Kalamitäten des Westens mit der Demokratie. Der „Druck im Kessel“ war gestiegen, das sorgfältig austarierte Gleichgewicht zwischen „Explosion“ und „Unruhe“ (Sauvy) geriet außer Kontrolle, und einige, die ihre Hoffnung auf „etwas zu sein“ aufgegeben hatten und nur noch etwas haben wollten, klopften an den Türen der Ersten Welt, in den USA, in Europa und baten um Einlass. Der Westen, der sie längst vergessen hatte, nahm die Dritte Welt jetzt als lästigen Produzenten von Migration wahr. Dass er selbst es war, der sie mit Kriegen überzogen hatte und der sinnvolle Investitionen in den Jahrzehnten (Sauvy) zuvor sträflich vernachlässigte, kam seinen Akteuren nicht in den Sinn.

So oder so ähnlich präsentierten sich die unipolare Welt oder One World mit ihren Markenkernen Marktwirtschaft und Demokratie am Ende des Interregnums. Dann kam die russische Intervention in die Ukraine, 2022 – und alles wurde noch komplizierter. Die Widersprüche und Verzweiflungen sind gar nicht mehr überschaubar. Nur drei davon: Mit Gänsehaut blicken die Beobachter des Westens in die USA, das Führungsland des Westens, und fragen sich, was passiert, wenn erneut ein Populist aus der Demokratie siegreich hervorgeht. Mit Hoffnungsfreude, aber auch mit Angst blickt man nach Asien und erkennt dort China, die Hoffnungsfreude bezieht sich auf das Reich der Mitte, eine Diktatur, als Zuchtmeister Russlands und Vermittler in einem Friedensprozess für den Ukraine-Konflikt der Zukunft. Die Angst, das Sträuben der Nackenhaare, kommt auf, wenn man sich China als den USA ebenbürtige Großmacht imaginiert.

Für die neue Dritte Welt entwirft das Werteeuropa blaugestrichene Lager in Nordafrika und Vorderasien, in denen den Verzweifelten Fibeln über Werte überreicht, Rechtsstaatlichkeit („legale Migration“) gelehrt und Trost in ihren Herkunftsländern oder sonst wo vermittelt wird. Fast könnte man auf den verwegenen Gedanken kommen, dass die russische „Spezialoperation“ gerade zur rechten Zeit kam, verwischen sich doch alle Konturen und Konflikte in der Sackgasse, wenn die Nebelkerzen einmal entbrannt sind.

5

Die Neuformierung der drei Welten

Nicht erst seit Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges registrieren die Beobachter des Weltgeschehens, dass in ihrem Beobachtungsgegenstand zahlreiche Bewegungen in Gang gekommen sind, die nicht ohne weiteres zu entschlüsseln sind. Eine neue Unübersichtlichkeit hat sich breitgemacht, die Welt lässt sich politisch und ökonomisch nicht mehr so einfach kartographieren. Im Spiegel (Nr. 21, 2023) wird von einem „globalen Dschungel“ gesprochen, was die Sache allerdings unnötig verdunkelt. Klar scheint, dass nach dem krisenhaften Ende des Interregnums eine neue Weltordnung im Begriff ist zu entstehen, welche Gestalt diese neue Weltordnung annehmen wird, versteckt sich einstweilen noch im Nebel des Futur. Der vorliegende Text vertritt die These, dass auch in dieser Hinsicht Sauvys Artikel von 1952 für eine Orientierung hilfreich sein kann. Konkret lautet die These, dass es, ähnlich wie zu Beginn der fünfziger Jahre, eine neue Dreiteilung der Welt in Erste, Zweite und Dritte Welt vorgeht, die in der Zukunft das globale Entwicklungsgeschehen bestimmen wird.

Die Einteilung der Welt ist zunächst nicht mehr als eine Art Taxonomie oder Klassifikation von Ländern nach ihrem wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand, so wie es etwa die geographische Einteilung in Erdteile gibt. Sieben Jahrzehnte nach Sauvys Artikel gibt es weiterhin Industrieländer, Schwellenländer, Entwicklungsländer, auch Hunger- und Elendsländer, die nicht einmal den Ansatz von Entwicklung am Horizont haben. Die alte Dreiteilung der Welt wurde überlagert von dem politisch-ideologischen Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus, was für die neue Dreiteilung so nicht mehr zutrifft, wir kommen darauf zurück. Aus der starren Taxonomie bzw. Klassifikation ergeben sich aber Dynamiken, im Wesentlichen zwei, einerseits der Kampf der Systeme 1 und 2 untereinander und andererseits das Konkurrieren und Ringen um die Nr. 3, die als einzige Objekt in dem globalen Spiel ist, ganz wie zu Sauvys Zeiten.

Die Teilung der Welt stellt keinen analytischen Rahmen dar, sie bietet aber Möglichkeiten für Orientierung. Ihre einzelnen Teile sind alles andere als präzise definiert, weder ökonomisch noch politisch. Welche Länder zur Ersten Welt gehören macht „definitorisch“ noch keine größeren Schwierigkeiten, Marktwirtschaft und Demokratie werden ihnen gemeinhin als Merkmale zugeschrieben. Die Größe „Industrieland“ ist wie oben bereits angedeutet, eher verwirrend. Bei der Zweiten Welt wird die Sache schwieriger. Es gibt zahlreiche Eingrenzungs- und Zuordnungsversuche für den Begriff „Schwellenländer“, die zahlenmäßig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dritte Welt bleibt eher eine Residualgröße.

Das Verhältnis untereinander ist nicht per se auf Widerstreit oder Gegnerschaft angelegt. Es leiten sich aus der Begrifflichkeit auch keine „natürlichen“ Bündnissysteme ab. Fakt aber ist, dass die Erste Welt relativ hochgradig organisiert und vernetzt ist (NATO, EU, G-7), während die Zweite und Dritte Welt noch über wenige verdichtete Organisationsformen verfügen bzw. nur solche, die im globalen Geschehen lediglich eine geringe Rolle spielen (Mercosur, OAU, ASEAN). Solange aber kapitalistischer oder marktwirtschaftlicher Wettbewerb auf dem Weltmarkt besteht, gibt es eine Tendenz zum Widerstreit. Über ein Forum der Kooperation verfügen die drei Welten dann doch, die Vereinten Nationen, die aber weder mit (supranationaler) Macht ausgestattet sind, noch eine Gemeinschaft der Gleichen sind. Die vorausgesetzte Teilung der Welt verhindert das.

Die neue Teilung der Welt nach dem Interregnum unterscheidet sich von jener zu Sauvys Zeiten 1.) dadurch, dass sich die ideologische Komponente verschoben hat, nicht mehr Kapitalismus und Sozialismus stehen einander gegenüber, sondern Demokratie und Diktatur/Autoritarismus, 2.) dadurch, dass einige Länder bzw. Regionen Aufstiegsprozesse vollzogen haben und 3.) dadurch, dass die alte Dritte Welt sich einerseits um einige asiatische und ostasiatische Länder verkleinert hat und andererseits Länder hervorgebracht hat, die als Vierte Welt bezeichnet werden können.

Die neue Erste Welt

Die Erste Welt, heute also der „Westen“ genannt, konnte – sofern sie sich noch einen Rest von kritischem Geist bewahrt hat – mit gewissen Erkenntnissen aus dem Interregnum hervorgegangen sein. Die beiden Haupterkenntnisse: Demokratie und Marktwirtschaft sind in sich höchst instabile, sehr verletzliche Systeme, vulnerabel eben. Der Stabilitätsanker oder das Widerlager der Systemkonkurrenz ist ihm, dem Westen, in der Zeit des Interregnums verloren gegangen, so dass sich Türen und Tore für allerlei Experimente öffneten. Das betrifft vor allem anderen die von den USA ausgehende Weiterentwicklung des Kapitalismus zum Finanzkapitalismus und zum Monopolkapitalismus der High-Tech-Konzerne. Ebenso wenig wie die drei Teile der Welt eine Weltgemeinschaft darstellen, stellt der „Westen“ eine Gemeinschaft dar, es handelt sich um eine hierarchisch strukturierte Gruppe von Staaten, wenngleich mit flachen Hierarchieebenen.

Die USA

Der Kalte Krieg des vergangenen Jahrhunderts wurde durch die USA mit dem Übergang von Roosevelt zu Harry Truman, der einen radikalen Kurswechsel in der Außenpolitik vornahm, initiiert. Aus der Perspektive der heutigen Osteuropäer wurde damit Roosevelts Fehler vom Ende der dreißiger Jahre korrigiert. Ähnlich ist es heute. Die USA kommen selbst in ihren schlimmsten Alpträumen – Isolationismus hin oder her – nicht auf die Idee, ihre Hegemonialrolle in der Ersten Welt und der ganzen Welt aufzugeben. Der vermeintliche „Sieg“ im Kalten Krieg hat sie darin nur noch bestärkt. Gegenwärtig geht es den USA machtpolitisch primär darum, 1.) den Nachfolgestaat der SU, Russland, definitiv auf den Status einer Regionalmacht (Barack Obama) zurückzuzwingen, der Krieg in der Ukraine ist dazu Mittel zum Zweck, und 2.) darum, den neuen weltpolitischen Rivalen, China, einzudämmen, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch. Systemgegnerschaft bzw. systemischer Rivale lauten die Begriffe dafür. Noch fehlt der Mut dazu, es offensiver zu formulieren.

Wenn oben angedeutet wurde, dass die Erste Welt keine Gemeinschaft zwischen Gleichen darstellt, bedeutet das konkret: Sie ist eine Staatengruppe mit einer Hegemonialmacht an der Spitze und Vasallen und Hintersassen in den nachgeordneten Positionen. Militärisch ist das seit eh und je offensichtlich (NATO), wirtschaftspolitisch verdeckt durch den Systemeinfluss des amerikanischen Kapitalismus (Finanzkapital und Technologiekapital).

Im Jahr 2015 skizzierte der ehemalige US-Botschafter in Indien und Diplomat Robert Blackwill, einer der wichtigen außenpolitischen Experten der USA, die „Grand Strategy“ der USA mit außergewöhnlicher Klarheit. Er schrieb: „Seit ihrer Gründung haben die Vereinigten Staaten konsequent eine große Strategie verfolgt, die sich auf den Erwerb und die Aufrechterhaltung der Vormachtstellung gegenüber verschiedenen Konkurrenten konzentrierte, zunächst auf dem nordamerikanischen Kontinent, dann in der westlichen Hemisphäre und schließlich weltweit“. Blackwill argumentiert, dass „die Erhaltung der Vorrangstellung der USA im globalen System das zentrale Ziel der USA im einundzwanzigsten Jahrhundert bleiben sollte“.[8]

Das geopolitische Macht- und Expansionsstreben der USA zeigte sich in der Zeit des Interregnums an der NATO-Osterweiterung. Nachdem man 1990 für einen Moment vergesslich war und die Bündnisfrage Deutschlands Verhandlungsgegenstand bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen wurde, eine Erweiterung des Militärbündnisses faktisch ausgeschlossen wurde,[9] in der Öffentlichkeit sogar über die Frage einer Mitgliedschaft Russlands in der NATO befunden wurde, fand man in der Zeit der Clinton-Regierung schnell zurück zur eigentlichen Mission. Nach und nach wurde das Militärbündnis des Westens bis an die Grenzen Russlands erweitert. Später zettelte man ohne jede Hemmung in einem großen Teil der Dritten Welt Missionskriege an – mit verheerenden Ergebnissen.

Derweil zerriss es die „exzeptionelle Nation“ im Innern. Die Gegensätze von Arm und Reich erreichten kaum vorstellbare Ausmaße. Die beiden politischen Lager gruben sich in Schützengräben ein, die das demokratische System in bis dato unbekannte Gefahren brachte. Im Schatten davon konnte sich der neue Kapitalismus frei entfalten: Seine beiden Hauptvertreter, das Finanzkapital und die High-Tech-Monopole stiegen im Innern auf, erlangten Machtpositionen, die sie in die Nähe der Regierungsgeschäfte brachten, mitunter übernahmen sie sie auch. Im Ausland werden sie mittlerweile auf Regierungsebene als Gesprächs- und Verhandlungspartner empfangen, mit denen auf Augenhöhe über Zukünftiges debattiert wird. Es lässt sich erahnen, was für ein Typ von Kapitalismus hier hervorwächst.

Mit dem Antritt der Trump-Regierung geriet der „Westen“, was im Kern die NATO ist, sogar in systembedrohliche Regionen. Trump erklärte die Nato für „obsolet“. Der Übergang zur Biden-Regierung und der Russland-Ukraine-Krieg schweißte das Bündnis noch einmal zusammen. Aber welchem Führer hat sich der Rest des Westens, also Europa, ergeben? Der Führer des Westens, die USA, präsentierte sich am Ende des Interregnums als ein Staat, der nicht einmal die Beitrittskriterien für eine Mitgliedschaft in der Europäische Union erfüllen würde (Klaus von Dohnanyi in seinem letzten Buch), nicht von seinem Rechtssystem her, seinem Wirtschaftssystem her und nicht seinem Politischen System her und schon gar nicht seinem Sozialsystem her. Gleichwohl ordnet man sich in Europa dem US-amerikanischen Exzeptionalismus bedenkenlos unter.[10]

Europa

Die EU ist von „strategischer Autonomie“ weiter entfernt denn je. Der Anspruch, eine „geopolitische Kommission“ (Ursula von der Leyen bei ihrem Amtsantritt 2019) anführen zu wollen, meint bestenfalls Geopolitik im Schlepptau der USA. Im Kreis der Staaten der Ersten Welt hat sich die EU spätestens oder erneut, je nach Perspektive, in die Position des Vasallen oder Hintersassen begeben, auch das je nach Perspektive, eingereiht. Um den Jahreswechsel 2021/22 haben es Emmanuel Macron und Olaf Scholz, anders als Nicolas Sarkozy und Angela Merkel 2008, versäumt, die hochgejazzte Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eindeutig und nicht in windelweichen saloppen Statements zu beantworten.[11] Stattdessen hat man die dümmlichste aller Parolen aus dem Handbuch der Geopolitik – jedes Land definiert seine eigene Bündniszugehörigkeit – nachgeplappert. „Einflusssphären“ gehörten nicht mehr in die moderne internationale Welt, so als definierte nicht der Herr der westlichen Welt seine ganze Außenpolitik seit eh und je über Einflusssphären, vom Pazifik über Europa bis in den Nahen, Mittleren und Fernen Osten, mit Schwerpunkt seit einiger Zeit im Pazifik. Allein um die Dritte Welt in Afrika bemüht man sich nicht – zu unwichtig.

Dass der „europäische Pfeiler in der NATO“ am Vorabend des Russland-Ukraine-Krieges überrannt wurde, liegt nicht nur daran, dass das „atlantische“ Großbritannien nicht mehr Teil der EU ist, es liegt auch daran, dass die neue Verwandtschaft der EU, die man sich in der Zeit des Interregnums zugelegt hatte, die Hintersassen der USA aus Osteuropa, mächtig gewühlt haben und als Vorbild („neues Europa“, eher vom Mars kommend, so Donald Rumsfeld zu Zeiten des beginnenden Irak-Kriegs) dienten. Die gute Mutter EU lässt sich von diesen zwielichtigen Staaten ein ums andere Mal an der Nase herumführen. Zur Wiederholung: Anlässlich des Irak-Kriegs hatten sie es nicht eilig genug, ihre Hintersassenschaft unter Beweis zu stellen und sich der Lügen-Kriegs-Propaganda der USA anzuschließen. Nur die geographischen Gegebenheiten hindern sie am Beitritt zu den Vereinigten Staaten von Amerika.

Die gesamte osteuropäische Staatenwelt, einschließlich der jugoslawischen Nachfolge-Staaten, besteht aus einer Ansammlung aus korrupten, rechtsextremen bis halb-faschistischen, jedenfalls nationalistischen Gebilden, die am Subventionstropf des (west)europäischen Umverteilungssystems hängen und aus der europäischen Zentrale mit kaum verständlicher Nachsicht behandelt werden.

Die neue Zweite Welt

Die neue Zweite Weltist in politischer Hinsicht erheblich heterogener als die alte Zweite Welt. Das Band der alten Zweiten Welt war die sozialistische Ideologie bzw. das Machterhaltungsinteresse der SU. Für die neue Zweite Welt existiert ein solches Band nicht mehr, und es ist auch eine analoge Führungsmacht nicht absehbar. Nimmt man die führenden Staaten der neuen Zweiten Welt, die im BRICS-Format zusammengeschlossenen Staaten, finden sich, in der Buchstabenreihenfolge des Akronyms, eine mehr oder weniger brüchige Demokratie (Brasilien), ein oligarchen-kapitalistisches autoritäres System (Russland), eine schein-demokratische Demokratie (Indien), eine kommunistische Diktatur (China) und eine vergangenheits-geprägte Demokratie (Südafrika). Nebenbei: drei Atommächte finden sich darunter, alle Staaten mit m.o.w. regulierten Marktwirtschaften. Südafrika und Brasilien stellen die jeweiligen Brückenköpfe zu ihren Kontinenten dar. Was die BRICS-Staaten eint, ist ihr Charakter als Schwellenländer, was der Sache nach auch schon für die alte Zweite Welt galt. In der Retrospektive erscheint es daher fast so, als sei die ideologische Überformung des Konflikts im Kalten Krieg zwischen Kapitalismus/Demokratie und Sozialismus eher Camouflage gewesen für einen eigentlich bestimmenden wirtschaftlichen Konflikt um Ressourcen, Vorteile im Staatenwettbewerb und Entwicklungspotentiale, auch um politische Mitsprache. Die Zukunft jedenfalls wird weniger von ideologisch-politischen Gegensätzen geprägt sein, obwohl die Anführer und Ideologen der Ersten Welt die Sache darauf reduzieren werden, wir kommen darauf zurück.

Um das BRICS-Format herum zeigen sich bemerkenswerte Vorgänge. Es gibt zahlreiche Anträge auf „Mitgliedschaft“, über die auf der nächsten Tagung im August 2023 in Südafrika entschieden werden soll. Staaten aus dem BRICS-Format treten als Vermittler zwischen ehemaligen Erzfeinden wie Iran und Saudi-Arabien auf (China). Ein anderer Staat, Russland, agiert als „Befrieder“, „Stabilisator“ und „Tatortreiniger“ auf den vom Westen hinterlassenen Schlachtfeldern der Missionskriege auf (Syrien). In der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) kommen seit 2001 neun asiatische Staaten (inkl. Russland) zusammen, die sich mit Fragen der Sicherheitspolitik, Wirtschafts- und Handelsfragen sowie der Stabilität der Region beschäftigen. Im Russland-Ukraine-Krieg definieren sich die übrigen vier BRICS-Staaten als neutral, wie übrigens auch das NATO-Mitglied Türkei und das EU-Mitglied Ungarn. Sie beteiligen sich nicht am Sanktionsregime des Westens. Mit am argwöhnischsten und aufmerksamsten beobachtet der Westen das chinesische Projekt der Seidenstraße, im Rahmen dessen gigantische Investitionen im euro-asiatischen und afrikanischen Raum, nicht nur zur Erschließung von Handelswegen, stattfinden. Es sind die Investitionen, die der glorreiche Westen jahrzehntelang hat vermissen lassen (Sauvy). Und, vielleicht am bemerkenswertesten: alte Feindschaften – zwischen Russland und China, zwischen China und Indien – stehen der Verständigung im BRICS-Format nicht im Wege.

Noch gibt es keine dichteren Bündnisstrukturen in der neuen Zweiten Welt, und es kann durchaus bezweifelt werden, dass es je dazu kommen wird. Bei dem BRICS-Format handelt es sich um einen Club, der nicht einmal über eine feste Organisationsstruktur verfügt. Der Westen beruhigt sich damit, dass es noch eine Reihe von anderen Formaten gibt, die eine neue schärfere Teilung der Welt verhindern. Man trifft sich auf Klimakonferenzen, sieht und begrüßt sich im G-20-Format, schließt sich in regionalen Formaten (QUAD) zusammen. Und, v.a., man hofiert die Zweite Welt, lädt sie zu G-7-Gipfeln ein, auf denen man sie heftig umwirbt. Alles ganz abgesehen von den unzähligen diplomatischen Reiseveranstaltungen, die alle ein Ziel haben: einen Keil in die sich formierende neue Zweite Welt zu treiben. Die Angst des Westens vor einer sich neuformierenden Zweiten Welt ist allemal berechtigt. Im Unterschied zur alten Zweiten Welt ist die neue Zweite Welt ganz erheblich größer, sowohl von der Bevölkerung her als auch von der Zahl der Staaten her – geopolitisch keine unerheblichen Fakten –, sie ist aber prima facie wirtschaftlich um ein Vielfaches stärker und dynamischer als ihr Vorgänger. In ihrem Aufbegehren, ihrer politischen und ideologischen Gegnerschaft gegen den Westen und die USA ist sie der eigentliche „Dritte Stand“, der dem Ersten und Zweiten Stand, die im Westen zusammengeflossen sind, einen ganz gehörigen Schrecken in die Glieder jagt.

Die neue Dritte Welt

Wie hieß es in Sauvys Schlusssatz? „Die Dritte Welt wird ignoriert, ausgebeutet und verachtet.“ Dem ist für die heutige Dritte Welt nicht viel hinzuzufügen. Nur Kleinigkeiten: Die Dritte Welt ist kleiner geworden, eine ganze Reihe von Staaten sind in die Zweite Liga aufgestiegen, was nichts mit der Globalisierung zu tun hatte, sondern mit der Tatsache, dass sie sich nicht an die Empfehlungen des Westens, den Washington-Consensus, gehalten haben. Für den verbliebenen Rest – im Wesentlichen Afrika und der Vordere und Mittlere Orient plus einigen östlichen Anrainern Indiens – gelten im Vergleich zu Sauvys Diktum auch nur Kleinigkeiten: Ein Teil von ihnen wurde mit Kriegen überzogen und für eine halbe Ewigkeit in den Zustand der Unterentwicklung eingeäschert, alle zusammen werden in den Klimakonferenzen über die Konferenztische gezogen und mit „kostengünstigen“ Angeboten abgespeist. Sie hat keine Perspektive, der „hell erleuchtete Westen“ (Sauvy) lässt sie darben. Und die Ersatzinvestitionsagentur, China, führt nur Böses im Schilde. Eigentlich könnte die Dritte Welt wieder der Vergessenheit übergeben werden – wäre da nicht das lästige Migrationsproblem, die Schreie, die man an der Côte d’Azur aus Nordafrika vernimmt.

Zwischen den neuen Weltteilen

In der Öffentlichkeit der Ersten Welt wird mit großem Eifer die Grenzziehung zwischen ihr und der neuen Zweiten Welt politisch an dem Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur/Autoritarismus festgemacht, ökonomisch an der etwas veralteten Unterscheidung zwischen Industrieländern – die sie längst nicht mehr sind – einerseits und Schwellenländern andererseits, die die eigentlichen neuen Industrieländer sind, das wäre die stoffliche Zuordnung. Die alte Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft hat sich im Grunde genommen erledigt, auf beiden Seiten verzeichnet man die Tendenz zu unterschiedlich stark regulierten Wirtschaften (mit ebenso unterschiedlichen sozialen Systemen). Historisch einigermaßen neu sind der Oligarchenkapitalismus in Osteuropa (keineswegs auf Russland beschränkt, die EU hat unter ihrem östlichen Dach ähnliche Erscheinungen, worüber allerdings wenig geschrieben und geredet wird). Eine besondere Ausprägung des Kapitalismus weist auch China auf. Und schließlich der moderne Kapitalismus in den USA mit seinen dynamischen Zentren im Finanzkapital und der Tech-„Industrie“.

Sowohl die politischen als auch die ökonomischen Marker sind nicht nur statische Zuordnungen, sondern lassen sich in eine dynamische Entwicklung einbetten. Deutet man sie als unhistorische Taxonomien, wie es jetzt in der Ersten Welt in den moralischen Anmaßungen (wieder) in Mode gekommen ist, gerät man auf eine steilabfallende schiefe Ebene, die, weil sie von hohem Plateau kommt, zu fataler Politikunfähigkeit führt. Zwischen der Ersten Welt und der neuen Zweiten Welt liegen etwa, sagen wir, einhundert Jahre an Entwicklung. Den Schritt in die politische Sphäre der Demokratie machte die Erste Welt – in mancher Hinsicht mit der Ausnahme der USA – vor gut einem Jahrhundert. Nach dem Ersten Weltkrieg transformierten sich die monarchistischen Diktaturen und aristokratischen Gesellschaften (in Europa) in mehr oder weniger stabile, zunächst unvollständige Demokratien. Wenn in der Ersten Welt der schroffe Gegensatz von Demokratie (Erste Welt) und Diktatur (Zweite Welt) aufgemacht wird, dann kommuniziert man in gewisser Weise mit seiner eigenen Vergangenheit, und man ist erschrocken darüber, wie undemokratisch, inhuman und borniert die nicht-demokratische Zweite Welt sein kann, vergisst aber gerne, dass man, wie im Kino einer Zeitmaschine, die eigene Vergangenheit vor Augen hat. Man glaubt es kaum: Industrieländer waren selbst einmal Schwellenländer.

Die Erste Welt begegnet in der Anordnung der drei Welten also nur ihrer eigenen Vergangenheit. Dabei fährt ihr deshalb ein gehöriger Schreck in die Glieder, weil sie gewahr wird, dass sie noch ganz andere Dimensionen des Monsterhaften auf dem historischen Kerbholz hat. Erste, Zweite und Dritte Welt sind in ihrem Kern eben „nur“ wirtschaftliche Entwicklungsstadien, sie werden nur überlagert von politischen Überbauphänomenen, ehedem Demokratie und Sozialismus, heute Demokratie und Diktatur.

„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ – die alte banale Einsicht aus Brechts Dreigroschenoper bedeutet, übersetzt in die (wirtschafts)geschichtliche Entwicklung, erst kommt die wirtschaftliche Entwicklung, dann folgt die Beschäftigung mit humanen politischen Umgangsformen. Wie verwunderlich ist die gerade in Deutschland um sich greifende geschichtsvergessene Preisgabe der Handlungsanleitung „Wandel durch Handel“ oder auch „Wandel durch Annäherung“ angesichts der vermeintlichen Bedrohung durch eine neue kriegerische Auseinandersetzung.

Den neuen Konflikt als Kampf zwischen Demokratie und Diktatur festzumachen, folgt einem ideologischen Manöver der westlichen Wertepriester. Der Kampf der Welten ist nicht ein Kampf zwischen Gut und Böse, sondern der wirtschaftliche Kampf zwischen den um die Anteile am Weltkuchen ringenden unterschiedlichen Blöcken. Die bodenlos dumme und geschichtsvergessene Redeweise des Westens, v.a. der USA, man befinde sich „auf der richtigen Seite der Geschichte“ (Larry Summers), ist nur ideologische Propaganda zur Selbstberuhigung, Selbstbeweihräucherung und durchschaubare Bewerbung der neuen Dritten Welt, die man Jahrzehnte lang bekriegt und ausgebeutet hat und jetzt in peinlich-biederen Ansprachen auf die „richtige Seite der Geschichte“ zu ziehen versucht. Es gibt keine Parallelräume in der Geschichte, nebeneinanderher surrende Zeitläufte, sondern nur ein historisches Nacheinander von wirtschaftlichen Entwicklungsstadien. Und in dieser einen Geschichte der Welt ist es die Geschichte von Macht, nationalen Interessen und Hegemonialstreben.

In beiden Teilen, in der Ersten und Zweiten Welt, gibt es Großmächte. Großmächte neigen zu Expansion, zur Definition, Begründung und Erweiterung von Einflusssphären, dazu Dominanz auszuüben, Interessen unilateral zu formulieren. Das zu leugnen ist lämmerhaft naiv, idealistisch in schlechtester Manier und am Ende unpolitisch. Zwischen den heutzutage bestehenden Großmächten gibt es aber Unterschiede. Die USA sind eine vollständige Großmacht, d.h. militärisch (ihr Verteidigungshaushalt liegt etwa auf der Höhe der Verteidigungsausgaben des Rests der Welt), wirtschaftlich, technologisch und kulturell. Russland ist eine militärische Großmacht, wirtschaftlich fast nicht einmal ein Schwellenland, eher ein Rohstoffland mit industriellen Leuchttürmen. China entwickelt sich zu einer wirtschaftlichen und technologischen Großmacht, militärisch ist es (noch) eher eine mittlere Macht, sein Expansionsstreben zeigt sich über wirtschaftliche Verflechtung und das Auswerfen von Netzen (Seidenstraße). Indien ist militärisch eine mittlere Macht, wirtschaftlich erst am Anfang einer Schwellenlandisierung. Und Europa, das von ein Polposition in einer multipolaren Welt träumt, besser: schlafwandelt? Europa hat sich auf Gedeih und Verderb in die Vasallen- und Hintersassenposition der USA begeben. Die einzige Großmacht aber – und das ist das punctum saliens –, die global agiert, die einen globalen Hegemonialanspruch formuliert, sind die USA, alle anderen Großmächte agieren militärisch „nur“ auf regionaler Ebene.

Was macht es für den Westen, für die USA so schwer, seine Hegemonialbestrebungen ungehemmt durchzusetzen? Im Kalten Krieg war es das militärische Gleichgewicht, das atomare Patt. In dem Russland-Ukraine-Krieg wird damit mittlerweile gespielt. In der sich anbahnenden neuen Konfrontation mit der Zweiten Welt sind es v.a. wirtschaftliche Faktoren. China ist der größte Gläubiger der USA, fast ein Fünftel der amerikanischen Staatspapiere befinden sich in chinesischer Hand. Sie sind ein wirtschaftliches Kampfmittel, eine finanzpolitische Atombombe, die das internationale Finanzsystem und die Rolle des Dollar als Weltwährung bedroht. Die Leistungsbilanz zwischen beiden Ländern zeigt nicht, dass die USA mit De-Coppling/De-Riscing weiterkommen. Eine westliche Antwort auf die Repatriierung Taiwans durch China, die dem gegenüber Russland ergriffenen Sanktions-, Isolations- und Containment-Regime vergleichbare wäre, dürfte mit erheblich höheren Kosten für den Westen verbunden sein. Andererseits: die Provokationsbereitschaft der USA, die sich in ihrer Russland-Politik zeigte und zeigt, auf den China-Taiwan-Konflikt bezogen, lässt erwarten, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Ein-China-Politik aufgegeben wird und Taiwan, wenn es sich „demokratisch“ zum souveränen Staat erklärt, der Westen, wie im Fall der Ukraine, die sich die NATO-Mitgliedschaft in ihre Verfassung geschrieben hat, umschwenken müsste und, seiner wertegeleiteten Außenpolitik folgend, in eine militärische Eskalationsspirale einsteigen würde. Jedes Land der Welt definiert eben seine Souveränität und Bündniszugehörigkeit selbst.

Die Hoffnung des Westens auf Vermeidung der neuen Dreiteilung der Welt

Die Erste Welt, der Westen, befindet sich gegenwärtig in einer verhältnismäßig komfortablen Situation. Ein neuer Kalter Krieg oder eine offene Blockkonfrontation ist noch nicht ausgebrochen. Es sind drei „Großereignisse“, die ihn hoffen lassen, dass man dieses Mal noch einmal davonkommt: 1.) die Globalisierung, 2.) der Klimawandel und 3.) der Russland-Ukraine-Krieg. Gleichsam zufällig sind alle drei Großereignisse dazu angetan, dass der „Zyklus des Elends“ der Dritten Welt wieder als „Nebensorge“ (Sauvy) auf den Agenden der internationalen Geschäftigkeit notiert werden kann.

Beginnen wir mit der Globalisierung. Der Dichter Durs Grünbein hat die Hoffnung des Westens treffend formuliert: „Ein faschistoides Regime (gemeint ist Russland, d. Verf.), aggressiv nationalistisch … spielt verrückt und begibt sich in einen Endkampf gegen die Realität, die nun einmal eine globale ist, auf Welthandel, Vernetzung und gegenseitiger Kapitalverflechtung, aber auch friedliche Verständigung beruhend“ (FAZ, 29. April 2023). Es führte zu weit, alle Faszien dieses gebündelten Unfugs freizulegen, nur ein Aspekt sei herausgegriffen. Die Kleriker des Westens haben längst beschlossen, dass das Konzept des Wandels durch Handel gescheitert sei, dass man der Dritten Welt am besten mit woken Lieferkettengesetzen helfe und dem neuen Aspiranten auf eine Weltmachtrolle aus der Zweiten Welt nur durch technologisches Containment beikommen könnte. Den ganz hohen Hohe Priestern genügt all das nicht – man will nur noch Handel mit den Guten treiben, davor stünde aber eine ganz mächtige Entflechtung der Globalisierung (wenn z.B. die in chinesischer Hand befindlichen amerikanische Staatspapiere auf den internationalen Finanzmarkt geworfen würden). Der Führungsnation der Ersten Welt geht es um Macht und Hegemonie, nicht um Friedensstiftung durch Globalisierung.

Der zweite Hoffnungsschimmer, der aus Sicht der Akteure der Ersten Welt die Spaltung verhindern könnte, rührt von dem Klimawandel her. Wenn die Staaten der Welt in irgendwelchen Metropolen zu Klimakonferenzen zusammenkommen, werde, so die Hoffnung, überdeutlich, dass man gemeinsam Verantwortung für den Planeten (also doch One World) habe. Sobald es an den Konferenztischen aber konkret wird, werden die Verursacher, die Industrieländer, knausrig, Ausgleichszahlungen für 200 Jahre karbonisierte Industrialisierung werden mal freundlich lächelnd, mal zerknirscht bedauernd abgewehrt. Den Schwellenländern wird empfohlen, gar nicht erst Industrieländer werden zu wollen, und der Dritten Welt, dem Globalen Süden, der am meisten unter der zweihundertjährigen Geschichte karbongetriebener Industrialisierung der Ersten Welt zu leiden hat, wird zum Sprung in ein phantastisches Nichts geraten, ohne auch nur über die einfachsten Grundlagen für eine infrastruktur- und industriebasierte Solar-Wind-Entwicklung zu verfügen. Die Brieftaschen der plötzlich von Verantwortung überwältigten Gutstaaten jedenfalls sind leer, Verursacherprinzip hin oder her. Den rohstoffbasierten Schwellenländern, die allesamt m.o.w. weit von einem Übergang in eine industriebasierte Entwicklung entfernt sind, möchten die Gutstaaten am liebsten raten, ihre einzige Reichtumsbasis zu schließen, die Fördertürme für Öl und Gas klimaneutral zu verschrotten. Gleichzeitig werden sie sanktioniert, traktiert, isoliert. Gegenüber dem Rest der Schwellenländer, die emsig neue Fossilkraftwerke errichten, verharrt die Erste Welt in klimapolitischer Sprachlosigkeit, nicht einmal die ausgeklügelten marktwirtschaftlichen Instrumente der CO2-Bepreisung helfen hier weiter.

In der Ersten Welt entwickelt sich dazu eine „Theorie des Überspringens“, die der Ratgeber für die Zweite und Dritte Welt sein soll. Den Schwellenländern wird wohlfeil empfohlen, die carbon-getriebene Industrialisierung zu überspringen und sofort die Transformation in das Solar-Wind-Zeitalter anzugehen. Was einige Schwellenländer in einer Art Parallelstrategie vielleicht noch schaffen werden, wirkt mit Blick auf die Länder des Globalen Südens wie Hohn. Ohne jede industrielle und infrastrukturelle Basis sollen sie den Spillover in das neue Zeitalter bewältigen. Derweil agiert die Weltbank dort mit betriebswirtschaftlich angelegten Projekten, bei denen im Mittelpunkt steht, dass das Solarprojekt sich „lohnt“, Rendite verspricht. Der Washington Consensus, hier: betriebswirtschaftlich angelegte Entwicklungspolitik, hat noch längst nicht aufgehört zu wirken.

Es zeigt sich ein eigenartiges Phänomen: Die „Weltgemeinschaft“ sieht sich einerseits mit einem erdgeschichtlichen-globalen Problem, der Klimakatastrophe, konfrontiert, die gemeinsames Handeln, Kooperation und Verständigung erfordert, und sie trägt das zur Schau, jedenfalls nach außen hin, wenn sie auf den Klimakonferenzen zusammenkommt. Wenn sie die Konferenzsäle verlässt, herrscht andererseits auf allen denkbaren Ebenen Konfrontation, Systemwettbewerb, Handelskriege, bis zu offenen Kriegen. Das Phänomen lässt nur den Schluss zu, dass die Bekämpfung des Klimawandels bei den zentralen Akteuren aus dem Westen nicht an der allerersten Stelle auf der Agenda steht.

Machtpolitisch kam der Russland-Ukraine-Krieg den USA wie gerufen. Abgesehen von den Kollateral-Benefits (dem gewaltigen Schub für die Rüstungsindustrie, der Festigung des westlichen Bündnisses der innenpolitischen Ablenkung) eröffneten sich Möglichkeiten, die NATO weiter auszudehnen und Russland definitiv auf den Status einer Regionalmacht herunterzubringen. In dem Maße, wie das westliche Bündnis auf Vordermann gebracht wurde, hat sich aber die Zweite Welt gesammelt und den Krieg als regionale europäische Angelegenheit eingeordnet, in der man sich nicht zu positionieren gedenkt. Und das, obwohl die russische Intervention einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht, eines der letzten Bänder, das die Weltgemeinschaft noch zusammenhält, darstellt. Die Zweite Welt und ihre führenden Staaten distanziert sich nicht von der russischen Invasion und beteiligt sich schon gar nicht an Sanktionen gegen Russland, im Gegenteil, die wirtschaftliche Kooperation blüht auf und wird vertieft.

Globalisierung, Klimawandel und Krieg verfügen offensichtlich nicht über die Potentiale, die neue Teilung der Welt aufzuhalten oder gar zu überwinden. Es scheint eher so, dass sie selbst Anlässe sind, aus der Teilung eine Spaltung werden zu lassen. Abhängigkeiten, Betroffenheiten und Empörungen erweisen sich als hilflos und ohnmächtig. Es dominieren Machtpolitik, Vormachtpolitik und Machtaufbegehren der Staaten. Die Staaten der Welt finden sich in den „Weltständen“ wieder. Der Erste Stand beharrt auf seinen Privilegien, seiner Berufung und seinen Vormachtambitionen, der Dritte Stand, jetzt die Zweite Welt, begehrt auf und lässt sich nicht mehr einbinden und schon gar nicht abspeisen.

6

Schluss

Kommen wir zurück auf Sauvys Artikel aus dem Jahr 1952. Siebzig Jahre des „tausendjährigen Zyklus des Elends“ sind vergangen, und am Befund für die Dritte Welt hat sich nichts verändert, sie wird weiter „ignoriert, ausgebeutet und verachtet“. Allerdings: die Dritte Welt ist kleiner an Staaten geworden (nicht in der Anzahl der Menschen), einige ost- und südostasiatische Staaten haben den Aufstieg zum Schwellenland geschafft. Die osteuropäischen Staaten, die wähnten mit dem Beitritt zu NATO und EU den Aufstieg in die Erste Welt zu vollziehen, sind weiter Schwellenländer geblieben, die an den westlichen Tröpfen hängen und als Werkbänke für die westliche Industrie fungieren.

Bestätigt hat sich Sauvys These von der gegenseitigen Stabilisierung der Ersten und der Zweiten Welt im Kalten Krieg. Das galt für das Äußere. Im Innern aber zeigte sich Disparates. In der Ersten Welt blieb der Kapitalismus gefesselt. In der Zweiten Welt zeigte sich vollständige Reformunfähigkeit. Was die einen an Dynamik bremsten, hätten die anderen benötigt. Die sich in der Gegenwart vollziehende Formierung einer neuen Zweiten Welt bringt sehr heterogene Staaten zusammen, was den Schluss zulässt, dass es sich bei den politisch-ideologischen Überformungen um einen Schleier handelt. Es geht um wirtschaftliche Entwicklung.

Auch Sauvys These, dass die Welt in eine „beispiellose Krise“ geriete, würde einer der Pole bzw. Kontrahenten des Systemgegensatzes verschwinden, konnte drei Jahrzehnte lang studiert werden. Die Fragen, die Sauvy sich nicht traute zu stellen, was in dieser Konstellation passieren würde, konnten an der globalen Entwicklung während des Interregnums der unipolaren Welt, der unhinterfragten Dominanz des Westens, die in Wirklichkeit eine Welt nach dem Geschmack der USA war, studiert werden. Nicht ewiger Friede und immerwährende Wohlstandsmehrung sind eingetreten, sondern das Gegenteil, eine Kaskade von Krisen und Kriegen unterschiedlicher Art.

Zugleich hat sich in der Zeit des Interregnums eine neue Dreiteilung der Welt, ein neuer globalen Ständekonflikt, herausgebildet, und innerhalb der ständischen Welten Verfestigungen und Neusortierungen hervorgebracht. Verfestigt hat sich die Hegemonialposition der USA in der Ersten Welt, nicht zuletzt nach dem provozierten Krieg Russlands in der Ukraine. Es nimmt kein Wunder, wird der Kampf der Welten in zugespitzten Konstellationen doch durch das militärische Kräftemessen entschieden; die Militärausgaben der USA (ohne die NATO-Verbündeten) liegen, wie bereits erwähnt, fast auf demselben Niveau wie die des Rests der Welt. Was die moderne Erste und Zweite Welt voneinander unterscheidet, sind die dichten Kooperationsstrukturen des Westens und die lockeren Kooperationsstrukturen des Ostens und Globalen Südens.

Käme es zu einer Wiederholung der Geschichte, eine Möglichkeit, die die einen Historiker bestreiten, die anderen bejahen, und Sauvys Prognosen und Thesen zum alten Kalten Krieg, die immerhin einen Erörterungsrahmen abgeben, wiederholten sich, wäre von diesem Szenario auszugehen: Die beiden Systemkonkurrenten stabilisierten sich gegenseitig und finden zu einer Art Gleichgewicht. Für die neue Erste Welt ließe sich eine Zügelung des Kapitalismus bei gleichzeitigem Nagen am Sozialstaat und eine neuerliche Konzentration auf Rüstung und Militär erwarten. Die neue Zweite Welt dürfte aus verschiedenen Gründen eine ganz andere wirtschaftliche Dynamik entfalten als die alte Zweite Welt, von der bald nach Sauvys Aufsatz abzusehen war, dass die Produktivität ihres Wirtschaftssystems mit dem der Ersten Welt nicht mithalten könnte. Die neue verkleinerte Dritte Welt geriete ein weiteres Mal in Vergessenheit – angesichts des sie v.a. betreffenden Klimawandels keine rosige Perspektive.

Es gibt in diesem Szenario allerdings kaum kalkulierbare Variablen. Eine davon betrifft die Erste Welt. In der Zeit des Interregnums hat der Westen die Raubtiere aus dem Käfig gelassen, ihre Jagd auf den (gezügelten) Kapitalismus und die Demokratie könnte sich fortsetzen. Zusammen mit dem zu Identität und Staatsräson gehörenden Hegemonialstreben der USA ergäbe das eine gruselige Mischung. Eine andere Variable: Bislang präsentiert sich der Club der neuen Zweiten Welt als eine ziemlich bunte Mischung. Kaum abschätzbar ist, ob und wie es zu dichteren Kooperationsstrukturen kommt, die jenen in der Ersten Welt vergleichbar wären und ob sich daraus hegemoniale Bestrebungen ergeben. Eine dritte schwer zu kalkulierende Variable: Der „Druck im Kessel“ (Sauvy) in der Dritten Welt wird, nach allem, was sich abzeichnet, ansteigen. Wie Wasser sucht sich Druck seine Wege. Bislang führen die Wege der impertinenten Migranten über das Mittelmeerwasser. Ansonsten bleibt die Dritte Welt der Selbstbedienungsladen für die Erste Welt – ganz wie zu Kolonialzeiten. Im nächsten Viertel Jahrhundert verdoppelt sich die Einwohnerzahl Afrikas. „Die Ursachen der Migration bekämpfen“ – so lautet die Parole der Schlauen im Westen. Die Schläue reicht aber nicht weit, auf die Idee, dass Schulen und Fabriken usw., es sei wiederholt, gebaut werden müssten, kommen sie nicht mehr, nicht als Entwicklungshilfe, nicht als Weltbankprojekt, sondern als gigantisches Investitionsvorhaben.

Das popkulturelle Schwärmen von One World, der internationalen Staatengemeinschaft, der regelbasierten internationalen Rechtsordnung – es ist eine Schimäre. Mit dem Trugbild beruhigen sich die N-1-Staaten, die Vasallen- und Intersassen-Staaten, um weiter ihren Geschäftchen auf den Weltmärkten nachzugehen. One World bedeutet: politische, wirtschaftliche und militärische Dominanz und Hegemonie der USA. Die regelbasierte internationale Rechtsordnung rezitieren nur die Schelme am Hof des Fürsten, der Fürst verfährt damit nach Gutsherrenart, seine Methode lautet: wo’s passt, passt’s, wo nicht, wird’s passend gemacht. Sollte diese One World jemals Wirklichkeit werden, dann wirken nur noch die Gesetze, Widersprüche, Triebkräfte der exzeptionellen Nation.

Die Blockbildung im Kalten Krieg stand für eine stabile Ordnung, da der jeweilige Gegner die Konzentration auf das Innere erforderte und potentielle Driftungen, das Aufplatzen von Widersprüchen und zentrifugale Tendenzen im Ansatz bändigte. Man kann nur hoffen, dass die popkulturelle Welt der One World oder die Mär von der internationalen Staatengemeinschaft nie Realität wird. Die Erste Welt, der Westen, die internationale Staatengemeinschaft ist ein hierarchisch und hegemonial aufgestelltes Gebilde mit einer eindeutigen Führerschaft, die auf der militärischen Potenz basiert. Es gibt die exzeptionelle Nation und die Vasallen und Hintersassen, teils devoter (die Osteuropäer), teils murrender Couleur (Frankreich). One World ist keine Weltgemeinschaft, eigentlich auch keine One World. Die Gleichheit der Staaten ist eine Fiktion. Es gibt nur Mächtige, weniger Mächtige und Ohnmächtige. So gesehen wäre dem Westen, der die Demokratisierung bis in Briefmarken- und Orchideenbereiche vorantreibt, aber zu eigener Demokratisierung nicht in der Lage ist, ein globales Gegengewicht zu wünschen.

*****

DREI WELTEN, EIN PLANET[12]

Alfred Sauvy

L’Observateur, 14. August 1952, Nr. 118, Seite 14.

Wir sprechen heutzutage gerne von den beiden Welten, die sich gegenüberstehen, von ihrem möglichen Krieg, ihrer Koexistenz usw., und vergessen dabei allzu oft, dass es eine dritte gibt, die wichtigste, und in der Chronologie eigentlich die erste. Das sind die Staaten, die man im Stil der Vereinten Nationen als unterentwickelte Länder bezeichnet.

Wir könnten die Dinge auch anders sehen, nämlich aus der Sicht der beiden Hauptgruppen: Aus dieser Perspektive haben sich zwei Avantgarden um einige Jahrhunderte nach vorne abgesetzt, die westliche und die östliche. Sollte man einer von ihnen folgen oder einen anderen Weg versuchen?

Ohne die dritte oder eigentlich erste Welt würde die Koexistenz der beiden anderen kein großes Problem darstellen. Berlin? Deutschland? Längst wäre das unsichtbare Besatzungssystem in Kraft getreten, das die Deutschen frei ließe und das nur die in das zivile Leben verliebten Militärs verurteilen können. Die Sowjets fürchten nichts mehr, als dass sich Westeuropa dem Kommunismus zuwendet. Der eifrigste Stalinist hier gilt dort als vom Westen infiziert. Sie sprechen lieber von einem guten Chinesen, einem Inder, der seine Ausbildung in Moskau absolviert hat und die Bourgeoisie nur aus der korrekten und reinen Sicht kennt, die dort vermittelt wird. Aber Engländer, Schweden, Franzosen – allesamt unerwünschte Rekruten.

Was für jede der beiden Welten zählt, ist, die dritte zu erobern oder sie zumindest auf ihrer Seite zu haben. Und daraus resultieren all die Probleme, die die Koexistenz mit sich bringt.

Der Kapitalismus des Westens und der Kommunismus des Ostens stützen sich gegenseitig. Wenn einer von ihnen verschwände, würde der andere eine beispiellose Krise erleiden. Die Koexistenz beider könnte ein Schritt in Richtung eines sich annähernden Regimes sein, das aber ebenso weit entfernt ist wie es im Verborgenen liegt. Es würde für beide genügen, diese zukünftige Annäherung (Konvergenz) ständig zu leugnen und der Zeit und der Technik ihren Lauf zu lassen. Es würden andere Probleme auftauchen, die genügend Raum einnehmen würden. Welche wären das? Hüten wir uns davor, die Frage zu stellen.

Versetzen Sie sich ein wenig in die Geschichte zurück: Inmitten der Religionskriege würden Sie vielleicht unvorsichtigerweise die Meinung äußern, dass Katholiken und Protestanten vielleicht eines Tages andere Sorgen haben werden als die unbefleckte Empfängnis. Sie würden misstrauisch betrachtet und wahrscheinlich als Verrückter verbrannt.

Leider erlaubt der Kampf um die Vereinnahmung der dritten Welt den beiden anderen nicht, singend zu wandern, jeder in seinem Tal, dem besten natürlich, dem einzigen, dem „wahren“. Denn der Kalte Krieg hat seltsame Folgen: Dort (in der zweiten Welt) ist es ein krankhaftes Werben um die Spionage, das in die heftigste Isolation treibt. Bei uns (der ersten Welt) ist es der Stillstand der sozialen Entwicklung. Was nützt es, sich zu behindern und zu entbehren, solange die Angst vor dem Kommunismus diejenigen auf dem Hang hält, die gerne vorwärts gehen würden? Warum sollte man überhaupt etwas in Betracht ziehen, wenn die fortschrittliche Mehrheit in zwei Hälften geteilt ist? Wir sehen, dass es nie eine günstigere Zeit für die Klassengesetzgebung gab. Wir sollten uns also durch eine Steueramnestie von unseren Diebstählen befreien, ohne Angst lebenswichtige Investitionen, den Bau von Schulen und Wohnungen beschneiden, um die Investitionen in Straßen großzügig auszustatten, damit die sonntagabendliche Heimfahrt in die schönen Viertel leichter wird. Stärken wir die am wenigsten verteidigungsfähigen Privilegien der Zuckerrüben- und Alkoholindustrie. Warum sich quälen, wenn es keine Opposition gibt?

So würde die Entwicklung hin zu einem fernen und unbekannten Regime (Konvergenz) auf beiden Seiten gestoppt, und dieser Stopp ist nicht allein auf die Kriegsausgaben zurückzuführen. Es geht darum, sich auf den Gegner zu stützen, um sich selbst fest zu etablieren. In beiden Lagern haben die Hardliner die Oberhand, zumindest im Moment. Sie müssen die anderen nur als Verräter bezeichnen; ein einfacher und klassischer Kampf. Und so vereinen sie sich für eine im Grunde genommen gemeinsame Sache: den Krieg.

Und doch gibt es ein Element, das nicht stillsteht: es ist die Zeit. Ihr langsames Wirken lässt erwarten, dass das Ausmaß der Brüche wie immer im Verhältnis zur Künstlichkeit der Stagnation stehen wird. Wie wirkt sich dieses langsame Wirken aus? In vielerlei Hinsicht, aber auf eine ganz besonders, die unerbittlicher ist als alle anderen:

Die unterentwickelten Länder, die dritte Welt, sind in eine neue Phase eingetreten: Bestimmte medizinische Techniken werden relativ schnell eingeführt, und zwar aus einem wichtigen Grund: Sie kosten wenig. Eine ganze Region in Algerien wurde mit DDT gegen Malaria behandelt: Kosten: 68 Franc pro Person. Anderswo, auf Ceylon, in Indien usw. werden ähnliche Ergebnisse verzeichnet. Für ein paar Cent wird das Leben eines Menschen um mehrere Jahre verlängert. In diesen Ländern herrscht also die Sterblichkeit von 1914 und die Geburtenrate des 18. Jahrhunderts (in der ersten Welt). Zwar führt dies zu einer wirtschaftlichen Verbesserung: weniger Jugendsterblichkeit, höherer Produktivität der Erwachsenen usw., aber das ist nicht alles. Es ist klar, dass dieses Bevölkerungswachstum mit erheblichen Investitionen einhergehen müsste, um den Behälter an den Inhalt anzupassen (eine wenig gelungene Übersetzung, im Original so formuliert; gemeint ist: um die wirtschaftlichen Bedingungen an das Bevölkerungswachstum anzupassen). Diese lebenswichtigen Investitionen kosten jedoch weit mehr als 68 Franc pro Person. Sie laufen also gegen die finanzielle Mauer des Kalten Krieges. Das Ergebnis spricht für sich: Der tausendjährige Zyklus von Leben und Tod ist eröffnet, aber es ist ein Zyklus des Elends. Hören Sie an der Côte d’Azur nicht die Schreie, die uns vom anderen Ende des Mittelmeers, aus Ägypten oder Tunesien, erreichen? Glauben Sie, dass es sich dabei nur um Palastrevolutionen oder das Murren einiger ehrgeiziger Menschen handelt, die auf der Suche nach einem Platz zum Leben sind? Nein, nein, der Druck im menschlichen Kessel steigt ständig.

Für diese Leiden von heute und die Katastrophen von morgen gibt es ein souveränes Heilmittel; Sie kennen es, es fließt hier (in der ersten Welt) langsam in die Verpflichtungen des Atlantikpakts, dort (zweite Welt) in fieberhafte Konstruktionen von Waffen, die in drei Jahren veraltet sind.

Es gibt in diesem Abenteuer eine mathematische Zwangsläufigkeit, die sich nur ein riesiges Gehirn ausdenken kann. Da die Vorbereitung des Krieges die Hauptsorge ist, dürfen Nebensorgen wie der Hunger der Welt nur so viel Aufmerksamkeit erhalten, dass es nicht zu einer Explosion kommt, oder genauer gesagt, dass keine Unruhe entsteht, die das Ziel Nummer Eins gefährden könnte. Wenn man jedoch bedenkt, wie viele Fehler die Konservativen aller Zeiten in Bezug auf die menschliche Geduld gemacht haben, kann man der Fähigkeit der Amerikaner, mit dem Feuer des Volkes zu spielen, nur wenig Vertrauen entgegenbringen. Als Neophyten der Herrschaft (Vorherrschaft, Macht) und Mystiker des freien Unternehmertums, die dieses als Zweck begreifen, haben sie noch nicht klar erkannt, dass ein unterentwickeltes, feudalistisch geprägtes Land viel leichter zum kommunistischen Regime übergehen kann als zum demokratischen Kapitalismus. Man mag sich damit trösten, dass dies ein Beweis für einen größeren Vorsprung des Kapitalismus ist, die Tatsache ist nicht zu leugnen. Vielleicht könnte die Welt Nr. 1 in ihrem hellen Licht, selbst ohne jede menschliche Solidarität, nicht unempfindlich gegenüber einem langsamen und unwiderstehlichen, demütigen und wilden Drang zum Leben bleiben. Denn schließlich will auch diese Dritte Welt, die wie der Dritte Stand ignoriert, ausgebeutet und verachtet wird, etwas sein.

Anmerkung zum Ursprung des Ausdrucks „Dritte Welt“ von Alfred Sauvy:

Im Jahr 1951 sprach ich in einer brasilianischen Zeitschrift von drei Welten, ohne jedoch den Ausdruck „Dritte Welt“ zu verwenden.

Diesen Ausdruck kreierte ich und verwendete ihn zum ersten Mal schriftlich in der französischen Wochenzeitung „L’Observateur“ vom 14. August 1952. Der Artikel endete wie folgt: „Denn schließlich will auch diese Dritte Welt, die wie der Dritte Stand ignoriert, ausgebeutet und verachtet wird, etwas sein.“ Damit übertrug ich den berühmten Satz von Sieyès über den Dritten Stand während der Französischen Revolution. Ich habe nicht hinzugefügt (aber manchmal scherzhaft gesagt), dass man die kapitalistische Welt mit dem Adel und die kommunistische Welt mit dem Klerus gleichsetzen könnte.


[1]              Alfred Sauvy, „Trois Mondes, une Planèt”, L’Observateur, 14. August 1952, S. 14.

[2]              Der Artikel ist im Anhang in einer auf Deepl basierenden eigenen (nicht idealen) Übersetzung beigefügt. Es empfiehlt sich den Artikel zuerst zu lesen.

[3]              Die Vereinten Nationen wurden 1945 von 51 Staaten gegründet. 1970 betrug die Mitgliedszahl 127, heutzutage 193.

[4]              Desertec war ein Vorhaben zu Beginn des Jahrtausends, das mit Solarpanelen Ökostrom in der Wüstenregion Nordafrikas zusammen mit dem Bau von Kraftwerken für den regionalen und europäischen Strombedarf produzieren sollte. Es scheiterte, obwohl technisch machbar, an kurzsichtigen Betriebswirtschaftserwägungen.

[5]              Immerhin, könnte man sagen. Der Wille war und ist da. 0,7 Prozent für die Dritte Welt sind ja auch eine Größenordnung gegenüber den 2 Prozent, die man in der Erste-Welt-NATO für Verteidigungsausgaben vorsieht.

[6]              Phillip Roth spielte eine faschistische Machtübernahme in den USA schon vor längerer Zeit in seinem Roman “The Plot Against America” (2004) durch. Er lässt Charles Lindbergh, ein dem deutschen Nationalsozialismus überaus wohlgesonnener Luftfahrtpionier, bei Präsidentschaftswahlen in den dreißiger Jahren gegen Franklin D. Roosevelt gewinnen und errichtet in den USA ein faschistisches System, das mit dem Gedanken spielt, an der Seite der Achsenmächte in den Krieg einzutreten. Der Roman wurde auch als Allegorie auf die Bush-Regierung gelesen.

[7]              In seiner Quarantäne-Rede 1937 in Chicago beschrieb Roosevelt die internationale Lage, die er außerordentlichen Gefahren ausgesetzt sah. Die Gefahr gehe von Gewaltregimen, von Machtgier und Herrschaftsstreben aus. Roosevelt unterlässt es aber, konkrete Staaten – etwa Japan, Deutschland und Italien – beim Namen zu nennen. Daraus leiten osteuropäische Historiker ab, es könnte auch die SU gemeint gewesen sein, was besser gewesen wäre.

[8]              Zitiert nach: Jeffrey Sachs, „Warum die Welt eine neue US-Außenpolitik braucht“. In: Makroskop 11. Mai 2023 (Warum die Welt eine neue US-Außenpolitik braucht – MAKROSKOP)

[9]              Die Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschlands ließ sich die zerfallende SU in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gegen ein Linsengericht abverhandeln. Immerhin erreichte sie, dass keine NATO-Truppen und -Waffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden durften. Es entsprach dem damaligen breiten Konsens, dass sich die NATO nicht nach Osten erweitern würde, was auch in den bekannten mündlichen Statements verkündet wurde.

[10]            Der amerikanische Exzeptionalismus steht in seinem Anspruch auf Weltherrschaft einschlägigen faschistischen Ideologien in nichts nach. Er ist einerseits historisch, anderseits religiös-missionarisch begründet und wählt andere Methoden. Jedenfalls ist er eine extreme Form von Nationalismus. Warum sich die Europäer, die sich die Überwindung des Nationalismus auf ihre Fahnen geschrieben haben, diesem Nationalismus so gedankenlos unterwerfen, gehört zu den am besten gehüteten europäischen Geheimnissen, es muss mit ihrer merkantilistischen Krämereinstellung zu tun haben, die dem Handel alles unterordnet.

[11]            Es ist historische Spekulation, ob der Angriff Russlands mit einer entschiedenen europäischen Antwort auf die Bündnisfrage der Ukraine hätte vermieden werden können. Wahrscheinlich eher nicht, da sich die USA ihre Antwort auf das russische Verhandlungsangebot vom Dezember 2021, ihr Führungsprivileg nutzend, allein vorbehalten haben, ohne offene Rücksprache und Verständigung in der „Gemeinschaft“ der NATO.

[12]            Eine eigene auf Deepl beruhende Übersetzung. Das Programm ist noch weit von zufriedenstellenden Übersetzungen entfernt. Eine der Kuriositäten: „Dritter Stand“ wird mit „Dritter Staat“ übersetzt. Die Klammerbemerkungen stammen vom Übersetzer und dienen der Verdeutlichung.

Der Mythos von der Hayekianischen Föderation. Einen Aufsatz genau gelesen und an der Realität überprüft

In manchen Kreisen der akademischen und politischen Europakritik gehört es seit einigen Jahren zum gepflegten Ton, die Vorbehalte gegen die europäische Integration auf einem Umweg vorzubringen. Den argumentativen Umweg wandert man mit dem Rekurs auf Friedrich August von Hayek, den Ultraliberalen, im Rucksack. Hayek habe in einem kleinen Aufsatz von 1939 („The Economic Conditions of Interstate Federalism“)[1] prophetisch eine schicksalhafte Zukunft für Europa an die Wand gemalt, eine Entwicklung, die ein halbes Jahrhundert später eingesetzt habe. „Hayeks Aufsatz von 1939 liest sich wie ein Konstruktionsplan für die Europäische Union von heute“ (Streeck 2013, S. 146). Und wenn der Ultraliberale die EU quasi erfunden hat, dann bleibt ja nur die schroffe Ablehnung der Europäisierung, so wohl die schlichte Insinuation. Ähnlich wie Wolfgang Streeck argumentiert unter Bezugnahme auf den genannten Aufsatz Quinn Slobodian, der von einer „implizite(n) – und sogar explizite(n) – Inspiration für die wirtschaftliche Integration Europas“ (Slobodian 2020, S. 152) spricht. Das macht so manchen Sozialwissenschaftler erschrocken, z.B. Thomas Biebricher. „Es ist verlockend, die geradezu unheimlichen Analogien (Herv.d.Verf.) zwischen Hayeks Entwurf aus dem Jahr 1939 und der heutigen Eurozone weiterzuverfolgen, erscheint doch Hayeks(s) Föderation geradezu als Bauplan für die Wirtschafts- und Währungsunion“ (Biebricher 2021, S. 99).

Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit dieser Erzählung vom Hayekschen „Konstruktions- und Bauplan“ für Europa, indem sie erstens Hayeks Aufsatz einer präzisen Lektüre, Interpretation und Einbettung unterziehen, und zweitens Hayeks Thesen skizzenhaft an Struktur und Funktionsweise der EU prüfen. Es wird sich zeigen: Es handelt sich um ein Schauermärchen.

Der Aufsatz – eine zeitbedingte „Gelegenheitsarbeit“

Slobodian wundert sich, warum im 34 Kapitel umfassenden „Oxford Handbook of Austrian Economics“ kein einziges Kapitel zu den internationalen Ordnungsvorstellungen der Österreicher enthalten ist. Er wundert sich auch darüber, dass Hayek in einem Interview (1983) einer Weltregierung eine strikte Absage erteilt. Er hätte auch hinzufügen können, dass sich in Hayeks Spätwerk nur wenige bis keine Ausführungen zur europäischen Integration, zur Globalisierung und zum globalen Freihandel finden. Slobodian nennt dies „bewusste Verleugnung“ bzw. „selektiven Gedächtnisverlust“ (Slobodian 2020, S. 133).

Die Antwort auf diesen dem Scheine nach paradoxen Befund ist vor dem Hintergrund von Hayeks Gesamtwerk und der Entwicklungsgeschichte seiner Theoretisierungen zu finden. Wie bei anderen „großen Denkern“ registriert man das Phänomen, dass sie verschiedene Phasen und mitunter gewaltige Metamorphosen durchlaufen haben. Gerade bei Hayek sind diese Metamorphosen (und Weiterentwicklungen sowie Neuorientierungen) sehr ausgeprägt. Es ist bei ihm sinnvoll, drei Phasen zu unterscheiden: 1.) Das Frühwerk wird geprägt durch Konjunkturforschung – ab 1927 war er Leiter des Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung –, er beschäftigte sich mit Statistik und konkreten Fragen der nationalen und internationalen Wirtschaftspolitik sowie Geldtheorie, im engeren Sinne also mit ökonomischen Fragestellungen. 2.) In der mittleren Phase, einsetzend in den dreißiger Jahren und veranlasst durch die epochalen Veränderungen in der Weltpolitik, verzeichnet man eine Hinwendung zum Politischen und Ideologischen, auch zum Aktivismus, die ihren Höhepunkt in der 1944 erschienenen Streitschrift „The Road to Serfdom“ fand. Ökonomische Fragen im engeren Sinne interessierten ihn in dieser Zeit schon nicht mehr, sie führten zu einer vollständigen Abkehr von der Ökonomie; Mathematik, Makroökonomie usw. zogen sich seine Verachtung zu. Stattdessen rückten Fragen des Rechts und der Wissensproblematik in den Vordergrund. 3.) Die Themen, die das Spätwerk auszeichnen, zeigen eine Hinwendung zu Sozialphilosophie und Erkenntnistheorie, zu Entwicklungsökonomie und eine Radikalisierung des Marktgedankens, hinzufügen ließen sich die rechtlichen und politischen Theoretisierungen in den beiden Großwerken ( „Die Verfassung der Freiheit“, 1960, und „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“, Mitte der siebziger Jahre). Die Phase begann im Verlauf der fünfziger Jahre und schlug – in wachsendem Ausmaß – die Richtung der Fundamentalisierung und des Übergangs ins Irrationale ein.

Hayeks schmaler Aufsatz „The Economic Conditions of Interstate Federation“, auf den so gerne Bezug genommen wird, entstammt dem Jahr 1939, also der mittleren Phase seines Schrifttums. Für den „eigentlichen Hayek“ der Spätphase kann er also nicht herhalten. Aber das ist als Hinweis läppisch. Wichtiger ist, dass sein Inhalt weder mit der 1957 gegründeten EWG und der späteren Währungsunion ab 1992, mit denen sich Streeck auseinandersetzt, noch mit GATT/WTO, Slobodians Themen, etwas zu tun hat, nicht einmal als Muster herhalten kann.

Es ist umgekehrt so, dass Hayeks Haupt- und Spätwerk Anzeichen einer Rückbesinnung auf den Nationalstaat aufweist. Alle Internationalisierungen nach dem Zweiten Weltkrieg – beginnend mit dem IWF und der Weltbank, sich fortsetzend mit der europäischen Integration und endend mit GATT/WTO – mussten für ihn eine einzige Enttäuschung sein, daher auch sein offensichtliches Desinteresse an diesen Institutionalisierungen. Seine beiden politischen und rechtsphilosophischen Hauptwerke und die zahlreichen Aufsätze beschäftigen sich dann auch nicht mehr mit dem Internationalen, sondern eher dem Nationalen und den nationalen Konstruktionen.

*Das gilt nicht zuletzt für seine Überlegungen zur Zerschlagung des nationalen Geldwesens, nicht internationale Währungsunionen oder nationaler Währungswettbewerb fanden sein Interesse, er begab sich in seinen Überlegungen in das Innere der Marktwirtschaft (und der Demokratie).*

Im Mittelpunkt von Hayeks Überlegungen in der mittleren Phase stand die Frage, wie die ökonomische Macht des Nationalstaates gebrochen werden kann. Nachdem der durch den Goldstandard gestiftete weltwirtschaftliche Funktionszusammenhang im Ersten Weltkrieg untergegangen war, eröffneten sich für die Nationalstaaten neue wirtschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen in das reine Marktgeschehen interveniert werden konnte. Hinzukam, dass sich die Zahl der Nationalstaaten mit dem Zusammenbruch der Imperien und der Entkolonisierung rasant vervielfachte. In den entwickelteren Ländern machten sich keynesianische Vorstellungen über die Steuerung der nationalen Volkswirtschaften breit. Die nicht entwickelten, entkolonisierten Länder begaben sich auf den Weg der nachholenden Entwicklung. Ein ganzer Block von Ländern fiel aus dem weltwirtschaftlichen Kontext vollständig heraus, zunächst die Sowjetunion, nach dem Zweiten Weltkrieg weitere Länder in Europa und im Rest der Welt.

All dies beunruhigte die liberale Welt zutiefst, und sie begann sich zu formieren, vor dem Zweiten Weltkrieg in Paris im Lippmann-Kolloquium (1939), danach in Genf in der Mont-Pèlerin-Gesellschaft (1947). Hayeks Föderations-Aufsatz hätte, so könnte man glauben, einen inhaltlichen Ansatzpunkt für die neue, jetzt neoliberal genannte Bewegung abgeben können. Und genau diesem Gedanken folgt Slobodian und all die anderen von Hayek Faszinierten (oder Geblendeten). Allein – der Aufsatz war argumentativ viel zu dünn, zu widersprüchlich, zu naiv, als dass er das Programm für ein neoliberales Welt- oder Europaprogramm hätte abgeben können. Er war eben eine „Gelegenheitsarbeit“.

Wer sich die Mühe macht, den Text zu lesen und nicht nur erschrocken die Überschrift zur Kenntnis nimmt, fragt sich, warum sich all die linken Kritiker so von ihm haben einschüchtern lassen und ihm eine Bedeutung zumaßen, die ihm nicht beikam.

Der Inhalt des Aufsatzes

Der Aufsatz gliedert sich in fünf Abschnitte. Im ersten Abschnitt führt Hayek aus, dass die politische Union der Föderation nicht nur eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, sondern unbedingt auch eine Wirtschaftsunion umfassen sollte: „Es scheint ziemlich sicher, daß eine politische Union zwischen einstmals souveränen Staaten ohne gleichzeitige Wirtschaftsunion nicht lange dauern würde“ (S. 328). Im zweiten Abschnitt skizziert er die Konsequenzen des Wegfalls der Zollmauern und der freien Beweglichkeit von Gütern, Menschen und Kapital für den dann entstehenden einzigen Markt. Dazu zählt er ein einheitliches Geldwesen, ein Zurückgehen der Regulierung einzelner Industrien und die Begrenzung der Staatseinkünfte. In Abschnitt drei setzt er sich mit der Frage auseinander, ob der Bund die bisherigen Planungs- und Lenkungsmaßnahmen der Einzelstaaten übernehmen sollte. Die auftretenden Schwierigkeiten exemplifiziert er am Beispiel der Zölle, grundsätzlich gelte das aber für allen Protektionismus. Der vierte Abschnitt versucht nachzuweisen, dass in einer Föderation/einem Bundesstaat weniger „regiert“ wird, wenn man keine Übereinstimmung erzielt. Lieber keine Gesetzgebung als einzelstaatliche Gesetzgebung sei die „Feuerprobe“ auf die Reife für eine Föderation. Schlupflöcher für dennoch bestehende einzelstaatliche Gesetzgebung sollten dadurch gestopft werden, dass dem Bund eine „negative Macht“ zukommen sollte, solche einzelstaatlichen Vorgehensweisen zu verbieten, ohne dass er sie selbst ausüben könnte. Der Bund habe die Aufgabe, ein „dauerhaftes Rahmenwerk“ zu schaffen, innerhalb dessen die „unpersönlichen Kräfte des Marktes“ möglichst ungehindert walten könnten. Der fünfte und letzte Abschnitt enthält ein allgemeines Plädoyer für den Liberalismus. Die Föderation könne nur dann Erfolg haben, wenn sie von einer „liberalen Wirtschaftsregierung“ angeführt würde, lautet die erste Feststellung. „Die Abschaffung souveräner Nationalstaaten und die Schaffung einer wirksamen internationalen Rechtsordnung sind die notwendige Ergänzung und logische Vollziehung des liberalen Programms“ (S. 341), so die zweite Feststellung.[2]

Im Stil ist der Aufsatz in dem für Hayek typischen aufgeblasenen, selbstgefälligen, blasierten Ton gehalten, im Inhalt eine Aneinanderreihung von Aussagen, Hypothesen, Vermutungen und Spekulationen, Hoffnungen und Wunschvorstellungen. Im Schlussabsatz rekapituliert er, dass es sich bei der Föderation um eine „Hoffnung“, ein „Ideal“ handelt. Von einer immanenten Logik, die von der Gründung der Föderation über den neuen Binnenmarkt (Wegfall der Zölle und anderer Protektionismen) zur „Abschaffung souveräner Nationalstaaten“ und einer internationalen liberalen Ordnung führt, ist die „Argumentation“ meilenweit entfernt.

Der Begriff der Föderation wird in Hayeks Aufsatz zwar nicht en Detail ausgefaltet, soviel aber ist erkennbar: Er enthielt auf jeden Fall – anders als bei einem bloßen Staatenbund – eine Zentralinstanz, auf die die zentralen Geschäfte der früheren souveränen Nationalstaaten übergehen sollten. Hayek spricht von einer gemeinsamen oder zentralen oder einer föderalen Regierung („common government“, S. 255, „central government“, S. 265, „federal government“, S. 261, S. 267), auch einer Unionsregierung („Union government“, S. 256). Von dem Gebilde spricht er als einer Union (durchgehend im Wechsel mit Föderation) bzw. zwischenstaatlichen Föderation (so im Titel), einer suprastaatlichen Organisation („suprastate organization“, S. 265 f.) bzw. einer internationalen Organisation („international organization“, S. 272).[3]

Die föderale Regierung sollte eine gemeinsame Geldpolitik und Fiskalpolitik (S. 259 f.) und die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik betreiben (S. 256 f.). Es sollte durchaus eine machtvolle Regierung sein, der auch, wie oben bereits angedeutet, ein Verbotsrecht für legislative Maßnahmen der Einzelstaaten zukommen sollte (S. 267).[4]

Interessant ist, dass Hayek offensichtlich von einem initiatorischen politischen Gründungs- oder Schöpfungsakt ausging, da er im ersten Teil des Aufsatzes ausführlich die Notwendigkeit der Ausdehnung der politischen Union auf das Gebiet der Wirtschaft, im heutigen Sprachgebrauch eine Wirtschaftsunion, begründet. Das Gebilde sollte weder eine Union noch ein Staatenbund, sondern ein Bundesstaat sein (S. 270), wohl am ähnlichsten der Doppelmonarchie, in die er hinein geboren wurde (S. 256). Insgesamt bleiben die Ausführungen dazu eher schemenhaft.

Ziel, Sinn und Zweck der Föderation: Marktmechanismus und Preisbildung sollten sich auf ihrem Territorium möglichst „rein“ entfalten können, d.h. ungestört durch Zölle, Subventionen und andere protektionistische Maßnahmen wie, modern ausgedrückt, Industriepolitik. Innerhalb des föderalen Binnenmarktes wäre der freie Fluss von Arbeit, Gütern und Kapital eine Grundvoraussetzung. Die gegebene und die sich ergebende Arbeitsteilung sollte allein aus dem Marktmechanismus resultieren und nicht durch politische Maßnahmen beeinflusst werden.

Das mit Abstand gewaltigste Hindernis auf dem Weg zur Erreichung dieses Ziels stelle, so Hayek, der Nationalstaat dar. Dieser Aspekt ist in verschiedener Hinsicht von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Neoliberalismus allgemein und speziell für Hayeks Föderationsüberlegungen. Unter historischem Blickwinkel war der Internationalismus aus der Ära des Goldstandards – die Idealwelt für die Regulierung der internationalen Arbeitsteilung – mit dem Ersten Weltkrieg untergegangen und so nach seiner Auffassung nicht wieder herstellbar. Aus diesem Epochenbruch gingen zum Leidwesen der Liberalen all die Nationenbildungen der Entkolonisierung, die Planungsgedanken in den entwickelteren Staaten und die Ansprüche auf nachholende Industrialisierung und industrielle Protektion in den weniger entwickelten Staaten hervor. Der in Hayeks Schrift aus dem Jahr 1939 ausgerufene Gedanke der Relativierung, Eindämmung, gar Zerstörung des nationalen Gedankens fand seinen Ausgangspunkt nicht nur dann, wenn voller Sehnsucht auf das 19. Jahrhundert zurückgeblickt wurde, sondern – positiv – auch in den Erfahrungen in der Doppelmonarchie, in der sie eine Trennung von Wirtschaftlichem (und Politischem) auf der föderalen Ebene und Kulturellem in den nationalen Untereinheiten wahrnahmen.

Die Beseitigung der wirtschaftlichen Grenzen in der und durch die Föderation wäre in der Lage, so der Gedanke, den Nationalismus und seinen Souveränitätsanspruch im Kern zu relativieren und zu überwinden. Der Nationalstaat und der Nationalismus, so Hayek, stehen für Gruppensolidarität und Einzelinteressen (S. 257), für Nationalstolz (des Arbeiters auf „seine“ Industrien) und nationale Stärke (S. 262), für Vorstellungen von Homogenität, gemeinsame Überzeugungen, Werte, Traditionen und nationale Mythen (S. 264). All diese Verwerflichkeiten des Nationalstaates ließen sich in einer Föderation brechen, sie verlören ihre Grundlage und würden im Keim erstickt. Gruppeninteressen, sei es von Industrien, Berufsverbänden oder ganzen Staaten, wären nicht mehr artikulierbar, da sie in einem größeren Ganzen aufgehoben wären. In der Föderation, so deutet es sich im Text an, würden Nationen in Staaten transformiert.

Hayek exemplifiziert den Gedanken am Beispiel der Zollpolitik in einer Föderation (S. 261 ff.) Er fragt: Ist es wahrscheinlich, dass der französische Bauer mehr für sein Düngemittel bezahlen will, um dem britischen Düngemittelproduzenten zu helfen? Würde der schwedische Arbeiter mehr für seine Orangen bezahlen wollen, um den kalifornischen Pflanzer zu unterstützen? Oder der kaufmännische Angestellte in London mehr für seine Schuhe oder sein Fahrrad mehr bezahlen wollen, um den amerikanischen oder belgischen Arbeitern zu helfen? Oder wäre der südafrikamische Bergarbeiter bereit, mehr für seine Sardinen zu zahlen, um den norwegischen Fischern zu helfen? Die genannten Herkunftsländer waren wohl als potentielle Mitglieder einer Föderation gedacht. Durch das Eigeninteresse verschwänden die Zollmauern im Inneren der Föderation, und ähnlich erginge es allen anderen Formen des Protektionismus. Wozu dann aber, so wäre zu fragen, eine Föderation gründen, es genügte doch weit unterschwelliger zu verfahren und eine Zollunion wie die EWG auf den Weg zu bringen?[5] Und weiter wäre zu fragen: Was ist mit dem Außenzoll?

Kritik: Ein wildes Gemisch von Spekulationen

Hayek unterliefen zwei Fehler: 1.) Er ging an keiner Stelle seines Textes auf die Frage ein, warum die Nationalstaaten bereit sein sollten, sich in zwischenstaatliche Föderationen zu begeben, in der sie doch in ihren politischen und wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten beschnitten werden sollten. 2.) Damit zusammenhängend hatte er die Kraft der Nationalstaaten und ihres Souveränitätsanspruchs völlig unterschätzt, ein Aspekt, der ihn später zu der Hinwendung der nationalen Basis der Marktwirtschaft brachte.

Die Auseinandersetzung mit politischen Realitäten gehörte nicht zu Hayeks Stärken. Auch fehlten ihm Bereitschaft und Wille dazu, sich damit zu beschäftigen. Mit den in seiner Lebensphase bestimmenden weltpolitischen Phänomen, dem Aufstieg und Niedergang des Faschismus und dem Kalten Krieg, setzte er sich nicht oder nur am Rande auseinander. Seine Themen lagen auf einer ganz anderen Ebene. Auch tauchen in seinem Aufsatz konkrete und anzustrebende Föderationen nur en passent auf. Am Ende seines Buches „Der Weg zur Knechtschaft“ findet sich folgender Hinweis: „Ich glaube, … daß ein Grad von Kooperation (Herv.d.Verf.) zwischen, sagen wir, dem Britischen Reich und den westeuropäischen Staaten und vermutlich (sic!) den Vereinigten Staaten von Amerika verwirklicht werden könnte“ (Hayek 1945, S. 292). Von Föderation war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr die Rede, es wäre auch ein geradezu abwegig-tollkühner Gedanke gewesen. In dem einige Jahre älteren Interstate-Federation-Text fehlen konkrete Hinweise auf denkbare Föderationen der Zukunft ganz.[6] Er nennt lediglich das British Empire, die USA, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn und die Schweiz als existierende Föderationen.

Auf eine Frage, eine nicht ganz unwesentliche, geht Hayek in seinem Aufsatz nicht ein, nämlich die Frage, warum die Nationalstaaten, den Schritt in die Föderation wagen sollten, warum sie ihre Selbstentmachtung hinnehmen sollten, warum sie sich sehenden Auges einer neuen, über ihnen schwebenden Macht der föderalen Regierung, ihre bisherigen Kompetenzen überlassen sollten. Die Frage nach dem staatspolitischen Motiv zum Übergang in die Föderation bleibt bei Hayek außen vor.

Bekanntlich lebt der Nationalgedanke, wie Hayek selbst hervorhebt, von Mythen, Ideologien und wirklichen oder eingebildeten Gemeinsamkeiten, Phänomen, die nicht einfach zu überwinden sind und sich in politischen Schöpfungsakten nicht einfach beiseiteschieben lassen, die Beharrungskräfte sind groß. Dem Nationalpolitiker oder Politiker in der Nation ist nichts so wichtig, um es tautologisch zu formulieren, wie die Nation, zumal in Demokratien die Legitimation daran hängt. Warum also sollte es geschehen, dass sich Nationen in Staaten verwandeln, sich verflüchtigen und selbst aufheben?

Slobodian äußert sich in seiner Monographie zu diesem Thema gar nicht, Streeck, der sich ausführlicher mit Hayeks Text beschäftigt, hat dazu eine Idee (Streeck 2013, S. 141 ff.). Es gehe dem Österreicher – dem Zeitkontext folgend – um die Bedingungen einer stabilen internationalen Friedensordnung, die nötigte die Nationen in eine Föderation, die nach innen schlichtend wirke und nach außen Sicherheit verschaffe.[7] Es kann bezweifelt werden, dass solche „Externalitäten“ in Hayeks Gedanken eine Rolle spielten, es sei dahingestellt. Den Gründungsakt der Föderation jedenfalls stellte sich Hayek offensichtlich einfach vor, sein argumentatives Hauptinteresse galt der Begründung der Notwendigkeit, dass eine Politische Union unbedingt eine Wirtschaftsunion nach sich ziehen sollte und dass die Föderation wirtschaftliche Liberalisierungen in Gang setzen könnte.

Was Hayeks Aufsatz auf jeden Fall nicht ist, ist eine systematische Überlegung zu einer internationalen Föderation. Es handelt sich vielmehr um ein Sammelsurium von Hypothesen, Annahmen und Vermutungen, um Setzungen unterschiedlicher Plausibilität. Eine schlüssige „Theorie der internationalen Föderation“ stellen die Überlegungen nicht dar. Genau davon geht aber Streeck aus, wenn er auf der Basis von Hayeks Aufsatz formuliert: „Föderation bedeutet .. unvermeidlich Liberalisierung“ (Streeck 2013, S. 144), und er behauptet, dass eine internationale Föderation „notwendigerweise wirtschaftspolitisch liberal sein muss“ (ebd., S. 145). Föderalismus und Föderation – im Sinne von Macht- und Interessenteilung – passen zwar eher in neoliberale Vorstellungswelten und lassen sich in ihrem Sinne ausnutzen, aber es gibt keine inhärente Logik, die föderale Gebilde „unvermeidlich“ und „notwendigerweise“ zu liberalen Gebilden machen.[8] Streecks Problem ist, dass er eine Idee mit einer Logik verwechselt – was passieren kann.

Die EU als Emanation des Hayekschen Föderationsplans?

Nichts von dem, was sich Hayek 1939 zu einer „Interstate Federation“ ausmalte, hat sich 1957 (EWGV) und/oder 1992 (Vertrag von Maastricht) verwirklicht, ganz zu schweigen von IWF, NATO oder anderen internationalen Institutionalisierungen. Daher nimmt es auch kein Wunder, dass er sich in seiner dritten und letzten Lebensphase, wie eingangs erwähnt, anderen Themen zuwandte. Die Richtung, in die sich seine Gedankenwelt bewegte, kehrte sich um, weg vom Internationalen hin zu Grundfragen der Marktwirtschaft (auf nationaler Basis), der Verfassung politischer und rechtlicher Gemeinwesen und die Sozialphilosophie. Die europäische Integration und die globalen Institutionalisierungen strafte er mit Nichtbeachtung, dabei hätte doch, folgt man den Thesen seiner Deuter, aller Grund zum Jubel bestanden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien der Nationalstaat in Europa bis in seine Grundfesten diskreditiert, in Deutschland war es die rassistische Variante des Nationalismus, im Rest Europas die Schwäche im Kriegsverlauf. Die frühen Europäer knüpften ihre Hoffnungen daran und setzten den Einstieg in eine sofortige politische Vereinigung Europas auf ihre Agenda. Der Schwung hielt aber nicht lange. Mit der Gründung der Montanunion, die mit der Hohen Behörde über eine machtvolle supranationale Institution verfügte, war davon zwar noch etwas zu erahnen, die wenige Jahre später verabredete EWG schwächte schon wieder das supranationale Prinzip, indem nicht die Kommission das Entscheidungsorgan der Gemeinschaft wurde, sondern der nationalstaatliche Ministerrat. Insgesamt war diese Art von Wirtschaftsunion meilenweit von der Hayekschen Föderation aus dem Jahr 1939 entfernt. Und der Nationalstaat wurde in der „Föderation“ EWG nicht geschwächt und in einer föderalen Überwölbung eingedämmt. Die historische Forschung hat das Gegenteil bewiesen, die „Föderation“ EWG trug zur Festigung des Nationalstaates bei (Milward 1992).

Im Kern war die EWG eine Zollunion, nicht mehr. Man muss sich an Hayeks Kerngedanken in seinem Aufsatz erinnern: Eine Föderation sollte durch einen politischen Schöpfungsakt gegründet werden, um die Zölle und alle die anderen verhassten Protektionismen zum Verschwinden zu bringen, ein in gewisser Weise deduktionistischer Gedanke. Wir erinnern uns an die kapriziösen Überlegungen zum kalifornischen Orangenpflanzer und den schwedischen Arbeiter, die sich mit ihren Interessen im Wege stünden, wenn erst einmal die Föderation gegründet ist. In den fünfziger Jahren bedurfte es in Westeuropa keiner Föderation, um die Zölle in der Gemeinschaft abzuschaffen. An dieser Stelle – und an vielen anderen – zeigt sich, wie abwegig und realitätsfern Hayeks Überlegungen waren. Wiedererstarkte Nationalstaaten verständigten sich auf dem begrenzten Gebiet der Handelsliberalisierung, ganz ohne Föderation.

Und die heutige EU? Finden sich in ihr – wenigstens – Spurenelemente der Hayekschen Gedankenwelt, die es rechtfertigen, dass von einer den Nationalstaat domestizierenden politisch-ökonomischen Ordnung gesprochen werden kann? Oder kommt sie einer „hayekschen Wirtschaftsverfassung“ (Streeck 2014) gleich? Von nichts davon kann die Rede sein. Ein über den Nationalstaaten kreisendes Hayekianischen schwarzes Loch, das sie unwiderstehlich aufsaugt und sie zu bloßen Staaten herabsetzt, existiert nur in den vom Meister berauschten Köpfen der Europakritiker. Es sind die in den Räten, dem großen und dem kleinen, zusammenkommenden Nationalstaaten, die die Geschicke des europäischen Projekts steuern. Der Europäische Rat als Kapitän auf dem Schiff lässt die Kommission gewähren (oder auch nicht), er stattet sie mit Aufträgen aus und gibt die Navigation des Schiffes aus. Von einer Zentralregierung der Föderation, wie Hayek sie vorschlug, ist selbst mit Ferngläsern nichts zu sehen. Und im Übrigen: Die Nationalstaaten können in der „Union“ ihre eigene Suppe kochen (die Iren mit ihrer Dumping-Steuerpolitik), setzen ihre eigenen Interessen durch (die Deutschen für ihre Autoindustrie) und können im Zweifelsfall austreten (die Briten) usw. usf.

Und die „hayeksche Wirtschaftsverfassung“? Sofern damit die Währungsunion ohne Wirtschaftsunion, die Regeln und die sonstigen supranationalen „Gesetze“ gemeint sind, haben die Krisen der vergangenen Jahre gezeigt, dass der Traum der Hayekianer und die Vermutung der Europakritiker, ein auf basalen Regeln und Mechanismen beruhender Druck könne die Nationalstaaten disziplinieren, nicht Wirklichkeit geworden ist. Sowohl auf „föderaler“ wie auf nationaler Ebene wurde in den Marktprozess interveniert, was das Zeug hielt.

Der Kerngedanke von Hayeks Föderationsplan war, durch die Staatsbildung auf höherer Ebene die Preisbildung in der größtmöglichen „Reinheit“ zur Geltung zu bringen. Am Beispiel der Preisbildung auf dem Markt für den Staatskredit zeigte sich in und nach der Finanzkrise, dass die europäischen Akteure nicht gewillt waren, die sich plötzlich entwickelnden Marktgegebenheiten hinzunehmen. Neue Institutionalisierungen (ESM) und neuartige Interventionen (EZB) sorgten dafür, dass der differenzierte Zins auf den Staatskredit für die europäischen Staaten eingehegt wurde. Er besteht zwar auf dem eingehegten Niveau weiter, die sich abzeichnende Entwicklung aber ist klar: in der längeren Frist wird es zu einem einheitlichen Zins auf den europäischen Staatskredit kommen, ob in Gestalt von Eurobonds oder auf anderem Weg.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, ist aber eine Konzession einzuräumen. Es gab im ersten Jahrzehnt der Währungsunion tatsächlich Versuche, Hayekianisches Gedankengut in die Währungsunion zu importieren, allerdings nicht solches aus dem Aufsatz von 1939. Die Idee des in der Währungsunion organisierten Staatenwettbewerbs machte die Runde (vgl. dazu Polster 2022, S. 109 ff.). In Hayeks Aufsatz zur Föderation tauchte dieser Gedanke nur ganz am Rande auf, sozusagen unter ferner liefen (S. 268). Der von deutschen „Hayekianern“ ins Spiel gebrachte Versuch, der von der Merkel-Regierung willfährig aufgegriffen wurde, ist aber kläglich gescheitert. Staatenwettbewerb hatten die Mitgliedstaaten der Währungsunion auf den Währungsmärkten schon vor Maastricht, den föderalen Wettbewerb in der Währungsunion wollten sie sich nicht wieder antun. Das Projekt verschwand in der Versenkung, seither ist nur noch von Europa als Ganzem die Rede.

In der Wirtschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zwar zu einigen Internationalisierungen, die waren aber weit entfernt von Hayeks Föderationsplan aus dem Jahr 1939. Von großem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie mit dem Kapitalverkehr umgegangen wurde. Sowohl die IWF-Ordnung wie auch der EWGV sahen in dieser Hinsicht strikte Kontrollen vor, um eine souveräne Wirtschaftspolitik der Nationalstaaten zu ermöglichen, was eine herbe Enttäuschung für die auf dem Lippmann-Kolloquium und wenige Jahre später am Mont Pèlerin zusammengekommen liberalen Geister sein musste. Die m.o.w. verrenkten Überlegungen Hayeks zu einer Föderation, um die Nationalstaaten gewissermaßen auszutricksen, ihre Souveränität zu unterwandern und aus Nationen subordinierte Staaten zu machen, waren auch nicht vonnöten, um die internationale Ordnung in ihrem Sinne zu transformieren. Es genügte der Ansatz an der Regulation des Kapitalverkehrs. Es waren einzelne Nationalstaaten – zunächst Westdeutschland, dann die USA und andere –, die in das dichte Gewebe des kontrollierten Kapitalverkehrs Löcher schossen und nach und nach die Regel des ungehinderten freien Kapitalverkehrs etablierten. Aus der Welt der Nationalstaaten, zu der so manche Europakritiker zurückwollen, kam der Impuls für den Umbau der internationalen Ordnung, ganz ohne Föderation.

Fazit

Hayek kam in seiner späteren Lebensphase wohl selbst zu der Einsicht, dass die politischen Überlegungen zur Gründung einer Föderation aus dem Jahr 1939 untauglich waren, um dem Liberalismus auf internationaler Ebene zum Durchbruch zu verhelfen. In der Konsequenz wandte er sich daher, wie angedeutet, Fragen zu, die in gewisser Weise auf nationaler Ebene angesiedelt sind, zu schweigen von den sozialphilosophischen Überlegungen. Zwei Komplexe seien herausgegriffen: 1.) Politiktheoretisch beschäftigte er sich mit der Frage, wie die (nationale) Demokratie eingeschränkt werden könnte, da sie die größte Gefahr für das autonome Marktsystem darstelle. Das Ergebnis war eine Art Ständedemokratie, „Demarchie“ genannt. 2.) Ökonomietheoretisch verfeinerte, fundamentalisierte und verlängerte er den Wettbewerbsgedanken auf das Geldwesen (1974). Die Entnationalisierung des Geldes via private Gelder emittierender Banken lautete sein Vorschlag, nicht staatlicher Währungswettbewerb oder eine die Nationalstaaten unterjochende Währungsunion. Die Zerschlagung des nationalen Geldwesens, nicht internationale Währungsunionen oder nationaler Währungswettbewerb fanden sein Interesse, er begab sich in seinen Überlegungen in das Innere der Marktwirtschaft (und der Demokratie, die er nicht als Wert fasste und oft genug als Hindernis für die freie Entfaltung der Marktmechanismen wahrnahm).

Hayeks Aufsatz, den die von ihm Berauschten zu einem Modell hochstilisieren, wird maßlos überschätzt, enthält verquere Gedankengänge und landete letztlich in einer Sackgasse. Die Realität ist vollständig an ihm vorbeigegangen. Der Nationalstaat muss nicht durch eine Föderation gebändigt werden, um die Liberalisierung durchzusetzen, das erledigen die Nationalstaaten schon selbst. Es verhält sich gerade umgekehrt so: Wenn die Nationalstaaten nicht in übergeordnete Bündnisse eingebunden werden, die sie zu Mäßigungen, Kompromissen und Eingeständnissen zwingen, entwickeln sie aus sich heraus Alleingänge, „First“-Strategien und Wettbewerbsphantasien im Sinne des Liberalismus, da sie in ihrem Ausgangspunkt – der Priorisierung des Eigenen – Brüder im Geiste sind. Die „Liberalisierungsmaschine Europa“ (Streeck 2014a) ist ein Hirngespinst. Gäbe es Europäisierung und europäische Einigung nicht, hätten ungezügelte liberale Nationalstaaten noch ganz andere Entfaltungsmöglichkeiten.

In Hayeks „Knechtschaft“-Kampfschrift findet sich eine schöne Metapher, die als Desiderat seiner Gedankengänge zum Föderalismus gelten kann: Die „übernationale Instanz“ habe die Aufgabe, die Staaten von „Regisseuren“ in „Darsteller“ zu verwandeln (Hayek 1945/1991, S. 286). Auf die EU transponiert ließe sich der Unsinn von dem Föderalismus als Liberalisierungsmaschine nicht besser zum Ausdruck bringen: Die „Regisseure“ des europäischen Projekts sind die Nationalstaaten, die „Darsteller“ sind die europäischen Institutionen, ihre Repräsentanten und die ideologischen Bannerträger. Wer das europäische Theater nicht von innen kennt, sollte sich dazu nicht äußern.[9]

Slobodian ist so schlau, dass er die EU nicht expressis verbis als Emanation der Hayekschen Föderationsüberlegungen benennt. Er zitiert nur den Vertreter der These (Streeck). Er ist auch so schlau, nicht en Detail auf den Aufsatz einzugehen, er hält sich an die Überschrift und leitet daraus einen obskuren „Ordoglobalismus“ ab (S. 148 ff.). Ansonsten liest er in den Aufsatz Dinge hinein, wahlweise auch heraus, die nicht ihm stehen.[10]

Das Schauermärchen von der Angst einflößenden Hayekianischen Föderation, die in der EU wiederkehrt – es ist nur ein Schauermärchen, das von Sozialwissenschaftlern erfunden und erzählt wird, um Gruseln zu erregen. Weder zu Ehrfurcht (Hayek als Seher) noch zu Angst (um Europa oder den Nationalstaat) besteht Anlass. Das unter nationalstaatlicher Ägide funktionierende Europa entwickelt sich nach anderen Logiken und Gesetzmäßigkeiten, als es Hayek in seinem Aufsatz für eine fiktive Föderation entworfen hatte.

Literatur

Biebricher, Thomas 2021: Die politische Theorie des Neoliberalismus, Bonn.

Hayek, Friedrich August von 1939: The Economic Conditions of Interstate Federalism. In: Ders., Individualism and Economic Order, Chicago und London 1948/1980.

Hayek, Friedrich August von 1945/1991: Der Weg zur Knechtschaft, München.

Hayek, Friedrich August von 1976: Die wirtschaftlichen Voraussetzungen föderativer Zusammenschlüsse. In: Ders., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Salzburg.

Milward, Alan S. 1984/1992: The Reconstruction of Western Europe 1945-51, London.

Polster, Werner 2022: Die Herausbildung einer europäischen Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsregierung, Zahlungsbilanz und wirtschaftspolitische Koordination, Marburg.

Slobodian, Quinn 2020: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Berlin (2. Auflage).

Streeck, Wolfgang 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Bonn.

Streeck, Wolfgang 2014a: Liberalisierungsmaschine Europa. Interview in Carta vom 6. Januar.

Streeck, Wolfgang 2014b: Small State nostalgia? The currency union, Germany, and Europe: A reply to Jürgen Habermas. In: Constellations 21/2.

[1]              Der Aufsatz erschien erstmalig im September 1939 in der Zeitschrift „New Commonwealth Quarterly“, V, No 2. Er wurde neu aufgelegt in Hayeks Sammelband „Individualism and Economic Order“ aus dem Jahr 1948 (Chicago) und in einer weiteren Auflage desselben Bandes (Chicago und London 1980). Von diesem Sammelband gibt es zwei deutsche Übersetzungen, eine ältere aus dem Jahr 1952 (Erlenbach-Zürich) und eine neuere aus dem Jahr 1976 (Salzburg), beide nur noch antiquarisch erhältlich. Eine Art Kondensat des Aufsatzes findet sich am Schluss von Hayeks „Knechtschaft“-Buch. Im Vorwort der zweiten deutschen Ausgabe misst Hayek dem Aufsatz zwar nach wie vor „Bedeutung“ zu, qualifiziert ihn aber als den zeitlichen Umständen von 1939 folgende „Gelegenheitsarbeit“.

[2]              Die Zitate in diesem Absatz sind der zweiten deutschen Auflage von 1976 entnommen.

[3]              Die Seitenangaben beziehen sich hier auf die englische Fassung von 1980. In der deutschen Übersetzung wird meist von einem „Bundesstaat“ gesprochen, nicht von „Föderation“.

[4]              Bei Hayek-Interpreten und -Deutern geht der Charakter der Föderation als starkem, machtvollen Gebilde mit einer ebenso ausgestatteten Regierung gänzlich verloren. Slobodian unterschlägt diesen Aspekt vollständig und spricht stattdessen von einer „lockeren Föderation“ (Slobodian 2020, S. 149) und reduziert sie auf eine „Freihandelsföderation“ (ebd., S. 148). Das passt natürlich besser zu der späteren Freihandelsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, in der sich angeblich die Neoliberalen verwirklichten. Wir haben dagegen gesehen, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Föderation stellte bei Hayek ein machtvolles staatliches Gebilde dar. Dass es sich bei dieser Föderation – wie bei Mises (s.u.) – um eine recht freihändig hergestellte Konstruktion handelte und einen Abweg in die mit Luftschlössern verbaute Welt wilder Spekulationen handelte, steht auf einem anderen Blatt.

[5]              Im „Weg zur Knechtschaft“ führt er aus: „In Wirklichkeit liegt einer der Vorzüge der Föderation in der Möglichkeit, sie so zu konstruieren, daß die meisten schädlichen Maßnahmen der Planung erschwert werden, während der Weg für alle wünschenswerte Planung offenbleibt“ (Hayek 1945, S. 288).

[6]              Die Vertreter der „Genfer Schule“ (Slobodian 2019, S. 16 ff.) hatten ihre Wiege in der KuK-Monarchie Österreich-Ungarn, einer Föderation. Einen Hinweis auf die Politikfremdheit der Österreicher bzw. Genfer findet man bei Hayeks Weggefährten Ludwig von Mises, der sich auch seine Gedanken zu Föderationen machte. Die Doppelmonarchie galt ihm (und andeutungsweise auch Hayek) als ein Modell für die zukünftige internationale Ordnung, da sie auf der Trennung von Staat und Nation beruhte und in ihr die nationale Souveränität, das Hauptproblem nach dem Ersten Weltkrieg, relativiert und begrenzt werde. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1941 schlug Mises als Konkretion des Föderationsgedankens eine „Demokratische Union Osteuropa“ („Eastern democratic union“) vor, die ein Gebiet von der Ostsee über die Adria und die Ägäis bis zum Schwarzen Meer und von der Ostgrenze der Schweiz und Italiens bis zur Westgrenze Russlands umspannen sollte (Slobodian 2019, S. 151 ff., insb. S. 159 f.).

[7]              Hayeks Loblied auf die friedensstiftende Wirkung der Föderation ist naiv und geschichtsblind. Es lassen sich haufenweise Beispiele anführen, die auf innere Instabilitäten von Föderationen (US-Bürgerkrieg) und äußere Aggressionen (die Doppelmonarchie vor dem Ersten Weltkrieg) deuten. Begreift man das britische Empire als Föderation (und all die anderen Kolonialmächte), dann kann von friedensstiftender Wirkung schon überhaupt nicht mehr gesprochen werden. Beispiele für die innere Instabilität von Föderationen aus der jüngeren Geschichte: die sich abzeichnende Auflösung der Großbritanniens, einschlägige Tendenzen in den USA, die Auflösung der Tschechoslowakei, der Zerfall Jugoslawiens.

[8]              Das föderale Gebilde USA schaffte es in der Vergangenheit und der Gegenwart immer, sich im Innern und nach außen hin mit den dunklen Mächten (Hayek: „powers of darkness“, S. 266) zu verbünden und Regulationen im Inneren und Protektionismus nach außen zu praktizieren. Das föderale Gebilde Bundesrepublik Deutschland wiederum lässt für den „Preis der Arbeit“ nicht zu, dass Preisbildung nach „einzelstaatlichen“ oder regionalen Gegebenheiten erfolgt, sondern kennt Tariflöhne, allgemeine Renten und sonstige Sozialleistungen.

[9]              Streecks Vorschlag eines Zurück zum Nationalstaat (Streeck 2013, S. 246 ff.) wäre ein tautologisches Vorhaben. Dass es um mehr geht als die Auflösung der Währungsunion und die Wiedereroberung eines wirtschaftspolitischen Instruments, der Abwertungspolitik, zeigt sich in seiner Romantisierung des Nationalstaats. Die Nation gilt ihm als „eigen-artige wirtschaftliche Lebens- und Schicksalsgemeinschaft“ (ebd., S. 247). „Lebens- und Schicksalsgemeinschaft“ – das kennt man doch irgendwoher.

[10]            Slobodians ansonsten sehr lesenswerte Analyse setzt sich mit der Entstehung, Entwicklung und dem Einfluss der neoliberalen Ideologie und ihrem Widerhall in der Globalisierung des 20. Jahrhunderts auseinander. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es sich bei ebendiesem Jahrhundert um das „neoliberale Jahrhundert“ handele (Slobodian 2020, S. 376). Einmal abgesehen davon, dass man mit mindestens dem gleichen Recht vom „Jahrhundert des Keynesianismus“ sprechen könnte, muss die Qualifizierung doch erstaunen. Das institutionelle Resultat, so seine These, für die neoliberale Gestaltung des 20. Jahrhunderts war die 1995 gegründete WTO, an und in der Hayekianer fleißig mitwirkten (ebd., S. 343 ff.). Ihre Blütezeit war aber schon 1999 wieder vorbei, als in Seattle ihre Gegner und Kritiker zusammenkamen und eine Tagung verhinderten (ebd., S. 389 ff.). Heutzutage blickt man, wenn man die WTO in Augenschein nimmt, auf eine Ruinenlandschaft.

Die Herausbildung einer europäischen Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsregierung, Zahlungsbilanz und wirtschaftspolitische Koordination

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist herausbildung.pngWerner Polster, Die Herausbildung einer europäischen Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsregierung, Zahlungsbilanz und wirtschaftspolitische Koordination

• 237 Seiten
• ISBN 978-3-7316-1516-3
• eBook 24,44 € (www.metropolis-verlag.de)
• Campuslizenz auf Anfrage beim Verlag

Das Regierungssystem der Europäischen Union (EU) ist weiter vorangeschritten, als es im Lissabon-Vertrag geregelt ist und von der Öffentlichkeit registriert wird. Das gilt nicht zuletzt für die Wirtschaftspolitik. Die EU verfügt nach dem Krisenjahrzehnt (2010-2020) über alle Elemente einer wirksamen Wirtschaftspolitik: eine Institution, ein Verfahren und in Rudimenten auch die Ziele und Mittel. Im Zentrum des wirtschaftspolitischen Regimes der EU steht der Europäische Rat, der nicht nur Europas allgemeinpolitische Regierung ist, sondern auch als Wirtschaftsregierung fungiert.

Vor dem Hintergrund der europäischen Verträge und einschlägiger Berichte zeichnet der Autor die Genese der europäischen Wirtschaftspolitik nach. Er arbeitet heraus, dass der EWG-Vertrag den einzig sinnvollen Ansatz für Wirtschaftsintegration wählte, der soziale Transfers ausschließt: den Ausgleich der Zahlungsbilanz, ein Ansatz, der an Keynes‘ Bancor-Plan angelehnt ist. Der Ansatz ging aber im Laufe der Zeit verloren, und es festigten sich extreme Überschuss-Defizit-Positionen, die durch die verschiedenen Wechselkursordnungen der Nachkriegszeit noch erhärtet wurden. Als hochproblematisch erwiesen sich in diesem Zusammenhang die über sieben Jahrzehnte hinweg bestehenden Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands. Virulent war dieses Problem bis in die Gegenwart, es verursachte nicht nur die Eurokrise, sondern steht auch einem erfolgreichen Integrationsverlauf in der Zukunft im Wege.

Wirtschaftspolitische Koordination in Europa wurde bis in die jüngste Zeit einem Marktprozess überlassen, den die diversen Wechselkursordnungen nicht effektiv zu steuern vermochten. Erst die Euro-krise und die Pandemiekrise brachten mit dem Europäischen Semester und der makroökonomischen Steuerung Elemente für eine rationale europäische Wirtschaftspolitik. Für die Zukunft bleibt, so der Autor, das Problem des Ausgleichs der Zahlungsbilanz, nach innen wie nach außen.

Die Europäer sollten sich von dem bisherigen Leitbild der europäischen Wirtschaftspolitik, dem Staatenwettbewerb und der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, verabschieden und sich auf ihr Inneres, d.h. den Ausgleich der Zahlungsbilanz und damit auf den Binnenmarkt zurückbesinnen. Das neue Leitbild erscheint auch geeignet, den politischen Integrationsprozess positiv zu beeinflussen.

Geopolitisch auf der Höhe der Zeit – Europapolitisch mitunter im Hinterwald. Klaus von Dohnanyis Intervention zur internationalen Politik vor dem Ukraine-Krieg

Klaus von Dohnanyi, Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, Siedler Verlag, München.

Der Titel kündigt es an, nationale Interessen sind für Dohnanyi der Schlüsselbegriff für die Analyse der internationalen Beziehungen. Er vertritt in dem Buch, das vor Ausbruch des Ukraine-Krieges erschienen ist, Thesen, die, wie wir sehen werden, für den einschlägigen Mainstream in Deutschland vom Gottseibeiuns stammen könnten und allesamt auf den historischen Müllhaufen gehören. In einer der aufgeputschten Talkshows nach Ausbruch des Krieges hat Dohnanyi aber standhaft zu Protokoll gegeben, dass er nichts von seinen Ausführungen zurücknehmen müsse.

In Kapitel II („Deutschland und Europa zwischen den Interessen der Großmächte“) entwickelt Dohnanyi zunächst den Gedanken, dass der Nationalstaat das „Fundament“ (22) bilde, auf dem die Interessen ermittelt werden müssten. Beachtlich ist dann die erste Konkretisierung, dass der Begriff der nationalen Interessen in Demokratien auf Subjektivität beruhe. Den Begriff der „Wertegemeinschaft“ hält er für „schwammig“ (23). „Interessen“ haben etwas mit historischen Überzeugungen zu tun, erfährt der Leser weiter, und elementar sei das Ausmachen der Interessen anderer Nationen, hier: der USA, Chinas und Russlands.

Für die USA hält Dohnanyi u.a. fest, dass sie an einer „angeborenen Schwäche als ‚exzeptionelle‘ Nation“ leide (30), deren Tradition es sei, die „Verschleierung ihrer Machtinteressen mit humanitären Argumenten“ (31) vorzunehmen. Ergo: „Die Interessen der USA sind immer hart geopolitisch, ökonomisch und tief verwurzelt in ihrem Selbstverständnis als ‚exceptional nation‘“ (ebd.). Seit dem 19. Jahrhundert gäbe es eine „imperialistische Grundlinie US-amerikanischer Außenpolitik“ (32). Europa sei im Verständnis der US-Außenpolitik lediglich ein „Brückenkopf“ (Zbigniew Brzezinski), zugespitzt gelte: „Europa muss sich endlich eingestehen: Wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren niemals wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitbestimmung“ (37).

Wer bei klarem außenpolitischem Verstand wollte dem widersprechen? Außer natürlich der neuen Fast-Allparteien-Koalition in Deutschland, die vor und nach der russischen Intervention einer geopolitischen Amnesie erlegen war. Auch das gehört zur Zeitenwende.

Als „Kern der chinesischen Interessen“ konstatiert Dohnanyi, dass diese „vermutlich nicht auf eine militärisch gestützte Expansion gerichtet“ seien (43). Die USA wollten Europa in ihren Weltmachtkonflikt als Teil der westlichen „Wertegemeinschaft“ einbeziehen, was aber nicht im deutschen und europäischen Interesse liegen könne (46). Dass Europa den USA bei der Eindämmung Chinas behilflich sein könnte, hält der Autor nicht nur für unrealistisch, sondern für „höchst gefährlich“ (52). Der „konfrontative Kurs der USA“, „Bidens China-Doktrin“ seien ein weiterer „gefährlicher Fehler des Westens“ (53). Eine Wiederherstellung der „Weltmacht“ USA mit deutscher und europäischer Hilfe läge nicht in deutschem und europäischem Interesse (54). „Aus der Sicht des von bitteren Erfahrungen geprägten Europa ist die Konfrontation der USA mit China, die Trump begann und die Biden nun leider verschärft und unerbittlicher vorantreiben will, eine Tragödie“ (54). Kooperation in Asien, nicht Konfrontation sei angesagt. Wenn in Asien eine Kriegsgefahr drohe, dann eher wegen den USA (55 f.). Wenn Europa etwas für die USA tun könne, dann sie davon zu überzeugen, sich zu mäßigen (56).

Der Leitgedanke zu Russland findet sich gleich am Anfang des Unterkapitels: „Die Beziehungen Deutschlands und der EU zu Russland werden von den USA so einseitig dominiert wie gegenüber keinem anderen Land der Welt, auch nicht gegenüber China“ (57). Einige Passagen weiter findet sich folgender interessanter Vergleich: Russland kann „seine autokratische Tradition vermutlich ebenso wenig über Nacht ablegen wie die USA ihre Überzeugung, als die ‚auserwählte‘ Nation ein Recht auch auf eine gewaltsame Gestaltung einer Weltordnung in ihrem Sinne zu haben“ (59). Und für die in dieser gegenwärtigen Zeit allüberall wandelnden Prediger des Völkerrechts gibt Dohnanyi zu bedenken: Die USA haben in ihrer Geschichte schon häufig genug das Völkerrecht gebrochen, z.B. bei der Anzettelung des zweiten Irak-Kriegs. Und so paradox es klingen mag: Die russische Syrienpolitik entsprach dem Völkerrecht, während die militärische Unterstützung der Aufständischen (zu großen Teilen aus Terroristen bestehend) in Syrien durch die USA völkerrechtswidrig war.

Ausführlich geht der Autor auf die Frage der Osterweiterung, besser Expansion der Nato ein. Ehemalige US-Botschafter in Moskau werden in den Zeugenstand gerufen, die das alle für hochproblematisch hielten und davon abrieten, auch Hans-Dietrich Genscher, der ein Gegner der Osterweiterung war und James Baker, der US-Außenminister, der Michail Gorbatschow 1990 versicherte, dass es über Deutschland hinaus, keine Osterweiterung der Nato geben würde. Dohnanyi wundert sich, warum das in Deutschland „verschwiegen“ (67) wird. (Die Zusicherung des Westens materialisierte sich übrigens im Zwei-plus-Vier-Vertrag: dort wurde verfügt, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR weder Atomwaffen gelagert noch Nato-Truppen stationiert werden dürfen.) Nach der russischen Invasion in der Ukraine wird er sich über die Relativierungskünstler wundern, die die Zusicherung des Westens herunterhistorisieren und aus einer anderen Zeit stammend relativieren. Tatsächlich war es dann so, dass im um sich greifenden Siegestaumel unter der Clinton-Regierung die Osterweiterung bis an die russische Grenze vorangetrieben wurde. Der in den USA (und anderswo) bestehende Glaube, zu jedem historischen Zeitpunkt stelle sich die Frage von Freiheit und deren Gegenteil hält Dohnanyi für einen „grundsätzlichen Irrtum“ (70). Demokratie habe ihre Voraussetzungen, Dohnanyi nennt „gesellschaftliche Entwicklungen“ (71), mehr noch, so ließe sich hinzufügen, materiell-wirtschaftliche. Und abschließend: „Es waren die USA, die nach 1990 ohne wirklichen Grund die Konfrontation mit Russland fortsetzten“ (73).

Gibt es überhaupt eine transatlantische Wertegemeinschaft zwischen den USA und Europa, fragt Dohnanyi auf Seite 75. Die Antwort fällt eindeutig aus: „Das heutige Europa und die heutigen USA sind sich in ihren Werten zutiefst fremd“ (80). Als schlagende Argumente führt der Autor u.a. an: In den USA, in der Wahlkampf nur mit Hunderten von Millionen Dollar geführt werden könne, herrsche eine „plutokratische Demokratie“ (76). Der Unterschied zu oligarchischen Systemen verschwimmt. Schon fundamentale sozialstaatliche Interventionen (Obama Care) sind nicht durchsetzbar. Die exzeptionelle Nation unterwirft sich „natürlich“ nicht dem Internationalen Strafgerichtshof, „targeted killing“ im Ausland ist völlig unhinterfragt und wird von den Priestern des Rechtsstaats und Völkerrechts wohlwollend hingenommen. Nicht einmal Freundschaft herrsche mehr zwischen Europa und den USA. Gegenüber Europa werde rücksichtslose Interessenpolitik (Ausbootung Frankreichs bei U-Boot-Geschäft mit Australien) und Spaltungspolitik (Irakkrieg, Nord stream 2) betrieben. Und schließlich ein interessantes Gedankenexperiment: „So wie die USA ihre Werte leben und wie sie sich selbst verstehen, könnte die EU sie als Mitglied gar nicht aufnehmen“ (80). Wird über so etwas im wertegeleiteten Europa eigentlich nachgedacht?

In Kapitel III („Kein Frieden für Europa?“) beschäftigt sich Dohnanyi zunächst mit der Frage des militärischen Schutzes Europas durch die Nato. Er hält zunächst fest, dass die USA diesbezüglich die Entscheidungen in eigener Hand behalten. Die Grundlage für deren Entscheidungen bilde nach wie vor die Strategie der „flexible response“. Der Autor zitiert Biden: „Solange nicht die USA selbst angegriffen werden, wird ein Einsatz der Atombomben nicht erfolgen“ (91). Daraus folgt u.a., dass bei einer terrestrischen Aggression Russlands die von den USA in Europa gelagerten Atomwaffen nicht zum Einsatz kämen. „Flexible response“ bedeute, dass das Kriegsgeschehen ausschließlich in das angegriffene Gebiet verlagert würde. „Ein Krieg zwischen den USA und Russland würde wegen der Interessenlagen der Großmächte nur auf europäischem Boden und letztlich immer nur terrestrisch, also ohne strategische Nuklearwaffen stattfinden“ (94 f.). Für Europa sei die atomare Teilhabe „überflüssig“, sie diene nur den USA, wenn diese angegriffen würden. „Dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag jedoch weiterhin davon ausgeht, dass Europa nuklear verteidigt werde, ist angesichts der nun über sechzig Jahre alten ‚flexible response‘-Strategie völlig unverständlich. Wir müssen keine Kampfflugzeuge beschaffen, um nukleare Sprengköpfe zu transportieren, die nur zur Verteidigung der USA gedacht sein können“ (96 f.). Genau das hat die Ampelkoalition aber im Rahmen des Sondervermögens für die Bundeswehr getan: Ein Großteil der 100 Mrd. Euro fließt in den Kauf US-amerikanischer Jets, was die USA (und ihre Rüstungsindustrie) zufrieden stellen wird. Die Selbstunterwerfung Europas und Deutschlands könnte kaum größer sein. – „Dauerhafte Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben“ (97). All den Putin-Hassern und -Dämonisierern wird es nicht passen: Der Satz gilt auch nach Beginn des Ukraine-Krieges und unabhängig von seinem Ausgang.

Ausführlich geht Dohnanyi erneut auf die Frage des Nato-Beitritts der Ukraine ein. Er zitiert die zahlreichen Stimmen von US-Sicherheitsexperten, die davor gewarnt hatten, u.a. William J. Burns, ehedem Botschafter in Moskau, heute CIA-Chef: Die Aufnahme der Ukraine in die Nato sei eine „direkte Herausforderung russischer Interessen“ (109). Oder auch Brzezinski, der als „beste Kompromissformel“ empfahl, „dass die Ukraine sich am Status Finnlands orientiert“ (104). Und die Zusicherung Bakers, dass der Westen nicht daran denke, die Nato nach Osten zu erweitern. Aber: Die Expansion der Nato sei in der US-Politik zu einem „Autopiloten“ (109) geworden. Ohne den Beschluss von Bukarest (2008), mit dem der Nato-Beitritt grundsätzlich angeboten war, so spekuliert Dohnanyi, hätte es die Annexion der Krim (2014) wahrscheinlich nicht gegeben (100). Dennoch: Am 14. Juni 2021 beschloss der Nordatlantikrat auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs: „Wir bekräftigen unseren auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest gefassten Beschluss, dass die Ukraine ein Mitglied des Bündnisses wird“ (104). „Wird“, nicht werden kann! Warum sind Olaf Scholz und Emmanuel Macron von der europäischen Beschlusslage von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy (2008) abgerückt? Schon damals bestand die Möglichkeit, einen solchen Beschluss zu verhindern. Die in den Wochen vor Ausbruch des Krieges von Dohnanyi geäußerte Hoffnung, dass Frankreich und Deutschland ihre außenpolitische Aufgabe – Entspannung und Kooperation mit Russland und einen „Strategiewandel“ (110) durchzusetzen – wahrnehmen (110), wurde nicht erfüllt. Stattdessen unterwarf man sich einer US-Politik, die die Konfrontation mit Russland zu ihrem täglichen „Abendgebet“ (111) macht. Ein einziges Versagen Europas: „Solange die USA im Konflikt mit Russland die außenpolitische Entscheidung alleine in der Hand haben, gibt es kein souveränes Europa“ (106 f.). Und für die Studenten des Völkerrechts, die im Grundstudium noch Völkerrecht mit Geopolitik verwechseln – oder auch Sein und Schein oder auch Sagen und Meinen –, sei folgende Feststellung Dohnanyis anempfohlen: „Das Interesse der USA an der Ukraine, wie letztlich auch an allen anderen osteuropäischen Regionen, ist eben nicht ein Engagement für Menschenrechte oder Demokratie, sondern Teil einer geopolitischen Strategie der Eingrenzung Russlands“ (106). Dient es den geopolitischen Interessen, sind die USA auch zu Zusammenarbeit mit den finstersten Regimen bereit.

Mit der Frage, ob Europa eine souveräne militärische Macht werden könne, schließt das Kapitel. Hier zeigen sich einige Ungereimtheiten. Zunächst betont Dohnanyi, dass die Nato den einzigen Schutz Europas bilde und das solle auch so bleiben, allerdings einer „nachdrücklich um Entspannung bemühten Nato“ (112). Wer aber im „Abendgebet“ Konfrontation beschwört, wacht am Morgen nicht auf und beginnt den Tag mit Entspannungsvorsätzen. Kann die EU Souveränität in der Sicherheitspolitik gewinnen und zu einer gleichwertigen Militärmacht werden, fragt der Text weiter. Frankreich jedenfalls müsste „die Führungsrolle in Fragen militärischer Sicherheit überlassen“ (113) werden. Hier tun sich Fragen auf. U.a. diese: Vor der Arbeitsteilung, dass Frankreich die militärische und Deutschland die wirtschaftspolitische Führungsrolle übernimmt, kann aus vielen Gründen nur gewarnt werden. Die nukleare Teilhabe Deutschlands oder Europas – von Dohnanyi gar nicht erwogen – oder gar der Aufbau eines Schutzschildes für Europa durch Frankreich, sei unrealistisch. Frankreich würde bei einem terrestrischen Angriff auf Osteuropa die Force de frappe nicht einsetzen, genau so wenig wie die USA ihre nuklearen Kapazitäten. Das zentrale Ergebnis seiner Überlegungen in diesem Abschnitt fasst der Autor so zusammen: „Europa kann durch militärische Kraft, sei es die der EU oder die der von den USA beherrschten Nato, nicht wirklich gesichert werden. Das Ziel Europas muss am Ende eine allianzneutrale Position sein“ (119). Nicht einmischen in Konflikte der Großen sei der zu empfehlende Kurs. Wie aber gehen „allianzneutrale Position“ und Beistandsverpflichtung in der Nato zusammen? Das lässt Dohnanyi offen.

Kapitel IV, „Die Europäische Union als deutsche Aufgabe“, enthält ein leidenschaftliches Plädoyer Dohnanyis für den Nationalstaat. Nur der „soziale Nationalstaat“ (160) verfüge über die demokratische Legitimation in Europa für politische Gestaltung. Dass dieser Nationalstaat auf demokratischer Basis auch zu perversen Entscheidungen kommen kann, sei nur am Rande vermerkt. Das Kapitel enthält wenig Argumentation und wenig Differenzierung, dafür mehr Begriffshuberei und Statuierung. Der Autor erweist sich als eine Art postmoderner Gaullist (127 ff.). De Gaulles „Europa der Vaterländer“ aus den sechziger Jahren gab ihm wohl die entscheidende politische Sozialisierung. Die EU sei ein Staatenbund (135) souveräner Nationalstaaten, das Ziel eines Bundestaates Europa (wie im Koalitionsvertrag der Ampel formuliert) hält er nicht für ein geeignetes politisches Projekt, man solle eine „Konföderation“ anstreben: „Deutschlands nationales Interesse in Europa sind deswegen eindeutig nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern es ist eine evolutionär fortschreitende Konföderation“ (141). Was das denn sein sollte, die „Konföderation“, schlummert im Himmel der Begriffe. Deutschland solle „bis auf Weiteres“ auf seinem Veto-Recht in Grundsatzfragen bestehen – also keine Mehrheitsentscheidungen, Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit. Kommission und Parlament – allesamt undemokratische Institutionen (152) – stehen unter dem Grundsatzverdacht übergriffigen Einflusses („grassierende Zentralisierungstendenzen der EU-Institutionen“, 147).

Wenn es in die Ökonomie geht, findet man in dem Text offen Unsinniges. Kein Mitgliedstaat käme je auf die Idee, seine Haushaltsentscheidungen der EU zu überlassen (140). Dass Griechenland und die anderen Programmländer in der Eurokrise und den Jahren danach das schiere Gegenteil erfahren mussten, vergisst der Geopolitiker Dohnanyi, der ansonsten gerne mit den Begriffen der Macht argumentiert. Die Antikrisenpolitik Merkels qualifiziert er als nicht machtbasiert, sondern eine des „gesunden Menschenverstandes“ (142). Dass Merkels Politik in einem Totaldesaster endete, entgeht dem Autor. Den Neoliberalismus hält er für „eine flexibilisierte ‚unternehmerische‘ Antwort der Staaten als Wettbewerber auf den Weltmärkten“ (145). Ansonsten findet man in dem Kapitel – Rodrick, Habermas, Crouch, Streeck etc. zitierend – eine verhaltene Kritik an der Globalisierung, die sozial abgefedert werden müsse.

Den Gipfel des Unsinns erklimmt Dohnanyi aber mit diesem Satz: „Wer Deutschlands ökonomische Entwicklung behindert, zerstört die EU“ (152). Das ganze Elend des Denkens in nationalstaatlichen Kategorien bricht sich hier Bahn. Wer nicht in Zusammenhängen denkt, ist selbst dran schuld. Dass Deutschlands ökonomische Erfolge (Interessen), gerade im Vorlauf der Eurokrise, auf Kosten (Interessen) anderer Länder gingen, entgeht dem Autor. Die Formulierung von Interessen und die dazu gehörende Durchsetzung derselben können nie die letzte Kategorie sein. Es kommt immer auf den Ausgleich der Interessen an, und das setzt, um in Dohnanyis Kategorien zu bleiben, Kooperation voraus, genau das ist europäische Integration. Und hier spielen Macht, Größe und Entwicklungsstand eine Rolle und, wie er an anderer Stelle häufig argumentiert, das Verständnis für die Interessen anderer, die über weniger Macht, Größe und einen geringeren Entwicklungsstand verfügen. Genau das tut Deutschland mit seinem ökonomischen Entwicklungsmodell nicht. Exporte setzen Importe auf der anderen Seite voraus, aber alle Staaten würden als Interesse formulieren, zum Exporteur zu werden. Die Formulierung (und Durchsetzung) nationaler Interessen, wofür Dohnanyi plädiert, führt also nicht weiter. Sie führt umgekehrt zurück auf die Konsistenz und Tragfähigkeit der jeweils formulierten Interessen. Für die Großen und Mächtigen bedeutet das, die Interessen der anderen mit in das Kalkül einzubeziehen. Einseitige Interessenformulierung führt in die Sackgasse.

In Kapitel V („Europa auf dem Wege zu einer Wirtschaftsmacht?“) hält Dohnanyi zunächst fest, dass Europas Zukunft und Einfluss auf die Weltpolitik nie wieder (Herv.d.Verf.) auf militärischer Macht, sondern nur noch auf seinem wirtschaftlichen und sozialpolitischen Potenzial gründen kann, seinem unternehmerischen Ehrgeiz“ (163). In diesem Zusammenhang konstatiert er eine verfehlte europäische Wirtschaftspolitik: Die Kommission betreibe keine wirksame Industriepolitik (zu enge Auslegung der Beihilferegelung) und die Wettbewerbspolitik lasse sich von bornierten nach innen gerichteten Kriterien leiten und beachte nicht die globalen Verhältnisse (Beispiel: Verhinderung der Fusion von Siemens und Alstom im Bereich der Bahnindustrie). – Dem kann man einigermaßen zustimmen.

Eindringlich fragt Dohnanyi anschließend, was denn nun die deutschen Interessen und die deutsche Identität sein könnten. Die Antwort ist verblüffend: „Der Sozialstaat im Verbund mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft – das ist .. heute im Kern deutsche Identität und deutsches Interesse… Hier, im wettbewerbsfähigen Sozialstaat, schlägt das Herz der deutschen Nation“ (180). Und: „Was für Frankreich heute noch die Französische Revolution oder für Großbritannien die Erinnerung an das Weltreich ist, das sind für Deutschland die Traditionen des Sozialstaates“ (184). Man muss das übersetzten: Es geht um die deutsche Exportindustrie, die angeblich den deutschen Sozialstaat finanziert. Diese Mär wird auch von Arbeitgeberpräsidenten verbreitet. Dass es andere Staaten gibt, die ihren Sozialstaat nicht über Exportbesessenheit finanzieren, bleibt außer Betracht. Im Übrigen: Das Hohelied, das Dohnanyi über den deutschen Sozialstaat intoniert, stimmt mit den Realitäten nicht überein, weder historisch noch in der Gegenwart. Als die EWG gegründet wurde, stemmte sich die Bundesrepublik massiv gegen eine Anhebung der sozialstaatlichen Standards auf das Niveau Frankreichs. Ludwig Erhard als den „Erfinder“ der Sozialen Marktwirtschaft zu feiern (179), ist geradezu ein Witz. Erhard wehrte sich entschieden gegen Konrad Adenauers Projekt der Einführung einer umlagefinanzierten gesetzlichen Rente (1957). Was Erhard meinte, war die Marktwirtschaft, die an sich schon sozial sei, der Aufbau eines Sozialstaates kam ihm nicht in den Sinn. Aber der Witz lässt sich nicht ausrotten. In der Gegenwart gehört Deutschland zu den Bremsern der Anhebung sozialstaatlicher Standards im europäischen Kontext und versucht, europäische Sozialpolitik auf Teufel komm raus im Bereich des Symbolischen zu halten. Also: der „wettbewerbsfähige Sozialstaat“, was immer das sein soll, kann nicht herhalten als deutsches Interesse und als deutsche Identität. Es sei denn, Dohnanyi meint damit Schröders Agenda 2010, in deren Rahmen der größte Umbau des Sozialstaates in der deutschen Nachkriegsgeschichte mit den bekannten Auswirkungen erfolgte.

Abschließend für dieses Kapitel fragt Dohnanyi, welches „mehr“ Europa im deutschen Interesse liege. Der unterliegende Leitgedanke ist dabei, dass es eine „‘Anweisungsdemokratie‘ aus Brüssel“ (187), „einseitig zentralistische Strategien“ von dortselbst (188), eine „‘Axt‘ aus Brüssel“ (196) gäbe, die nationalstaatliche Interessen niederhieben würden. Der einst in grauen Vorzeiten in einem bundesdeutschen Ministerium für europapolitische Fragen zuständige Politiker ist bar jeder Ahnung über den europapolitischen Kontext. Mit Brüssel meint er in erster Linie die Kommission. Dohnanyi hat – wie viele rechts und links von ihm Stehende – nicht den Ansatz von Verständnis über die europäischen Funktionsbedingungen: Er will nicht verstehen, dass die Kommission nichts weiter ist als Vollzugsorgan nationalstaatlich im Europäischen Rat vorgegebener Entscheidungen, ein „Helferlein“ der Nationalstaaten ohne jede politische Entscheidungsbefugnis. Geradezu grotesk ist, wenn er als (leuchtende) Beispiele für heroische Abwehrkämpfe in nationalen Bundesstaaten gegen Zentralismus u.a. anführt, dass die Schweiz, die 1971 auf Bundesebene das Frauenwahlrecht eingeführt und darauf verzichtet hat, es in einzelnen Kantonen umzusetzen, dort ist es erst 1990 eingeführt worden. Weitere seiner grandiosen Beispiele: die Todesstrafe in einzelnen Bundesstaaten der USA, die stockreaktionäre Politik in Ungarn und Polen. Wenn man sich einen zentralistischen Durchgriff wünschen würde, dann gerade in diesen Fällen. Dass sich Dohnanyi dann noch für die Einführung einer Staatsinsolvenz in der EU (203) stark macht – wo ihm doch die Nation das Erhabenste ist –, setzt der ganzen Konfusion noch die Krone auf.

Im letzten Kapitel fasst Dohnanyi sein Buch in zehn Punkten zusammen:

  1. Die größte Herausforderung bestehe in der Bekämpfung der Folgen des Klimawandels, Militärisches habe demgegenüber zurückzustehen. Die Ampel hat sich bekanntlich für das Gegenteil entschieden.
  2. Die Arbeitsmärkte veränderten sich tiefgreifend, die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sei notwendig – alles wenig konkret.
  3. Die Nato sollte zu einer aktiven Entspannungspolitik übergehen, insbesondere gegenüber Russland. Die sinnlosen Sanktionen sollten aufgehoben werden und eine Zusicherung, dass die Ukraine kein Mitglied der Nato wird, formuliert werden. Auch hier ist das Gegenteil eingetreten.
  4. Die Gemeinschaft mit Frankreich sei zu vertiefen, insbesondere in der Sicherheitspolitik, Frankreich sollte auf diesem Gebiet der Vortritt überlassen werden.
  5. Die Nato sollte auf Entspannungspolitik umschalten und ihre Kräfte auf die Bekämpfung des Terrorismus konzentrieren, nicht die Ausweitung ihrer konventionellen Kräfte. Das Gegenteil ist eingetreten.
  6. Nicht im Interesse Deutschlands und Europas wäre, den USA in ihrer Konfrontation mit China zu folgen. Als mehr denn je hörige Vasallen der USA wird das wohl nicht gelingen.
  7. Von einer Instrumentalisierung der Menschenrechte in der Außenpolitik sei abzuraten. Pragmatismus, nicht „moralisierende Selbstbestätigung“ (219) sei gefragt. Das Gegenteil ist eingetreten, der hochfahrende Moralismus im deutschen Außenministerium kennt keine Grenzen mehr. Er befindet sich auf Himmelfahrt.
  8. Zentralismus und Bürokratismus in der EU seien Grenzen zu setzen. Eine Fata Morgana. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erfordere Freiheit und Deregulierung. Neoliberalismus pur.
  9. Die EU dürfe nicht zu einem Bundesstaat oder Zentralstaat werden. Als seien solche Bestrebungen tatsächlich in der Wirklichkeit vorhanden.
  10. In Deutschland und Europa sei diplomatische Schulung notwendig – naja.

Dohnanyi hat ein geopolitisch hochaktuelles Buch geschrieben, das hilft, die geopolitischen Verwurmungen in deutschen und europäischen Gehirnen einzudämmen. Dass er europapolitisch Hänsel-und-Gretel-Erzählungen folgt, mindert seinen Wert nicht im Geringsten.

Vor dem Ukraine-Krieg und trotzdem wahr: Josef Bramls Analyse der „Transatlantischen Illusion“

Josef Braml, Die Transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können, Verlag C.H. Beck, München 2022

Der Schreck nach vier Jahren Donald Trump sitzt bei noch oder ehemaligen Transatlantikern tief. Der USA-Experte Josef Braml äußert sich in seinem vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine erschienen Bändchen zum „Ende der Transatlantischen Illusion“. Nach Jahrzehnten der transatlantischen Gemeinschaft ziehen sich die geschwächten USA zurück und konzentrieren sich auf die neue Auseinandersetzung mit China. Die Folge: „Der Glaube .., dass Washington in Zukunft in derselben Weise wie früher unsere Sicherheit garantieren und unsere Interessen mitvertreten wird, ist eine Illusion. Es ist die transatlantische Illusion“ (8). Für Deutschland und Europa folge daraus, die Kompetenz auf allen relevanten Politikfeldern, u.a. dem der Verteidigungsfähigkeit, ganz erheblich zu steigern.

In Kapitel 1 setzt sich der Autor mit dem „amerikanischen Patienten“ auseinander, wobei der Patientenstatus nicht ganz deutlich wird. Ist es die innere Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft, das bedrohte politische System oder die Überforderung in der internationalen Politik? Der Autor startet in diesem Textteil stattdessen eine Schnelldurchlauf durch die außenpolitischen Konzeptionen der USA, von Woodrow Wilson bis Joe Biden. Die zwischen den Polen von Internationalisten und Isolationisten, Liberalen und Realisten gelagerten außenpolitischen Praktiken fördern für den Leser u.a. folgendes zutage:

  • Das Selbstverständnis als exzeptionelle, auserwählte Nation, das schon lange vor Donald Trump den Anspruch nicht in Realität umzusetzen vermochte, ist definitiv gescheitert. Der Autor zählt einige Beispiel auf: die Mitarbeit am Sturz der demokratisch gewählten Allende-Regierung in Chile (1973), den Sturz der demokratisch gewählten Mossadegh-Regierung im Iran (1953), den auf einer bewussten Irreführung beruhenden Irak-Krieg (2003), die Bankrotterklärung des moralischen Anspruchs in Abu Ghraib und Guantanamo und etliches mehr. Auf die sich dem Leser aufdrängende Frage, warum sich das neuerdings so auf seine Werte berufende Europa (vorneweg: Deutschland) freiwillig in die Gefolgschaft der USA begeben hat, geht der Autor nicht ein.
  • Für die Trump-Periode (28 ff.) hält der Verfasser fest, dass der damalige Präsident konsequent daran arbeitete, die internationalen Institutionen zu schwächen, die „rule of law“ zu beseitigen und an deren Stelle das Recht des Stärkeren zu setzen. Als „sozialdarwinistisch“ (30) wird diese Außenpolitik bezeichnet.
  • Für die Biden-Präsidentschaft (30 ff.) hält er fest, dass „America First“ bleiben wird, Interessen, die durch Werterhetorik nur kaschiert werden, dominieren werden und Amerika nicht mehr in der Lage ist, die globalen öffentlichen Güter (Sicherheit, Freihandel, funktionierende Finanzmärkte, stabile Weltwährung) zu garantieren.

Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen den USA und China. Als „Ironie der Geschichte“ bezeichnet der Verfasser, dass das von der „westlichen Glaubensgemeinschaft“ (36) gefeierte „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) ums Ganze falsifiziert wurde. Ein Teil der Ironie betrifft dabei die China-Politik der USA. Die von Richard Nixon und Henry Kissinger 1972 eingeleitete Annäherungsstrategie wurde noch 2005 durch den damaligen Außenminister Robert Zoellick bekräftigt: China sollte als „responsable stakeholder“ in die von den USA dominierte Weltordnung eingebaut werden. Mit Barack Obama, verstärkt unter Trump und fortgesetzt unter Biden hat sich diese Strategie aber radikal gewandelt. China wird seither auf allen Gebieten als Gegner, als Systemrivale, den es zu bekämpfen gilt, wahrgenommen. Die Folgen für Europa, so der Autor, könnten gravierend sein.

Auf ökonomischem Gebiet ist die Umorientierung der USA in ihrer China-Politik bisher ohne jeden Erfolg geblieben. China ist nach wie vor handelspolitisch eng verflochten mit den USA, wobei der chinesische Exportüberschuss 2021 rund 350 Mrd. US-Dollar betrug. Und: China ist (neben Japan) der mit Abstand größte Gläubiger der USA. Auf diese Aspekte geht der Autor nicht ein.

Kapitel 3, angesichts der neueren Ereignisse besonders interessant, thematisiert „Russland zwischen China und dem Westen“. Der Verfasser schildert einleitend Russland zunächst als das Land mit den größten Energie- und Rohstoffreserven der Welt, was aber eher ein Fluch als ein Segen ist, da es einer vernünftigen makroökonomischen Entwicklung eher im Wege steht, als dass es sie fördert.

Danach widmet er sich geopolitischen Fragestellungen. Russland verfüge zwar nur über die fünftgrößte Armee der Welt, habe aber nach der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (51), so die Selbstwahrnehmung des Untergangs der SU durch Wladimir Putin, und dem Schwächejahrzehnt der neunziger Jahre erhebliche Anstrengungen in die militärische Modernisierung unternommen. Seine unmittelbare Nachbarschaft definiert das Land als „Zone privilegierter Interessen“ und nimmt die Ausdehnung der Nato daher als massive Bedrohung wahr. Die Charta von Paris mit der vereinbarten freien Bündniswahl sei zwar ein beachtenswerter Aspekt, aber: den Konflikt um die Ukraine und Georgien verstehe nicht, „wer die geostrategischen Implikationen ausblendet und sich nur auf rein rechtliche Aspekte beschränkt“ (56). Den Vergleich mit der Konstellation Ende der dreißiger Jahre (Appeasement-Politik, Münchner Abkommen, Annexion der „Tschechei“) hält er für abwegig, da in dem einen Fall eine imperialistische Expansionspolitik vorgelegen habe, in dem russischen Fall aber, so die zentrale Formulierung in diesem Kapitel und die reale Entwicklung antizipierend, die Gefahr eines „Angriffs als Verteidigung“ (59 f.).

„Wie also könnte ein europäischer Weg im Umgang mit Russland aussehen?“ (61) Russland dürfe nicht an die Seite Chinas gedrängt werden. Diplomatische Annäherung und Abschreckung sei das Mittel der Wahl. Ein erster Schritt sei „eine offizielle Rücknahme der NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine und Georgiens“ (61). „Für die Weltenplaner in Washington wäre ein festes strategisches Bündnis zwischen Russland und China ein sehr bedrohliches Szenario“ (64). Bei einem Zweifrontenkrieg gegen Russland und China sei „eine Niederlage für die USA vorprogrammiert“ (65). Und: „Anstatt Russland und China mit einer moralisierenden Wertepolitik zusammenzudrängen, sollten US-Präsident Biden und seine europäischen Verbündeten ganz pragmatisch versuchen, Russland nach Westen zu locken“ (ebd.). „Europas Optionen ohne US-Schutz“ bestünden aus einer Effektivierung seiner Verteidigungsanstrengungen. – In all dem ist dem Verfasser uneingeschränkt zuzustimmen.

Die Weltenplaner in Washington haben sich bekanntlich anders entschieden und weiter moralisierende Wertepolitik betrieben, indem sie bis zuletzt den Nato-Beitritt der Ukraine offenhielten. Biden hatte im Dezember 2021 bei seiner Antwort auf den russischen Forderungskatalog die Gelegenheit, den Konflikt zu entschärfen; tatsächlich wurde das verweigert und die Eskalationsspirale weitergedreht, es kam der „Angriff als Verteidigung“. Die Europäer (Olaf Scholz und Emmanuel Macron) verstanden sich nur auf windelweiche Statements (Scholz witzelnd: ein Beitritt der Ukraine zur Nato „stehe nicht auf der Tagesordnung“). Scholz und Macron hätten es Merkel und Sarkozy gleichtun und einen Nato-Beitritt der Ukraine ausschließen sollen, als Veto-Mächte wären sie dazu in der Lage gewesen. Stattdessen hat man sich der US-Politik der Eskalation und Provokation unterworfen.

Kapitel 4 geht der Frage nach, ob weiter gleiche Interessen der USA und Europas bestehen. Tonangebend für dieses Kapitel ist, dass für die USA die eigenen strategischen und wirtschaftlichen Interessen absoluten Vorrang haben. Die Aufkündigung des Atomankommens durch die USA mit dem Iran bezeichnet der Verfasser zunächst als „schweren Fehler“ (72). Die Selbstunterwerfung der Europäer unter die „Schutzmacht“ (73) und ihre geo-ökonomischen Interessen habe z.B. zur Folge, dass das Investitionsabkommen der Europäer mit China (2020) torpediert und schließlich auf Eis gelegt wurde. Die Militärausgaben der USA machen mit 40 Prozent den Großteil der weltweiten Ausgaben aus, ihre wirklichen oder vermeintlichen Herausforderer, Russland (13 Prozent) und China (3 Prozent), liegen weit dahinter (80). Die Rolle des militärisch-industriellen Komplexes in den USA charakterisiert Braml mit der folgenden Feststellung George F. Kennans (1987): „Würde die Sowjetunion morgen in den Wassern der Ozeane untergehen, dann müsste der amerikanische militärisch-industrielle Komplex mehr oder weniger bestehen bleiben, bis irgendein anderer Feind erfunden werden könnte. Alles andere wäre ein unakzeptabler Schock für die amerikanische Wirtschaft“ (81). Warum fällt einem in diesem Zusammenhang der Ukraine-Krieg und die geostrategische Hinwendung zu China ein?

Warum fallen einem bei der Feststellung des ehemaligen Sicherheitsberaters Jimmy Carters, Zbigniew Brzezinskis, aus dem Jahr 2001, Europa sei „von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät“ (85), unweigerlich Polen und die osteuropäischen Staaten ein oder auch die „Koalition der Acht“, die mit den USA in den „Lügenkrieg“ gegen den Irak gezogen sind? Ausführlich beschäftigt sich der Verfasser auch mit dem Thema der „nuklearen Teilhabe“ (Deutschland, Belgien, Italien und die Niederlande) (88 ff.). Die veralteten Tornado-Jets der Bundeswehr müssen ersetzt werden. Die USA binden die nukleare Teilhabe an den Kauf ihrer F-35-Kampfjets, die Zertifizierung des deutsch-französischen Future Combat Air Systems (FCAS) wird verweigert. Es kam, wie es kommen musste: Deutschland beschloss im Rahmen des 100 Mrd. Euro „Sondervermögens“ den Kauf der US-Jets (rund ein Drittel der Summe), das europäische FCAS wird wohl den anstehenden Sparmaßnahmen zum Opfer fallen. Die von dem Verfasser erhoffte „Grundsatzdebatte über Deutschlands ‚nukleare Teilhabe‘“ (90) ist ausgeblieben.

Den ehemaligen deutschen Botschafter in Washington und London, Peter Ammon, zitierend (gefordert sei eine „radikal europäische Lösung“ in der Sicherheitspolitik, „ein grundlegender und mutiger Deal mit Frankreich, der eine ganz tiefe Integration beider Staaten vorsieht“ (90 f.)), entwickelt der Verfasser den Vorschlag, dass sich Deutschland und Frankreich, das an den nuklearen Planungen der Nato nicht teilnimmt, zu einem „französisch-deutschen Nukleararrangement“ (92) zusammentun, was Macron in einer Grundsatzrede (2020) auch versucht habe anzubahnen. Einiges spricht dafür, dass sich Europa mit seinen Entscheidungen nach der russischen Intervention in die Ukraine weiter und vertieft in das Vasallentum begeben hat. Die Hoffnung des Verfassers – „Es ist höchste Zeit, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern“ (100) – wird für lange Jahre perdu sein.

Das ausführliche Kapitel 5 zur Geo-Ökonomie steht unter dem Motto der „Politisierung von Handel, Finanzen und Technologie“. Für den Bereich des Handels entpuppt sich Braml als Vertreter der Freihandelstheorie: „Das Spiel der Kräfte auf freien Märkten wird politisch (durch China und die USA, d.Verf.) ausgehebelt und manipuliert“ (104). Die Marktkräfte, die internationalen Institutionen und die Regelbasierung werden von den beiden Mächten durch Protektionismus, Subventionierung und Infragestellung von Institutionen, z.B. die WTO, in zunehmendem Maße blockiert. Anhand zahlreicher Beispiele (Zollpolitik der USA, Merkantilismus Chinas) illustriert der Verfasser seine These. Dass es genau die freihändlerische Globalisierungsphase war, welche die Ungleichgewichte, die der Autor an vielen Stellen beklagt, hervorgebracht hat, kommt ihm nicht in den Sinn. Ausführlich geht der Autor auch auf die US-Energiepolitik ein, insbesondere die Fracking-Industrie, die durch die kostengünstigeren Produzenten im Nahen Osten und Russland bedroht war. Der Weltgeist in Gestalt des Ukraine Kriegs hat hier bekanntlich für Abhilfe gesorgt, Europa leidet, die USA mit dem Aufschwung ihrer Fracking-Industrie (und Rüstungsindustrie) und China mit den billigen Energieimporten aus Russland profitieren.

Das Wirtschaftsmodell der USA charakterisiert Braml als „Wirtschaft auf Pump“ (117 ff.). Militärmacht und der Dollar als Weltgeld haben den USA ermöglicht, „über ihre Verhältnisse zu leben, zu wirtschaften und zu rüsten“. Das „auf Pump finanzierte Geschäftsmodell der Weltmacht“, der „Traum vom grenzenlosen Konsum und Wirtschaften auf Pump“ (118), unterstützt durch die Politik des billigen Geldes der Fed und die Strategie des schwachen Dollars, ist dem Verfasser offensichtlich ein Gräuel. Dass dies aber Teil der „Pax Americana“ war und anderen Ländern ihre Erfolge ermöglicht hat, z.B. Deutschland und den Schwellenländern, allen voran China, erwägt Braml nicht. Der in dieser Hinsicht benevolente Hegemon zündet den weltwirtschaftlichen Motor, weil er es sich leisten kann, kreditwürdig ist und globale Nachfrage schafft.

Gleichwohl wähnt der Autor eine „Dollar-Dämmerung“ (125 ff.) Wo aber sollte dieser Zeitenwandel herkommen? Braml schildert die Versuche Chinas, der eigenen Währung zunehmend Weltgeltung zu verschaffen und fordert für Europa die Einführung von europäischen Bonds (128). Das aber wird diesen Ländern und Blöcken nicht ohne Großzügigkeit, Vorleistung und Überwindung der Kreditaversion (Deutschland und Europa) gelingen.

In der politischen Wendung, bei dem „Systemwettbewerb“, registriert Braml, „dass die amerikanische Demokratie vor allem im Innern existenziell bedroht ist“ (131). Er spricht von einer „defekten US-Demokratie“ (133). Vielleicht gerade deswegen gab es das ebenso riskante wie provokante außenpolitische Agieren der Biden-Regierung.

Für Europa beklagt Braml schließlich die fehlende „digitale Souveränität“. Welche Schlussfolgerung aber daraus zu ziehen ist, dass das Internet ein „Abfallprodukt“ der Militärindustrie und -forschung war und die Spitzenstellung der US-Industrie in bestimmten Bereichen (IT, Rüstungsindustrie, Luft- und Raumfahrt) eng mit der (kreditfinanzierten) Rüstungspolitik zusammenhängt, bleibt unklar. Moniert wird lediglich die digitale Kleinstaaterei in Europa.

Zusammenfassend: Deutschland und Europa seien zwischen die Fronten von China (z.B. Seidenstraße) und der „Grand Strategy“, die alle Bereiche von Wirtschafts-, Finanz-, Energie-, Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik umfasse, der USA geraten (140). Europa sei strategie- und handlungsunfähig.

Kapitel 6 stellt Leitlinien für die Entwicklung einer Europäischen Souveränität vor, für die Handelspolitik, die Finanz- und Währungspolitik, die Umwelt- und Energiepolitik, die Sicherheitspolitik und die Technologiepolitik, alles unter dem Vorzeichen des „neuen weltumspannenden Konflikts zwischen China und den USA“ (141).

Handelspolitik: Hier begegnet man einem Widerspruch: Der Autor fordert einerseits für Europa, dass es sich um weitere Freihandelsabkommen bemühen sollte, beklagt andererseits aber die globalen makroökonomischen Ungleichgewichte, ohne zu sehen, dass letztere das Ergebnis von ersterem sind. Richtig aber bleibt die Feststellung des Autors, dass insbesondere Deutschland seine Überschussposition abbauen müsse durch Steigerung der Binnennachfrage mit mehr Konsum und Investitionen.

Finanz- und Währungspolitik: „Es ist das Gebot der Stunde, Europas politische Einheit und damit auch den Wirtschafts- und Währungsraum im globalen geo-ökonomischen Wettbewerb zu stärken“ (144), so die hier zentrale These des Autors. Der Euro sollte durch „sichere Anleihen“ – also „Eurobonds“ – zu einer „globalen Leitwährung“ weiterentwickelt werden. Die europäische Geldpolitik sollte durch mehr Wirtschafts- und Finanzpolitik entlastet werden. Das Wiederaufbauprogramm in der Folge der Covid-19-Pandemie gebe Anlass zur Hoffnung.

Umwelt- und Energiepolitik: Hier setzt der Autor ganz auf die neuen Energieträger der Zukunft: Sonne, Wind und Wasserstoff. Da der Redaktionsschluss für das Buch vor dem Russland-Ukraine-Krieg lag, blieben die Probleme der Übergangszeit mit den Gaslieferungen aus Russland unberücksichtigt.

Sicherheitspolitik: Hier trifft man zunächst auf einen interessanten Gedanken, mit dem die Forderung der USA, dass die Europäer (insbesondere die Deutschen) ihre Verteidigungsausgaben erhöhen sollten, ausgehebelt werden soll: „Die USA haben sich nur deshalb ihre exorbitante Rüstung leisten können, weil ausländische Kreditgeber bereit gewesen sind, auf eigenen Konsum und eigene Investitionen zu verzichten und dafür die zunehmende Verschuldung privater und staatlicher Haushalte in den USA zu finanzieren“ (146). Der Autor will hier eine „umfassendere volkswirtschaftliche Betrachtung“ entwickeln, mit der auch die Kritik am Außenhandelsüberschuss Deutschlands zurückgewiesen werden soll (vgl. auch 86 f.). Die Argumentation macht hinten und vorne keinen Sinn. 1.) Der Verfasser beklagte weiter oben selbst die deutsche Politik des Leistungsbilanzüberschusses und forderte die Steigerung der Binnennachfrage. 2.) Die deutsche Politik des Leistungsbilanzüberschusses rührt nicht von einem altruistischen Motiv (Verzicht) her, die US-Militärausgaben zu finanzieren, sondern entspringt einem wirtschaftspolitischen Dogma, das selbst wieder eingebettet ist in ein allgemeineres Politikmodell. Das wirtschaftspolitische Dogma: Der Staat soll in seiner Finanzpolitik Überschüsse erzielen (Schuldenbremse), die Wirtschaft ebenfalls durch Exporterfolge, beides um jeden Preis. Diese Politik leitete Deutschland in der Eurokrise, und sie leitete die alte Bundesrepublik bereits in den fünfziger und sechziger Jahren. Überschüsse um jeden Preis. Dass eine solche Politik Voraussetzungen hat, wird in Deutschland komplett ausgeblendet. Das allgemeine Politikmodell läuft auf einen Wirtschaftsstaat hinaus, der ein halbierter Staat ist, der Verantwortung für Sicherheitspolitik delegiert. 3.) Die USA wiederum fungieren als weltwirtschaftlicher Nachfragemagnet und paaren das mit ihrem hegemonialen militärischen Vormachtstreben. Ohne die Bereitschaft zur Kreditaufnahme der USA gäbe es keine deutschen Exportüberschüsse und keine Perspektive für Schwellenländer. Weltwirtschaftliches Wachstum wird nicht durch Angebotspolitik, sondern durch kreditfinanzierte Nachfragepolitik erzielt. Und hinter der Kreditfähigkeit der USA stehen Vertrauen in die wirtschaftliche Stärke und die militärische Macht.

Ansonsten: „Europa (sollte) darauf hinarbeiten, sich selbst verteidigen zu können“ (148). Das schließt nach Dafürhalten Bramls ein: 1.) Ausbau des European Defence Funds (EDF), 2.) Ressourcen für das FCAS, 3.) Abwendung von der nuklearen Teilhabe (oder Unterwerfung) mit den USA hin zur nuklearen Teilhabe an der „Force de Frappe“ mit Frankreich. 4.) Effektivierung der europäischen Rüstungsindustrie unter Beachtung der Tatsache, dass Europa fast dreimal so viel wie Russland an Verteidigungsausgaben (!) ausweist und sich tendenziell von Rüstungsindustrie der USA unabhängig machen sollte. Bezogen auf Russland: Weiterverfolgung der Doppelstrategie von Diplomatie und Abschreckung und Entwicklung einer eigenständigen Russland-Politik, auch um zu verhindern, dass sich die USA in der von ihnen so wahrgenommenen größeren Herausforderung durch China über Europa hinweg mit Russland verständigen.

In diesen Punkten haben die Ereignisse nach dem Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges einiges durcheinander gebracht: Die USA als das faktensetzende Zentrum in der westlichen Welt haben durch ihre aggressive Ukraine-Politik (Aufrüstung der Ukraine und Offenhaltung des Nato-Beitritts der Ukraine) Russland – ob Vorwand oder Rechtfertigung – die militärische Intervention ermöglicht. Mit der Zeitenwende-Rede von Scholz und dem 100-Mrd.-Programm war die vorher erwogene Abkehr von der nuklearen Teilhabe mit den USA Makulatur, ein Drittel der Summe werden in den Kauf US-amerikanischer Düsenjäger fließen, eine eigenständige nukleare Strategie Europas wurde verbaut. Europa hat sich auf der ganzen Front in eine vertiefte Abhängigkeit von den USA begeben.

Technologiepolitik: Als Kernfrage der europäischen Souveränität identifiziert der Autor, Macron zitierend, die Technologiepolitik, was eine Stärkung seiner industriellen Basis und massive Innovationsanstrengungen erfordere. Konkret: bei 5G Ericsson und Nokia fördern, den Einfluss amerikanischer Digitalunternehmen begrenzen und die eigene Internet-Infrastruktur (Kabel) betreiben.

Grundvoraussetzung für die Umsetzung all dieser Souveränitätselemente sei die Entwicklung einer „strategischen Kultur“. Vor Deutschland lägen in dieser Hinsicht noch viele 180-Grad-Wenden, insbesondere was seine Wirtschaftspolitik angeht.

Zusammenfassung

Man kann dem kleinen Band nur wünschen, dass er nicht eingestampft wird – eingestampft wie so vieles nach der so genannten Zeitenwende, z.B. die geschichtsvergessene Kassation der Grundlage der Entspannungspolitik, das Konzept des „Wandels durch Annäherung“ (Egon Bahr). Der Autor muss nichts zurücknehmen, er liefert wichtige Einblicke, Informationen und Kontexte der Geopolitik der „Schutzmacht“ USA und den Folgen für Deutschland und Europa. Nur eine Einschränkung ließe sich vornehmen, die makroökonomischen Überlegungen könnten an der einen oder anderen Stelle andere Perspektiven einnehmen, was aber für den geopolitischen Kern der Argumentation vernachlässigt werden kann.

Just in dem Augenblick, als die Europäer die „Sprache der Macht“ erlernen, sich im Einmaleins der Geopolitik umsehen zu wollten, haben sie versagt. Es gab keinen ernsthaften Versuch den russischen „Angriff aus Verteidigung“, wie Braml vorhergesagt hat, zu verhindern. Statt den Kotau unter die Geopolitik der USA zu vollziehen, waren die Europäer gelähmt. Was hat Macron und Scholz in den Wochen vor der russischen Intervention daran gehindert, gemeinsam nach Moskau zu fahren und die Zusicherung zu hinterlegen, dass ein Nato-Beitritt der Ukraine vom Tisch ist, jedenfalls für Europa? Merkel und Sarkozy waren 2008 mutiger. Stattdessen ließ man sich betäuben von den Wertepapageien, die nicht müde wurden zu trällern, dass über den Nato-Beitritt die Ukraine selbst, die von einer offensichtlich konzeptions- und orientierungslosen Regierung geführt wurde und wird, die nur den angelsächsischen Einflüsterungen ausgesetzt war, entscheiden müsste. Der dumme Spruch hatte auch schon 2008 seine Gültigkeit – und hinderte Merkel und Sarkozy nicht an ihrem Veto. Begleitet von dem nicht enden wollenden Geplapper und Gegacker der Wertepapageien ist man wie in einem Blindflug in die Kriegskatastrophe gesegelt und hat die Ukraine und ihre Bevölkerung ihrem jetzigen Elend ausgeliefert. Als im Dezember 2021 der Forderungskatalog Russlands nach Washington geschickt wurde, war schon die Gelegenheit da, Europa eine verantwortungsvolle Stimme zu geben. Stattdessen hat man die USA allein antworten lassen.

Welche geopolitischen Verschiebungen deuten sich an? Russland ist, wie Braml befürchtet hat, an der Seite von China, oder umgekehrt. Die Schwellenländer formieren sich und ordnen sich – eindeutig – zu. Die neue Weltkarte weist wieder – neben den Entwicklungsländern – die Erste Welt in Konfrontation mit der Zweiten Welt aus. Die Kategorisierung aus dem Kalten Krieg war ideologisch (durch den Kommunismus) überformt. Jetzt finden sich dort, in der Zweiten Welt, meist autokratische Staaten, die einen Teil des globalen Kuchens abhaben und der Führungsmacht der Ersten Welt ihren Status streitig machen wollen. Wenn die Wertepapageien die unerträgliche Lage bei den Menschenrechten, den Selbstbestimmungsrechten usw. anstimmen, vergessen sie, dass es gerade hundert Jahre her ist – manchmal weniger –, dass sie – in kleinen Schritten – das Zeitalter von Monarchien, Diktaturen und Halbdemokratien hinter sich gelassen haben. Und: Sie, die Wertepapageien, verkennen den Hauptunterschied zu den „seligen“ Zeiten des Kalten Krieges: Ihr Führer ist jetzt eine „defekte Demokratie“ (Braml), von der sich nur erahnen lässt, wohin sie sich entwickelt. Daraus folgt: Die Wertepapageien sollten öfters ihren Blick ins Innere des eigenen Käfigs der Ersten Welt richten, um zu einem realistischen Bild über den Zustand der Welt zu kommen. Die Wertepapageien der Ersten Welt erheben sich über die Zustände in der Zweiten Welt und legen damit den falschen Maßstab an, sie sollten sich in ihren Werten v.a. an sich selbst messen und der Zweiten Welt ihre Entwicklung lassen.

Ein aufgeklärter neoliberaler Ex-Kommissar bilanziert die Eurokrise

Olli Rehn, Die Rettung des Euro. Was wir aus der Krise lernen können, o.O. 2021

Unbedingt zugutehalten muss man Olli Rehn seine Selbstironie. Auf Seite 316 findet sich ein Foto von Alexis Tsipras und ihm, das mit einem Zitat von Yanis Varoufakis versehen ist: darin wird er so qualifiziert: „ein analphabetischer, gelber Befehlsempfänger der dritten Kategorie“.

Rehn war Mitglied des Europaparlaments, dort Angehöriger der liberalen Fraktion, zwischen 2004 und 2014 Mitglied der Kommission, während der Eurokrise zuständig als Kommissar für Wirtschaft und Währung, seit 2018 Gouverneur der finnischen Zentralbank. Seine Positionen ließen sich als einer Art „aufgeklärtem Neoliberalismus“ verpflichtet charakterisieren, so manchem Marktradikalen in Deutschland ließen sie einen Schauer über den Rücken laufen.

Das Buch umfasst 417 Seiten und gliedert sich in 19 Kapitel und ein Nachwort. Im Mittelpunkt steht die so genannte Eurokrise von 2010 bis 2012, ihre Vorgeschichte, ihr Verlauf und ihre Nachgeschichte. Die zentralen Stationen der Krise werden herausgearbeitet. Es hat einen analytischen Anspruch und bezieht viele Thesen, Theorien und Einschätzungen von Akteuren der Eurokrise mit ein. Leitfaden ist die makroökonomische Analyse, die es versucht mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen zu verknüpfen.

Der Spaziergang von Deauville

Im Herbst 2010, als die Finanzierung Griechenlands nach langem Zögern und Hinhalten Deutschlands gesichert war, kochte die Banken- und Immobilienkrise in Irland, das Rehn einen „verwilderten keltischen Tiger“ nennt, hoch. Das Land, seit 1973 Mitglied in der EG, hatte sich aus tiefer Armut dank europäischer Hilfen und Steuerdumping (12,5 Prozent Körperschaftssteuer) zu einem passablen Wohlstand hochgearbeitet und leistete sich einen völlig überdimensionierten Bankensektor, aus dem im ersten Jahrzehnt der Währungsunion eine Immobilienblase finanziert wurde. In diesem Herbst kletterten die Zinsen auf den irischen Staatskredit in die Todeszone (6-7 Prozent Risikoprämie).

Statt Irland geräuschlos in die „Rettungspolitik“ mit einzubeziehen, machte sich Deutschland, der Dirigent der Eurokrise, daran, die Krise weiter zu verschärfen. Bei dem berüchtigten Spaziergang von Deauville mit Sarkozy erhöhte die deutsche Kanzlerin den Druck auf Frankreich: Man wollte zweierlei, automatische Sanktionen gegen Staaten, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen und eine Beteiligung des Privatsektors bei den Hilfsmaßnahmen durch den EFSF. „Der Deauville-Deal bestand im Wesentlichen darin, dass Deutschland die Aufweichung der halb automatischen Sanktionen akzeptierte und Frankreich im Gegenzug die Beteiligung des Privatsektors an der Vereinbarung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus akzeptierte – die Umschuldung war ein langjähriges Ziel Deutschlands“ (S. 105).

Mit dem ins Auge gefassten „Haircut“ wurde kalkuliert Öl ins Feuer gegossen, die Risikoprämie für den irischen Staatskredit an den Finanzmärkten stieg in Richtung 8 Prozent. Rehn benennt die deutsche Herzensangelegenheit, die er sich nicht in seinen „kühnsten Albträumen hätte vorstellen können“ (S. 104), in all ihrer Problematik („Weltuntergang von Deauville“, S. 93 und „Doomsday“, S.105), banalisiert sie aber, indem er feststellt: „Marktkenntnisse waren an diesem Wochenende Mangelware“ (S. 103). Den damaligen Hardlinern im Kanzleramt kann man alles Mögliche vorwerfen, nur nicht, dass es ihnen unklar war, welche Folgen der geplante Haircut auf den Finanzmärkten haben würde. Es handelte sich, um im Bild zu bleiben, um gezielte Brandstiftung. Es kam, wie es auf Druck der Deutschen kommen musste: Der Haircut bei der Sanierung Griechenlands wurde durchgesetzt, und Irland schlüpfte unter den Rettungsschirm. Erst jetzt verwandelte sich die Griechenlandkrise in eine Eurokrise. Die Dumpingsteuer durfte das Land beibehalten, und die Rettung der irischen Banken wurde großzügig europäisch geregelt (der Haircut bezog sich auf die in Griechenland kreditierenden Banken, nicht auf die irischen). Carlo Bastasin, den Rehn zitiert, bezeichnete die Deauville-Verabredung als „eine raffinierte Art, Selbstmord zu begehen“, auch eine Verharmlosung, da weder der Hauptakteur, Deutschland, noch dessen Motiv, die Umsetzung einer verrückten betriebswirtschaftlichen Regel, des Haftungsprinzips, in die europäische Makroökonomie präzise benannt werden.

Whatever it takes

Im Sommer 2012, so Rehn, kam der „letzte Wendepunkt“ (S. 205) der Krise. Er schildert die letzten fehlschlagenden Versuche aus der Politik, die Krise einzudämmen: die Kapitalaufstockung bei der Europäischen Investitionsbank (EIB), die Einleitung der Bankenunion und die Rettung des spanischen Bankensektors. Die Einrichtung des ESM, der auch keine Entspannung brachte, hat er dabei vergessen. Erst mit Draghis Londoner Whatever-it-takes-Rede sei die Wende eingeleitet worden. Er zitiert Draghis Interview vom 2. August 2012 nach der Rede von London: „Risikoprämien, die mit der Furcht vor der Reversibilität zusammenhängen, sind inakzeptabel, und sie müssen grundlegend angegangen werden. Der Euro ist irreversibel. (…) Der EZB-Rat (…) kann uneingeschränkt Offenmarktgeschäfte in einem Umfang durchführen, der ausreicht, um sein Ziel zu erreichen“ (S. 216). Dass allein die Intervention der EZB als Lender of Last Resort den Anstieg der Risikoprämien für den Staatskredit zunächst zum Stillstand, dann zum Rückgang gebracht hat, will Rehn nicht so deutlich betonen, stattdessen ist ihm wichtig, den eher unwichtigen Nebenaspekt des OMT-Programms, seine Knüpfung an die Konditionalität, die er für „eine voll gerechtfertigte Lösung“ (ebd.) hält, hervorzustreichen. Am Ende seiner Ausführungen (S. 376 ff.) steigert er seine falsche Gewichtung noch dahingehend, dass er die EZB und den ESM als die großen Krisenlöser (auch in der Zukunft) anpreist. Das ist Unfug. Der ESM verfügt über keine „große Bazooka“, hat bei der Krisenlösung nur eine technische Rolle gespielt und ist – gerade wegen seiner Konditionalität – eine Institution ohne Zukunft.

Die Makroökonomische Politik im Sixpack

Rehn, promoviert in internationaler Wirtschaftspolitik, legt ein besonderes Augenmerk auf die innereuropäischen Überschuss-Defizit-Positionen. Schon in der Einleitung hebt er mit Blick auf die von Deutschland durchgesetzte Wirtschaftspolitik – was er so nicht erwähnt – der Eurozone hervor: „Meiner Ansicht nach wäre es besser gewesen, einen dritten Weg zu verfolgen, d.h. eine gleichmäßigere Neuausrichtung der Wirtschaft der Eurozone, bei der die Defizitländer Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung verfolgen, während die Überschussländer die produktiven Investitionen und die Binnennachfrage ankurbeln. Dies war der Policy-Mix, den die Europäische Kommission in den jährlichen Wachstumserhebungen und politischen Initiativen empfahl“ (S. 25). Das klingt für einen Neoliberalen einsichtig und macht Hoffnung.

Das gesamte Kapitel 14 (Überschrift: „Die große Wiederherstellung des Gleichgewichts: Frankreich vs. Deutschland“, S. 265 ff.) ist diesem Kernproblem europäischer Wirtschaftspolitik gewidmet. Die aufkeimende Hoffnung wird aber enttäuscht, der „dritte Weg“ entpuppt sich als ziemlich ausgetrampelter, altbekannter Pfad. Zunächst wirft Rehn Nebelkerzen. Da die Eurozone eine global offene Wirtschaft sei, könne sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse richten, wie es die angelsächsischen Ökonomen täten. Außerdem sei vor dirigistischen Eingriffen zu warnen (S. 268). Vor dem Hintergrund des altbekannten Bildes zur Entwicklung der Lohnstückkosten in der Währungsunion zwischen 1999 und 2017 erfolgt die Feststellung: „Auch wenn sich ein Großteil der Debatte über makroökonomische Ungleichgewichte in letzter Zeit auf Deutschland konzentriert hat, ist es dennoch angebracht, darauf hinzuweisen, dass das dringendste und schmerzlich reale Problem ab 2010 die verlorene Wettbewerbsfähigkeit der Defizit-Länder war“ (Herv.i.O.) (S. 269). Nicht nur, dass die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, was immer meint: Exportüberschüsse, eine höchst fragwürdige wirtschaftspolitische Strategie ist, und dass Deutschland im ersten Jahrzehnt der Währungsunion die seine durch Lohndumping errungen hat, ist Rehn der Rede wert, auch die Tatsache, dass ihm die „innere Abwertung“ in den Defizitländern nicht schnell genug ging, spricht Bände für seine halbherzige Denkweise.

Danach beschreibt Rehn Frankreich als „Urheber des Ungleichgewichts“ (S. 270 ff.) – aufgrund fehlender Strukturreformen und ausbleibender Korrekturen seines Haushaltsdefizits. Der Ansatz der Kommission in den Jahren 2012/13 sei gewesen, auf Strukturreformen zu drängen und Nachsicht bei den fiskalischen Größen walten zu lassen. Der „ideale Ansatz“ (S. 277) wäre aber gewesen, zunächst Strukturreformen zu fordern und erst wenn diese nachgewiesen wären, Nachsicht bei den fiskalischen Größen zu üben. Wenn sich da die Kommission nicht verhoben hätte.

Als Gründe für den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss führt Rehn an: 1.) die latente Unterbewertung des deutschen Euros, 2.) das mittel- und osteuropäische Arbeitskräftereservoir, 3.) die Zinskonvergenz, 4.) das Erschließung globaler Märkte, 5.) hohe Ersparnisse und niedrige Investitionen, 6.) hohen Kapitalexport (S. 279 f.). Seine Schlussfolgerung: Steigerung der Binnennachfrage in Deutschland. Die Kommission, so Rehn, hatte immer drei Empfehlungen für Deutschland im Rahmen des Ungleichgewichtsverfahrens: Steigerung der Binnennachfrage durch Lohnwachstum, Steigerung der öffentlichen Investitionen und Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen.

Ist eine deutsch-französische „Win-Win-Wirtschaftsstrategie plausibel?“, so fragt Rehn am Ende des Kapitels. Die Richtung wäre klar, „nämlich Deutschland zu Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage und der Investitionen und Frankreich zu Reformen des Arbeitsmarkts, des Unternehmensumfelds und des Rentensystems zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit zu ermutigen“ (S. 282). Die dümmliche Antwort Deutschlands, das sich anfänglich heftig gegen das von der Kommission vorgeschlagene Verfahren für makroökonomische Ungleichgewichte (MIP) wehrte, kam postwendend. Rehn lässt Schäuble sprechen, der in einer Rede vor dem Brüsseler Wirtschaftsforum am 18. Mai 2011 kundtat: „Ja, wir müssen allzu große Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten vermeiden. Aber nein, dies kann nicht in der Form geschehen, dass erfolgreiche Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit freiwillig einschränken. (…) Der einzig gangbare Weg ist, dass die etwas schwächeren Länder der Eurozone stärker werden. Wir könnten ihnen helfen, aber wir können ihre Aufgabe nicht erfüllen. Außerdem löst man die eignen Probleme der Wettbewerbsfähigkeit nicht, indem man von anderen verlangt, weniger wettbewerbsfähig zu werden, und man kann die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen nicht dauerhaft schließen, indem man von anderen mehr Geld verlangt“ (S. 283). Rehn registrierte, wie er schreibt, dass er in Deutschland ins „politische Abseits“ geraten war.

Nur widerwillig gab Deutschland der Verabschiedung des Sixpacks sein Placet, freilich mit der asymmetrischen Gewichtung bei der Schwelle für ein Verfahren (Überschussländer 6 Prozent, Defizitländer 4 Prozent), was Rehn als nur „zweitbeste Lösung“ (S. 286) charakterisiert.

Rehn und mit ihm die Kommission haben ein makroökonomisches Problem. Ihr Mantra, ihr Leitfaden, ihre zentrale Idee ist die Wettbewerbsfähigkeit. Rehns vereinfachender Vorschlag lautet, Frankreich müsse reformieren und sparen, Deutschland die Binnennachfrage ankurbeln und investieren. Und dann? Das Ziel wäre, die Lohnstückkosten m.o.w. auf einer Linie zu halten – und die übrige Welt mit europäischen Produkten und damit Arbeitslosigkeit zu überschwemmen. Rehn denkt nur bis an die Grenzen der Eurozone/EU. „Wettbewerbsfähigkeit“ ist ein ungeeignetes wirtschaftspolitisches Ziel. Es klingt wie Unternehmensförderung, ist tatsächlich aber eine gesamtwirtschaftliche Strategie, die in einer globalisierten Wirtschaft untauglich ist. Die EU bzw. die Eurozone wäre gut beraten, sich von diesem Konzept zu verabschieden und stattdessen ihren eigentlichen Vorteil, den großen Binnenmarkt, in den Mittelpunkt zu rücken.

Von der Austerität

In Kapitel 13 beschäftigt sich Rehn mit der Auseinandersetzung zwischen „Austerianern“ und „Spendanigans“ in den Jahren 2011/12. Wie oft in dem Buch schlägt er einen Mittelweg ein. Er will sich weder der Argumentation zu der Wirksamkeit der fiskalischen Multiplikatoren (Blanchard) noch der Argumentation der „expansiven Sparsamkeit“ (Alesina), die er für eine „himmlische, wachstumsfördernde Wirkung der Konsolidierung“ (S. 255) und eine „ungeheuerliche Behauptung“ (S. 256) hält, anschließen.

In Kapitel 17 geht es um die Ursachen für die „Schuldenkrise in der Eurozone“ (S. 328), also die Frage, warum nach der globalen Finanzkrise (2007/8) die Eurozone in eine zweite Krise zwischen 2010 und 2015 geraten ist („Double Dip“). Rehn referiert einige, z.T. abstruse Erklärungsansätze und kommt zu dem Ergebnis, dass es die restriktive Finanzpolitik war, die ihren Höhepunkt in dem verrückten Fiskalpakt, den die Kommission skeptisch sah, (2012) fand (S. 340 f.).

In Kapitel 18 erörtert Rehn ökonomische Theorien, die im Zusammenhang mit der Eurokrise eine Rolle spielten. Für problematisch hält er zunächst die große Rolle, die die Theorie des optimalen Währungsgebiets zu Beginn der Währungsunion gespielt habe. Das zentrale Manko dieser Theorie sei gewesen, dass sie die Gefahren nicht ausgeglichener Zahlungsbilanzen bzw. makroökonomischer Ungleichgewichte in der Währungsunion ausgeblendet habe (S. 346). Ein zweites Problem: der Vertrag von Maastricht habe mit dem No-bail-out-Artikel (der in Wirklichkeit keiner ist) zu großes Vertrauen in die Marktkräfte gehegt. Auch die Theorie des optimalen Funktionierens selbstregulierender Finanzmärkte habe sich als falsch erwiesen (S. 346 f.). Auf das Phänomen, dass die Finanzmärkte zunächst davon ausgegangen waren, dass in Schwierigkeiten geratende Staaten bei der Kreditierung doch herausgehauen würden, was zunächst aber nicht geschah, und die Zinsen auf den Staatskredit für manche Staaten explodierten, die Märkte zunächst also falsch lagen, dann aber mit der „Rettungspolitik“ doch ein Bail-out stattfand, die Märkte also mit einer gewissen Verspätung und unter fragwürdigen Umständen doch Recht behielten, geht Rehn nicht ein.

Theorien

Rehn zählt sich zu den „wiedergeborenen ‚Minskyiten‘“ (S. 363). „Obwohl ich als Typ aus der Realwirtschaft schon immer einen instinktiven Zweifel gegen jegliches übermäßiges Vertrauen in das effiziente Funktionieren der Finanzmärkte hatte, hatte ich zuvor in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur keine ausreichend überzeugenden analytischen Rechtfertigungen dafür gefunden“ (ebd.). Die Reihenfolge ist bemerkenswert. Grundsätzlich gilt für Märkte der Verdacht oder die Annahme, je nachdem, auf Gleichgewicht. Die Ausnahme, die alle paar Jahre zu besichtigen ist, bedarf der „analytischen Rechtfertigung“. Dass Rehn nur „instinktive Zweifel“ hatte, liegt wohl daran, dass er – wie übrigens Minsky auch – grundsätzlich an das Gleichgewicht der Märkte, wohlgemerkt an den Gütermärkten, glaubt.

Schließlich wirft Rehn einen Blick „über den Tellerrand“ (S. 365 ff.) hinaus und erkennt dort die Modern Monetary Theory (MMT) mit deren Plädoyer für fiskalische Dominanz als Lösung für das Problem des langsamen Wachstums und der säkularen Stagnation. Er verteidigt sie gegen allzu schlichte Interpretationen – „Gelddruckmaschine“ –, macht aber aus seiner tiefen Skepsis keinen Hehl: „Würden Sie Anleihen eines Landes halten, das einem solchen Experiment (MMT-Politik, d.Verf.) folgte?“ (S. 366) Auch mit Blick auf die Blanchard-Debatte wird deutlich, dass er schuldenfinanzierten fiskalischen Anreizen nicht traut, er qualifiziert sie als „Wunderwaffe“ (ebd.).

Das Kapitel endet mit einer klebrigen, pastoralen Rede auf die Grenzen des Marktes, die soziale Marktwirtschaft und Keynes dritten Weg (S. 368 ff.). Unter Grenzen des Marktes versteht er: Einkommensungleichheit, Herdenverhalten der Finanzmärkte und kein Einbezug von Externaltäten in Hinblick auf den Klimawandel. Unter Sozialer Marktwirtschaft: Bestimmung von Regeln und Ermöglichung der bürgerlichen Entwicklung für jeden Einzelnen. Der Dritte Weg von Keynes zeichne sich aus durch: wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit. Alle Probleme, die Rehn z.T. anspricht, sind damit beerdigt.

Lehren

Sieben Lehren hat Rehn im Schlusskapitel 19 parat (S. 373 ff.). Die erste ist mehr eine Empfehlung: Man sollte im Club der Eurozone bleiben. Die zweite mehr eine Feststellung: Für die Finanzstabilität sei die zu vollendende Bankenunion eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Daher die dritte Lehre, auch eine Feststellung: Um die Finanzstabilität zu sichern, bedarf es eines die Marktpaniken bändigenden Lenders of Last Resort, der EZB. Zur zweiten Hauptsäule des Zentralbankwesens, so die vierte Lehre/Feststellung, sei die makroprudentielle Politik geworden; das erfordere in den einzelnen Ländern weitreichende Veränderungen, zumal der Nichtbankensektor und die nichttraditionellen Kreditprodukte, die Schattenbanken mit ihren kreativen Erfindungen, an Bedeutung gewonnen hätten. Die fünfte Lehre: Mehr Koordination in der Finanzpolitik und mehr Koordination zwischen Finanzpolitik und Geldpolitik (was kein Widerspruch zur Unabhängigkeit der Zentralbank sei) sei vonnöten. Die sechste Lehre: Die finanzpolitischen Regeln sollten nicht mehr, wie bisher, an den strukturellen Haushaltssaldos orientiert sein, sondern an einer Ausgabenregel. Die siebte und letzte Lehre: Die Weiterentwicklung der Eurozone zur Stabilitätsunion sollte weiter in der Hauptverantwortung der Nationalstaaten liegen.

Dreierlei fällt auf:

  1. Wenn die sechste Regel – die Orientierung an einer Ausgabenregel – die Richtung für eine Weiterentwicklung des Stabilitätspakts die Mehrheitsposition in den europäischen Gremien (Kommission und kleiner Rat) wiedergibt, dann wäre das ganz immanent betrachtet, begrüßenswert. Die willkürlichen Marken (Schuldenstand und Defizitregel) sind längst überfällig für eine Revision. Die Ausgabenregel (mittelfristige Wachstumsrate > Wachstumsrate der Staatsausgaben) wäre ein minimaler Fortschritt.
  2. Der Hinweis auf den Bedeutungszuwachs der makroprudentiellen Politik ist zweifelhaft. Rehn vergisst darauf hinzuweisen, dass das herkömmliche Verständnis von makroprudentieller Politik – jedenfalls in Deutschland – immer noch von der grundsätzlichen Stabilität der Finanzmärkte (bei Vorliegen aller Informationen und rationalem Verhalten) ausgeht. Das kann Rehn nicht gefallen, da er sich, wie oben gesehen, als Anhänger der Instabilitätstheorie von Minsky zu erkennen gegeben hat. Auch die These, dass makroprudentielle Politik grundsätzlich auf nationaler Ebene angesiedelt sei, wie in Deutschland verbreitet, ist vorgestrig und läuft im Grunde genommen auf eine Absage an makroökonomische Politik auf europäischer Ebene (Sixpack) hinaus.
  3. Am überraschendsten ist Rehns siebte Lehre: „Beim Aufbau der Eurozone als Stabilitätsunion sollte die Hauptverantwortung für die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik bei den Mitgliedstaaten liegen…“ (S. 393). Warum die Eurozone eine „Stabilitätsunion“ sein soll und keine „Wachstumsunion“ bleibt Rehns Geheimnis, eigentlich widerspricht das einigen seiner Argumente. Hauptsächlich aber: Dass er als Ex-Kommissar kein entschiedenes Plädoyer für Eurobonds (mittlerweile in Gestalt der NextGenEU-Anleihen realisiert), einen zentralen Haushalt und entsprechende institutionelle Strukturen führt, ist der Tatsache geschuldet, dass er ein Freund des Mittelweges ist, die Synthese des Schlechten mit dem Guten herstellen will und damit in der Sackgasse landet. Es gilt das alte Epigramm: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Aus historischer Perspektive: Fast sieben Jahrzehnte nach dem EWG-V immer noch das Plädoyer für die Koordination primär national bestimmter Wirtschaftspolitiken zu führen, ist – gelinde gesagt – geschichtsvergessen.

Rehn wurde eingangs als „aufgeklärter Neoliberaler“ bezeichnet. Das Aufgeklärte bezieht sich u.a. auf gewisse Einsichten in Hinblick auf die makroökonomische Politik, insbesondere auf die Problematik chronischer Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands und die Frage der Finanzmarktstabilität. Legt man dieses wirtschaftspolitische Moment der Aufklärung über den Mainstream, der in Deutschland dominiert, wird deutlich, wie isoliert Deutschland mittlerweile in der EU ist.

Olli Rehn, Die Rettung des Euro. Was wir aus der Krise lernen können, o.O. 2021

Unbedingt zugutehalten muss man Olli Rehn seine Selbstironie. Auf Seite 316 findet sich ein Foto von Alexis Tsipras und ihm, das mit einem Zitat von Yanis Varoufakis versehen ist: darin wird er so qualifiziert: „ein analphabetischer, gelber Befehlsempfänger der dritten Kategorie“.

Rehn war Mitglied des Europaparlaments, dort Angehöriger der liberalen Fraktion, zwischen 2004 und 2014 Mitglied der Kommission, während der Eurokrise zuständig als Kommissar für Wirtschaft und Währung, seit 2018 Gouverneur der finnischen Zentralbank. Seine Positionen ließen sich als einer Art „aufgeklärtem Neoliberalismus“ verpflichtet charakterisieren, so manchem Marktradikalen in Deutschland ließen sie einen Schauer über den Rücken laufen.

Das Buch umfasst 417 Seiten und gliedert sich in 19 Kapitel und ein Nachwort. Im Mittelpunkt steht die so genannte Eurokrise von 2010 bis 2012, ihre Vorgeschichte, ihr Verlauf und ihre Nachgeschichte. Die zentralen Stationen der Krise werden herausgearbeitet. Es hat einen analytischen Anspruch und bezieht viele Thesen, Theorien und Einschätzungen von Akteuren der Eurokrise mit ein. Leitfaden ist die makroökonomische Analyse, die es versucht mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen zu verknüpfen.

Der Spaziergang von Deauville

Im Herbst 2010, als die Finanzierung Griechenlands nach langem Zögern und Hinhalten Deutschlands gesichert war, kochte die Banken- und Immobilienkrise in Irland, das Rehn einen „verwilderten keltischen Tiger“ nennt, hoch. Das Land, seit 1973 Mitglied in der EG, hatte sich aus tiefer Armut dank europäischer Hilfen und Steuerdumping (12,5 Prozent Körperschaftssteuer) zu einem passablen Wohlstand hochgearbeitet und leistete sich einen völlig überdimensionierten Bankensektor, aus dem im ersten Jahrzehnt der Währungsunion eine Immobilienblase finanziert wurde. In diesem Herbst kletterten die Zinsen auf den irischen Staatskredit in die Todeszone (6-7 Prozent Risikoprämie).

Statt Irland geräuschlos in die „Rettungspolitik“ mit einzubeziehen, machte sich Deutschland, der Dirigent der Eurokrise, daran, die Krise weiter zu verschärfen. Bei dem berüchtigten Spaziergang von Deauville mit Sarkozy erhöhte die deutsche Kanzlerin den Druck auf Frankreich: Man wollte zweierlei, automatische Sanktionen gegen Staaten, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen und eine Beteiligung des Privatsektors bei den Hilfsmaßnahmen durch den EFSF. „Der Deauville-Deal bestand im Wesentlichen darin, dass Deutschland die Aufweichung der halb automatischen Sanktionen akzeptierte und Frankreich im Gegenzug die Beteiligung des Privatsektors an der Vereinbarung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus akzeptierte – die Umschuldung war ein langjähriges Ziel Deutschlands“ (S. 105).

Mit dem ins Auge gefassten „Haircut“ wurde kalkuliert Öl ins Feuer gegossen, die Risikoprämie für den irischen Staatskredit an den Finanzmärkten stieg in Richtung 8 Prozent. Rehn benennt die deutsche Herzensangelegenheit, die er sich nicht in seinen „kühnsten Albträumen hätte vorstellen können“ (S. 104), in all ihrer Problematik („Weltuntergang von Deauville“, S. 93 und „Doomsday“, S.105), banalisiert sie aber, indem er feststellt: „Marktkenntnisse waren an diesem Wochenende Mangelware“ (S. 103). Den damaligen Hardlinern im Kanzleramt kann man alles Mögliche vorwerfen, nur nicht, dass es ihnen unklar war, welche Folgen der geplante Haircut auf den Finanzmärkten haben würde. Es handelte sich, um im Bild zu bleiben, um gezielte Brandstiftung. Es kam, wie es auf Druck der Deutschen kommen musste: Der Haircut bei der Sanierung Griechenlands wurde durchgesetzt, und Irland schlüpfte unter den Rettungsschirm. Erst jetzt verwandelte sich die Griechenlandkrise in eine Eurokrise. Die Dumpingsteuer durfte das Land beibehalten, und die Rettung der irischen Banken wurde großzügig europäisch geregelt (der Haircut bezog sich auf die in Griechenland kreditierenden Banken, nicht auf die irischen). Carlo Bastasin, den Rehn zitiert, bezeichnete die Deauville-Verabredung als „eine raffinierte Art, Selbstmord zu begehen“, auch eine Verharmlosung, da weder der Hauptakteur, Deutschland, noch dessen Motiv, die Umsetzung einer verrückten betriebswirtschaftlichen Regel, des Haftungsprinzips, in die europäische Makroökonomie präzise benannt werden.

Whatever it takes

Im Sommer 2012, so Rehn, kam der „letzte Wendepunkt“ (S. 205) der Krise. Er schildert die letzten fehlschlagenden Versuche aus der Politik, die Krise einzudämmen: die Kapitalaufstockung bei der Europäischen Investitionsbank (EIB), die Einleitung der Bankenunion und die Rettung des spanischen Bankensektors. Die Einrichtung des ESM, der auch keine Entspannung brachte, hat er dabei vergessen. Erst mit Draghis Londoner Whatever-it-takes-Rede sei die Wende eingeleitet worden. Er zitiert Draghis Interview vom 2. August 2012 nach der Rede von London: „Risikoprämien, die mit der Furcht vor der Reversibilität zusammenhängen, sind inakzeptabel, und sie müssen grundlegend angegangen werden. Der Euro ist irreversibel. (…) Der EZB-Rat (…) kann uneingeschränkt Offenmarktgeschäfte in einem Umfang durchführen, der ausreicht, um sein Ziel zu erreichen“ (S. 216). Dass allein die Intervention der EZB als Lender of Last Resort den Anstieg der Risikoprämien für den Staatskredit zunächst zum Stillstand, dann zum Rückgang gebracht hat, will Rehn nicht so deutlich betonen, stattdessen ist ihm wichtig, den eher unwichtigen Nebenaspekt des OMT-Programms, seine Knüpfung an die Konditionalität, die er für „eine voll gerechtfertigte Lösung“ (ebd.) hält, hervorzustreichen. Am Ende seiner Ausführungen (S. 376 ff.) steigert er seine falsche Gewichtung noch dahingehend, dass er die EZB und den ESM als die großen Krisenlöser (auch in der Zukunft) anpreist. Das ist Unfug. Der ESM verfügt über keine „große Bazooka“, hat bei der Krisenlösung nur eine technische Rolle gespielt und ist – gerade wegen seiner Konditionalität – eine Institution ohne Zukunft.

Die Makroökonomische Politik im Sixpack

Rehn, promoviert in internationaler Wirtschaftspolitik, legt ein besonderes Augenmerk auf die innereuropäischen Überschuss-Defizit-Positionen. Schon in der Einleitung hebt er mit Blick auf die von Deutschland durchgesetzte Wirtschaftspolitik – was er so nicht erwähnt – der Eurozone hervor: „Meiner Ansicht nach wäre es besser gewesen, einen dritten Weg zu verfolgen, d.h. eine gleichmäßigere Neuausrichtung der Wirtschaft der Eurozone, bei der die Defizitländer Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung verfolgen, während die Überschussländer die produktiven Investitionen und die Binnennachfrage ankurbeln. Dies war der Policy-Mix, den die Europäische Kommission in den jährlichen Wachstumserhebungen und politischen Initiativen empfahl“ (S. 25). Das klingt für einen Neoliberalen einsichtig und macht Hoffnung.

Das gesamte Kapitel 14 (Überschrift: „Die große Wiederherstellung des Gleichgewichts: Frankreich vs. Deutschland“, S. 265 ff.) ist diesem Kernproblem europäischer Wirtschaftspolitik gewidmet. Die aufkeimende Hoffnung wird aber enttäuscht, der „dritte Weg“ entpuppt sich als ziemlich ausgetrampelter, altbekannter Pfad. Zunächst wirft Rehn Nebelkerzen. Da die Eurozone eine global offene Wirtschaft sei, könne sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse richten, wie es die angelsächsischen Ökonomen täten. Außerdem sei vor dirigistischen Eingriffen zu warnen (S. 268). Vor dem Hintergrund des altbekannten Bildes zur Entwicklung der Lohnstückkosten in der Währungsunion zwischen 1999 und 2017 erfolgt die Feststellung: „Auch wenn sich ein Großteil der Debatte über makroökonomische Ungleichgewichte in letzter Zeit auf Deutschland konzentriert hat, ist es dennoch angebracht, darauf hinzuweisen, dass das dringendste und schmerzlich reale Problem ab 2010 die verlorene Wettbewerbsfähigkeit der Defizit-Länder war“ (Herv.i.O.) (S. 269). Nicht nur, dass die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, was immer meint: Exportüberschüsse, eine höchst fragwürdige wirtschaftspolitische Strategie ist, und dass Deutschland im ersten Jahrzehnt der Währungsunion die seine durch Lohndumping errungen hat, ist Rehn der Rede wert, auch die Tatsache, dass ihm die „innere Abwertung“ in den Defizitländern nicht schnell genug ging, spricht Bände für seine halbherzige Denkweise.

Danach beschreibt Rehn Frankreich als „Urheber des Ungleichgewichts“ (S. 270 ff.) – aufgrund fehlender Strukturreformen und ausbleibender Korrekturen seines Haushaltsdefizits. Der Ansatz der Kommission in den Jahren 2012/13 sei gewesen, auf Strukturreformen zu drängen und Nachsicht bei den fiskalischen Größen walten zu lassen. Der „ideale Ansatz“ (S. 277) wäre aber gewesen, zunächst Strukturreformen zu fordern und erst wenn diese nachgewiesen wären, Nachsicht bei den fiskalischen Größen zu üben. Wenn sich da die Kommission nicht verhoben hätte.

Als Gründe für den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss führt Rehn an: 1.) die latente Unterbewertung des deutschen Euros, 2.) das mittel- und osteuropäische Arbeitskräftereservoir, 3.) die Zinskonvergenz, 4.) das Erschließung globaler Märkte, 5.) hohe Ersparnisse und niedrige Investitionen, 6.) hohen Kapitalexport (S. 279 f.). Seine Schlussfolgerung: Steigerung der Binnennachfrage in Deutschland. Die Kommission, so Rehn, hatte immer drei Empfehlungen für Deutschland im Rahmen des Ungleichgewichtsverfahrens: Steigerung der Binnennachfrage durch Lohnwachstum, Steigerung der öffentlichen Investitionen und Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen.

Ist eine deutsch-französische „Win-Win-Wirtschaftsstrategie plausibel?“, so fragt Rehn am Ende des Kapitels. Die Richtung wäre klar, „nämlich Deutschland zu Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage und der Investitionen und Frankreich zu Reformen des Arbeitsmarkts, des Unternehmensumfelds und des Rentensystems zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit zu ermutigen“ (S. 282). Die dümmliche Antwort Deutschlands, das sich anfänglich heftig gegen das von der Kommission vorgeschlagene Verfahren für makroökonomische Ungleichgewichte (MIP) wehrte, kam postwendend. Rehn lässt Schäuble sprechen, der in einer Rede vor dem Brüsseler Wirtschaftsforum am 18. Mai 2011 kundtat: „Ja, wir müssen allzu große Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten vermeiden. Aber nein, dies kann nicht in der Form geschehen, dass erfolgreiche Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit freiwillig einschränken. (…) Der einzig gangbare Weg ist, dass die etwas schwächeren Länder der Eurozone stärker werden. Wir könnten ihnen helfen, aber wir können ihre Aufgabe nicht erfüllen. Außerdem löst man die eignen Probleme der Wettbewerbsfähigkeit nicht, indem man von anderen verlangt, weniger wettbewerbsfähig zu werden, und man kann die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen nicht dauerhaft schließen, indem man von anderen mehr Geld verlangt“ (S. 283). Rehn registrierte, wie er schreibt, dass er in Deutschland ins „politische Abseits“ geraten war.

Nur widerwillig gab Deutschland der Verabschiedung des Sixpacks sein Placet, freilich mit der asymmetrischen Gewichtung bei der Schwelle für ein Verfahren (Überschussländer 6 Prozent, Defizitländer 4 Prozent), was Rehn als nur „zweitbeste Lösung“ (S. 286) charakterisiert.

Rehn und mit ihm die Kommission haben ein makroökonomisches Problem. Ihr Mantra, ihr Leitfaden, ihre zentrale Idee ist die Wettbewerbsfähigkeit. Rehns vereinfachender Vorschlag lautet, Frankreich müsse reformieren und sparen, Deutschland die Binnennachfrage ankurbeln und investieren. Und dann? Das Ziel wäre, die Lohnstückkosten m.o.w. auf einer Linie zu halten – und die übrige Welt mit europäischen Produkten und damit Arbeitslosigkeit zu überschwemmen. Rehn denkt nur bis an die Grenzen der Eurozone/EU. „Wettbewerbsfähigkeit“ ist ein ungeeignetes wirtschaftspolitisches Ziel. Es klingt wie Unternehmensförderung, ist tatsächlich aber eine gesamtwirtschaftliche Strategie, die in einer globalisierten Wirtschaft untauglich ist. Die EU bzw. die Eurozone wäre gut beraten, sich von diesem Konzept zu verabschieden und stattdessen ihren eigentlichen Vorteil, den großen Binnenmarkt, in den Mittelpunkt zu rücken.

Von der Austerität

In Kapitel 13 beschäftigt sich Rehn mit der Auseinandersetzung zwischen „Austerianern“ und „Spendanigans“ in den Jahren 2011/12. Wie oft in dem Buch schlägt er einen Mittelweg ein. Er will sich weder der Argumentation zu der Wirksamkeit der fiskalischen Multiplikatoren (Blanchard) noch der Argumentation der „expansiven Sparsamkeit“ (Alesina), die er für eine „himmlische, wachstumsfördernde Wirkung der Konsolidierung“ (S. 255) und eine „ungeheuerliche Behauptung“ (S. 256) hält, anschließen.

In Kapitel 17 geht es um die Ursachen für die „Schuldenkrise in der Eurozone“ (S. 328), also die Frage, warum nach der globalen Finanzkrise (2007/8) die Eurozone in eine zweite Krise zwischen 2010 und 2015 geraten ist („Double Dip“). Rehn referiert einige, z.T. abstruse Erklärungsansätze und kommt zu dem Ergebnis, dass es die restriktive Finanzpolitik war, die ihren Höhepunkt in dem verrückten Fiskalpakt, den die Kommission skeptisch sah, (2012) fand (S. 340 f.).

In Kapitel 18 erörtert Rehn ökonomische Theorien, die im Zusammenhang mit der Eurokrise eine Rolle spielten. Für problematisch hält er zunächst die große Rolle, die die Theorie des optimalen Währungsgebiets zu Beginn der Währungsunion gespielt habe. Das zentrale Manko dieser Theorie sei gewesen, dass sie die Gefahren nicht ausgeglichener Zahlungsbilanzen bzw. makroökonomischer Ungleichgewichte in der Währungsunion ausgeblendet habe (S. 346). Ein zweites Problem: der Vertrag von Maastricht habe mit dem No-bail-out-Artikel (der in Wirklichkeit keiner ist) zu großes Vertrauen in die Marktkräfte gehegt. Auch die Theorie des optimalen Funktionierens selbstregulierender Finanzmärkte habe sich als falsch erwiesen (S. 346 f.). Auf das Phänomen, dass die Finanzmärkte zunächst davon ausgegangen waren, dass in Schwierigkeiten geratende Staaten bei der Kreditierung doch herausgehauen würden, was zunächst aber nicht geschah, und die Zinsen auf den Staatskredit für manche Staaten explodierten, die Märkte zunächst also falsch lagen, dann aber mit der „Rettungspolitik“ doch ein Bail-out stattfand, die Märkte also mit einer gewissen Verspätung und unter fragwürdigen Umständen doch Recht behielten, geht Rehn nicht ein.

Theorien

Rehn zählt sich zu den „wiedergeborenen ‚Minskyiten‘“ (S. 363). „Obwohl ich als Typ aus der Realwirtschaft schon immer einen instinktiven Zweifel gegen jegliches übermäßiges Vertrauen in das effiziente Funktionieren der Finanzmärkte hatte, hatte ich zuvor in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur keine ausreichend überzeugenden analytischen Rechtfertigungen dafür gefunden“ (ebd.). Die Reihenfolge ist bemerkenswert. Grundsätzlich gilt für Märkte der Verdacht oder die Annahme, je nachdem, auf Gleichgewicht. Die Ausnahme, die alle paar Jahre zu besichtigen ist, bedarf der „analytischen Rechtfertigung“. Dass Rehn nur „instinktive Zweifel“ hatte, liegt wohl daran, dass er – wie übrigens Minsky auch – grundsätzlich an das Gleichgewicht der Märkte, wohlgemerkt an den Gütermärkten, glaubt.

Schließlich wirft Rehn einen Blick „über den Tellerrand“ (S. 365 ff.) hinaus und erkennt dort die Modern Monetary Theory (MMT) mit deren Plädoyer für fiskalische Dominanz als Lösung für das Problem des langsamen Wachstums und der säkularen Stagnation. Er verteidigt sie gegen allzu schlichte Interpretationen – „Gelddruckmaschine“ –, macht aber aus seiner tiefen Skepsis keinen Hehl: „Würden Sie Anleihen eines Landes halten, das einem solchen Experiment (MMT-Politik, d.Verf.) folgte?“ (S. 366) Auch mit Blick auf die Blanchard-Debatte wird deutlich, dass er schuldenfinanzierten fiskalischen Anreizen nicht traut, er qualifiziert sie als „Wunderwaffe“ (ebd.).

Das Kapitel endet mit einer klebrigen, pastoralen Rede auf die Grenzen des Marktes, die soziale Marktwirtschaft und Keynes dritten Weg (S. 368 ff.). Unter Grenzen des Marktes versteht er: Einkommensungleichheit, Herdenverhalten der Finanzmärkte und kein Einbezug von Externaltäten in Hinblick auf den Klimawandel. Unter Sozialer Marktwirtschaft: Bestimmung von Regeln und Ermöglichung der bürgerlichen Entwicklung für jeden Einzelnen. Der Dritte Weg von Keynes zeichne sich aus durch: wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit. Alle Probleme, die Rehn z.T. anspricht, sind damit beerdigt.

Lehren

Sieben Lehren hat Rehn im Schlusskapitel 19 parat (S. 373 ff.). Die erste ist mehr eine Empfehlung: Man sollte im Club der Eurozone bleiben. Die zweite mehr eine Feststellung: Für die Finanzstabilität sei die zu vollendende Bankenunion eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Daher die dritte Lehre, auch eine Feststellung: Um die Finanzstabilität zu sichern, bedarf es eines die Marktpaniken bändigenden Lenders of Last Resort, der EZB. Zur zweiten Hauptsäule des Zentralbankwesens, so die vierte Lehre/Feststellung, sei die makroprudentielle Politik geworden; das erfordere in den einzelnen Ländern weitreichende Veränderungen, zumal der Nichtbankensektor und die nichttraditionellen Kreditprodukte, die Schattenbanken mit ihren kreativen Erfindungen, an Bedeutung gewonnen hätten. Die fünfte Lehre: Mehr Koordination in der Finanzpolitik und mehr Koordination zwischen Finanzpolitik und Geldpolitik (was kein Widerspruch zur Unabhängigkeit der Zentralbank sei) sei vonnöten. Die sechste Lehre: Die finanzpolitischen Regeln sollten nicht mehr, wie bisher, an den strukturellen Haushaltssaldos orientiert sein, sondern an einer Ausgabenregel. Die siebte und letzte Lehre: Die Weiterentwicklung der Eurozone zur Stabilitätsunion sollte weiter in der Hauptverantwortung der Nationalstaaten liegen.

Dreierlei fällt auf:

  1. Wenn die sechste Regel – die Orientierung an einer Ausgabenregel – die Richtung für eine Weiterentwicklung des Stabilitätspakts die Mehrheitsposition in den europäischen Gremien (Kommission und kleiner Rat) wiedergibt, dann wäre das ganz immanent betrachtet, begrüßenswert. Die willkürlichen Marken (Schuldenstand und Defizitregel) sind längst überfällig für eine Revision. Die Ausgabenregel (mittelfristige Wachstumsrate > Wachstumsrate der Staatsausgaben) wäre ein minimaler Fortschritt.
  2. Der Hinweis auf den Bedeutungszuwachs der makroprudentiellen Politik ist zweifelhaft. Rehn vergisst darauf hinzuweisen, dass das herkömmliche Verständnis von makroprudentieller Politik – jedenfalls in Deutschland – immer noch von der grundsätzlichen Stabilität der Finanzmärkte (bei Vorliegen aller Informationen und rationalem Verhalten) ausgeht. Das kann Rehn nicht gefallen, da er sich, wie oben gesehen, als Anhänger der Instabilitätstheorie von Minsky zu erkennen gegeben hat. Auch die These, dass makroprudentielle Politik grundsätzlich auf nationaler Ebene angesiedelt sei, wie in Deutschland verbreitet, ist vorgestrig und läuft im Grunde genommen auf eine Absage an makroökonomische Politik auf europäischer Ebene (Sixpack) hinaus.
  3. Am überraschendsten ist Rehns siebte Lehre: „Beim Aufbau der Eurozone als Stabilitätsunion sollte die Hauptverantwortung für die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik bei den Mitgliedstaaten liegen…“ (S. 393). Warum die Eurozone eine „Stabilitätsunion“ sein soll und keine „Wachstumsunion“ bleibt Rehns Geheimnis, eigentlich widerspricht das einigen seiner Argumente. Hauptsächlich aber: Dass er als Ex-Kommissar kein entschiedenes Plädoyer für Eurobonds (mittlerweile in Gestalt der NextGenEU-Anleihen realisiert), einen zentralen Haushalt und entsprechende institutionelle Strukturen führt, ist der Tatsache geschuldet, dass er ein Freund des Mittelweges ist, die Synthese des Schlechten mit dem Guten herstellen will und damit in der Sackgasse landet. Es gilt das alte Epigramm: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Aus historischer Perspektive: Fast sieben Jahrzehnte nach dem EWG-V immer noch das Plädoyer für die Koordination primär national bestimmter Wirtschaftspolitiken zu führen, ist – gelinde gesagt – geschichtsvergessen.

Rehn wurde eingangs als „aufgeklärter Neoliberaler“ bezeichnet. Das Aufgeklärte bezieht sich u.a. auf gewisse Einsichten in Hinblick auf die makroökonomische Politik, insbesondere auf die Problematik chronischer Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands und die Frage der Finanzmarktstabilität. Legt man dieses wirtschaftspolitische Moment der Aufklärung über den Mainstream, der in Deutschland dominiert, wird deutlich, wie isoliert Deutschland mittlerweile in der EU ist.

Wissensbildung um die Europäische Union

Berthold Rittberger, Die Europäische Union. Politik, Institutionen, Krisen, Verlag C.H. Beck, München 2021.

Der kleine Band (125 Seiten) ist in der Reihe „Wissen“ im Beck-Verlag erschienen und verfolgt genau dieses Anliegen, das Wissen um die EU zu verbreiten. Er ist zwar (politik)wissenschaftsbasiert, möchte aber nicht die Europawissenschaft vorantreiben. Das Büchlein ist flüssig durchformuliert, kommt ohne jedes Zitat aus, ohne Fußnoten und enthält im Anhang einige Hinweise auf weiterführende Literatur, eine knappe Zeittafel zur Geschichte der EU und eine Synopse zu den wichtigsten Organen der EU. Es gliedert sich in drei Teile: I. Die Schwerkraft der Marktintegration: Wofür die EU zuständig ist, II. Tagesgeschäft und Meilensteine: Wie die EU entscheidet und III. Sogkräfte und Fliehkräfte: Die Dynamik europäischer Integration.

Die Leitidee des Verfassers ist, die „Schwerkraft der Marktintegration“ herauszuarbeiten (Teil I). Weitgehend wertungsfrei und mit knappen historischen Rückblicken arbeitet er hier die verschiedenen Zuständigkeitsbereiche der EU von der Agrarpolitik über den Haushalt bis zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) heraus. Es gilt: je weiter vom Markt entfernt der Politikbereich ist, desto weniger wird er europäisch bestimmt. Aber auch die Innenpolitik wurde „schleichend europäisiert“ (S. 40 ff.) (Schengener Abkommen, Migrationskrise). Das gelte nicht für die Außen- und Sicherheitspolitik (S. 46 ff.), die weiter weg liegt von der „Anziehungskraft der Marktintegration“ (S. 51). Mit Blick auf die WWU ließen sich Einwände formulieren: 1.) Die Währungsunion ist keineswegs als „Liberalisierungsmaschine“ (Streeck) (S. 12) zu interpretieren, sondern eher als ihr Gegenteil, da sie die Währungskonkurrenz beseitigt. 2.) Artikel 125 AEUV spricht auch nicht, wie in Deutschland oft behauptet wird, von einem Haftungsverbot (S. 26), sondern stellt die Nicht-Haftung lediglich fest. 3.) Auch ist die EZB nicht zuständig für die Durchsetzung der Wirtschafts- und Währungspolitik (rückwärtiger Buchdeckel); die Wirtschaftspolitik wird von den beiden Räten intergouvernemental koordiniert.

In Teil II schildert der Verfasser das Regierungssystem der EU und geht der Frage nach ihrem politischen Charakter nach. Das ist zwar alles nicht neu, setzt aber doch Nuancen, ist kompakt referiert und auf dem neuesten Stand. Für die Kommission wird festgestellt: „Aufbau und Funktionsweise … ähneln denen einer Regierung“ (S. 58) und für den Europäischen Rat, dass er als „Kommandobrücke der EU“ (S. 61) bezeichnet werden kann. Als Gründe für den Machtzuwachs des Europäischen Parlaments gibt der Verfasser einerseits die „Logik des EU-Integrationsprozesses“ (S. 66), andererseits dessen „eigene Ungeduld“ (S. 67), die sich bei dem Spitzenkandidatenmodell gezeigt habe, an. Gut herausgearbeitet wird auch die Konstitutionalisierung der EU-Rechtsordnung, für die maßgeblich der Europäische Gerichtshof mit seinen Grundsatzentscheidungen verantwortlich ist. Das Wesen der EU charakterisiert der Verfasser so, dass sie „Attribute von Staatlichkeit“ (S. 91) angenommen habe. Und zusammenfassend: „Die EU ist primär ein Regulierungsstaat und kein Interventionsstaat mit eigener Steuerpolitik und weitreichender Umverteilungspolitik“ (S. 92). Staatlichkeit sei ein „dynamischer Prozess“ und in diesem habe die EU an Staatlichkeit gewonnen (S. 93).

In Teil III geht der Verfasser den Sogkräften (Spillover, Krisenbewältigung, öffentliche Unterstützung) und Fliehkräften (Politisierung, Demokratiedefizit, Tabuisierung Europas) nach. Er registriert ein Aufkommen von Euroskeptizismus und Populismus und eine neue Konfliktlinie, die des Identitätskonflikts, eine Art Euphemismus für kruden Nationalismus. Mit Blick auf die Zukunft Europas fragt sich der Verfasser, wie die EU aus der Krise gelangen könne. Hier ließen sich Einwände anbringen. Zunächst beklagt er mit Grimm die „Überkonstitutionalisierung des Binnenmarkts“ (S. 122). Aber: Wer dem Rechtsstaat den Status einer unabhängigen, eigenen Gesetzlichkeiten folgende Größe beimisst, muss eben auch mit der Dynamik europäischer Rechtsstaatlichkeit rechnen. Weiter beklagt er, dass die Parlamente während der Rettungspolitik zu „bloßen Erfüllungsgehilfen der Regierungen degradiert wurden“ (S. 123). Aber als Politikwissenschaftler weiß er doch sicher, dass Parlamente in den westlichen Demokratien längst dort angekommen sind. Regierungen arbeiten Gesetze aus und lassen sie durch „ihre“ Parlamente verabschieden. Warum ausgerechnet bei europäischen Fragen so auf die Rechte der nationalen Parlamente pochen? Auch die Klage über die Tabuisierung der Europäisierung und die Deklarierung nach dem Tina-Prinzip kann nicht recht überzeugen. Wenn in den letzten Jahren ein Tabu bspw. in Deutschland niedergerissen wurde, dann war es das „Europa-Tabu“ – mit Folgen für das gesamte politische System (neue anti-europäische Partei, zahllose Klagen vor dem Verfassungsgericht). Dass die Kanzlerin die Rettungspolitik und den Euro als „alternativlos“ bezeichnet hat, war ja mehr aus der rhetorischen Kiste gegriffen, als dass es irgendetwas Realistisches abgebildet hätte. Die Alternativen lagen ja längst auf dem Tisch, Eurobonds auf der einen Seite, Exitstrategien auf der anderen.

Am Ende spricht sich der Verfasser – zu Recht – dafür aus, der Marktintegration Grenzen zu setzen (S. 124). Gerne hätte man etwas mehr darüber erfahren, in welchem Zusammenhang der EuGH mit seiner Rechtsprechung in die Tarifautonomie und das Streikrecht eingegriffen hat. Oder meint er damit nur einen fiktiven Fall?

Insgesamt: Ein sehr lesenswertes, kompaktes, auf dem neusten Stand befindliches Einführungsbüchlein in die EU, mit vielen Vertiefungshinweisen und Anregungen zur Diskussion.

Zentralbankkapitalismus – Kritische Anmerkungen zu einem neuen Buch.

Joscha Wullweber, Zentralbankkapitalismus. Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten, Berlin 2021

1.

Ein Ära-Begriff

Es war Ben Bernanke, vormals Fed-Präsident, der 2017 in einem Aufsatz eine neue Ära der Geldpolitik und damit der Zentralbanken ausgerufen hat. In seinem Aufsatz wirft Bernanke zwar auch ordnungspolitische Fragen auf – die Frage der Unabhängigkeit der Zentralbanken vor dem Hintergrund einer notwendigen Koordination von Fiskal- und Geldpolitik –, im Vordergrund stehen aber Fragen der anstehenden Veränderungen der Geldpolitik in einer Welt von Niedrigzinsen und Niedriginflation. Mit keinem Wort erwähnt er die Schattenbanken. Warum wohl?

In Deutschland wird die neue Welt nach der globalen Finanzkrise gerne unter ordnungspolitischen Vorzeichen betrachtet. Joscha Wullweber hat die neue Ära in seinem Buch auf den Begriff „Zentralbankkapitalismus“ gebracht. Das Argument: Seit der globalen Finanzkrise 2007/08 retten die Zentralbanken der Welt den Kapitalismus mit unkonventionellen Politiken (QE, Kauf von Staatspapieren und neue Geldpolitik mit Schattenbanken) vor dem Untergang. Die alte Leitzinspolitik ist außer Mode gekommen. Fast skandalisierend hebt er dabei die neue geldpolitische Liaison der Zentralbanken mit den Schattenbanken hervor, einen Aspekt, der in den USA kaum eine Rolle spielt, weil dort die Schattenbanken längst zu den akzeptierten Partnern der Fed gehören und der finanzmarktbasierte Kredit daselbst heimisch ist.

Das Kompositum „Zentralbankkapitalismus“ soll für eine neue Ära stehen. Es bringt eine zentrale Institution regulierter Markt- oder Geldwirtschaften mit einer historischen Produktionsweise zusammen. Keynes und die Keynesianer einigten sich für das ihnen betrachtete Wirtschaftssystem auf den Begriff Geldwirtschaften. Der Frieden mit dem Kapitalismus war geschlossen, und er erlaubte differenziertere Analysen der Geldordnung. Aber: der Kapitalismus bestand ja weiter und die vergessende Betrachtung als Geldwirtschaft verdeckte, dass es die kapitalistische Produktionsweise war, die zum geldheckenden Geld, zum Selbstzweck, aus Geld mehr Geld zu schaffen, führte.

Nach der Deregulierung der Finanzmärkte mit dem Big Bang Thatchers und Reagans Deregulierungspolitik Mitte der achtziger Jahre kam der Begriff Finanzkapitalismus für die neuen Erscheinungsformen des Kapitalismus auf. Er erinnerte an Hilferding, dessen Werk „Das Finanzkapital“ (1910) aber in den Wirren des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise unterging. Gleichwohl schienen mit den neuen Erscheinungsformen seit den achtziger Jahren viele Phänomene mit dem Begriff einzufangen zu sein. Überdacht, und als Epochenstrukturierung weitgehend unumstritten, wird meist davon ausgegangen, dass um das Jahr 1980 herum eine neoliberale Ära begonnen hat, eingeleitet durch Regierungswechsel mit einhergehenden Umstellungen in der Wirtschaftspolitik.

Wer vom Buchdeckel und -titel auf den Inhalt von Wullwebers Buch schließen will, sieht sich schon beim Blick ins Inhaltsverzeichnis in die Irre geführt. Zum Kapitalismus erfährt der Leser gar nichts, er wird als Formation unterstellt. Von daher wäre auch der Titel „Zentralbankwirtschaft“ geeignet gewesen. Oder, da die Zentralbank eine staatliche Institution ist und wenn Kapitalismus erhalten bleiben soll, könnte auch von „Staatsbankkapitalismus“ oder gar „Staatskapitalismus“ gesprochen werden. Der Leser erfährt aber auch nichts zu der Schnittstelle zwischen Zentralbanken und Finanzsystem einerseits und kapitalistischer Produktion und den brennenden Fragen der Zeit, etwa wie und ob Zentralbanken mit der säkularen Investitionsschwäche im realen Sektor, der Ungleichheit in der Einkommensverteilung und der Überakkumulation von Geldkapital – weltweit wie national – umgehen andererseits.

Das Buch besteht aus 9 Kapiteln. In Kapitel 1 (Einleitung) wird der Begriff „Zentralbankkapitalismus“ als „Provokation“ (S. 17) eingeführt. Der Verfasser gibt in Kapitel 2 und 4 einen gut lesbaren Überblick über die alte Zentralbankpolitik, breitet in Kapitel 6 seine zentrale These über die neue Rolle der Schattenbanken aus, charakterisiert in Kapitel 7 die die beiden großen Krisen des beginnenden 21. Jahrhunderts (globale Finanzkrise und Pandemiekrise) und fasst in Kapitel 8 und 9 die neue unkonventionelle Geldpolitik der Zentralbanken verallgemeinernd zusammen. Kapitel 3 (Geldtheorie) und Kapitel 5 (Instabilität des Finanzsystems) fallen etwas aus der Argumentation heraus und sprechen allgemeinere theoretische Fragen an. Das Buch schließt mit einem Ausblick auf Europa.

2.

Eine „Politische Theorie des Geldes“ und Minskys Instabilitätstheorie

Kapitalismus, Geldwirtschaft, Kreditsystem – drei Systeme, die irgendwie verbunden sind und Wullweber müsste erklären, wie sie zusammenhängen. Ist Geld aus sich heraus zinsbringend, wann wird aus Geld Kapital und was hat das mit dem Kredit zu tun? Oder wie Wullweber formuliert: „Wie hängen Geld und Schulden zusammen, und worin besteht der Zusammenhang zwischen Geld, Ware und Wert?“ (S. 53) Bekanntlich sind im Kreditsystem Schulden und Vermögen nur zwei Seiten einer Medaille. Wie also wird aus Geld ein Vermögen?

Schon die simple Tatsache, dass es eine Zentralbank gibt und der Staat nicht einfach Papiergeld drucken kann, beweist, dass Geld auf Kredit beruht, dass es sich um Kreditgeld handelt und nicht um Staatspapiergeld. Als solches behandelt Wullweber es jedoch, obwohl er mehrfach schreibt, dass „es sich bei Geld um eine sehr spezielle Kreditform“ (ebd.) handelt. Aber gleichzeitig will er eine „politische Theorie des Geldes“ entwickeln. „Auch wenn dieser politische Akt nicht auf den Staat beschränkt ist, argumentiere ich in Übereinstimmung mit chartalistischen Theoretikern wie Knapp (1905), Keynes (1930) (…) gegen (…) die Mehrheit der wirtschaftswissenschaftlichen Konzeptualisierungen, dass der Staat eine wichtige Rolle für die Entstehung der Geldform spielt“ (ebd.). Im nächsten Satz relativiert er und widerspricht Positionen, die „die Geldform allein an den Staat knüpfen“ (ebd., Herv.i.O.). Mit „Geldform“ meint Wullweber immer die Varianten von Geld, also Goldmünze, Papiergeld etc., nicht Geld als Wertform. Im Zentrum steht die Frage nach dem „intrinsischen Wert“ des Geldes, also des Geldes als Maßstab für die Werte anderer Waren.

Ein Blick auf Wullwebers Geldkapitel im Buch zeigt bereits eindrücklich die Problematik der Trennung von Geldwirtschaft und Produktionswirtschaft. Schon der Titel „Eine politische Theorie des Geldes“ zeigt ihn in der Tradition von Knapps „Staatlicher Theorie des Geldes“ (1905). Hätte er Knapps Buch gelesen, statt ihn nur ungelesen ins Literaturverzeichnis zu übernehmen, dann wüsste er, dass bei Knapp letztlich Gold als Maßstab der Preise fungiert, per „rekurrentem Anschluss“ – auf Deutsch könnte man Vererbung sagen. Tatsächlich sind die Theorien, die Geld oder auch Zins politisch herzuleiten versuchen, Bankrotterklärungen für die Wirtschaftswissenschaft. Wen wundert es, dass das Finanzministerium primär Juristen einstellt.

Ausgangspunkt ist für Wullweber „die Annahme, dass Waren keinen natürlichen oder intrinsischen Wert haben, sondern der Warenwert gesellschaftlich konstruiert ist. Geld drückt das Wertverhältnis der Waren zueinander aus und fungiert auf diese Weise als allgemeines Äquivalent für alle Vermögenswerte. (…) Geld stellt daher die Maßeinheit eines Wertes dar, der sich aus einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess ergibt“ (S. 54 f., Herv.i.O.).

Wie kann Geld als Maßstab dienen, wenn es selbst keinen Wert hat? Macht nichts, denn die Waren haben auch keinen, meint Wullweber. Welchen Sinn macht dann der Satz, dass „Geld das Wertverhältnis der Waren zueinander aus(drückt)“? Was ist ein Wertverhältnis ohne Wert? Lassen wir die Vermögenswerte zunächst beiseite, obwohl sie für den Verfasser ein zentraler Punkt sind, wie wir sehen werden. Nehmen wir der Einfachheit halber das Wertverhältnis von bspw. Butter und Mehl, die angenommen direkt im Verhältnis 1 zu 10 getauscht werden: 1 kg Butter zu 10 kg Mehl. In Geld gerechnet wäre ein Kilogramm Butter dann 10 RE wert und das Kilogramm Mehl 1 RE. Am Verhältnis 10 zu 1 hat sich durch das Hereinbringen des Geldes nichts geändert und beide Male haben wir es mit Wertverhältnissen zu tun. Wieso aber ist Butter 10-mal so viel wert wie Mehl, ganz unabhängig vom Geld?

Gleich zu Anfang des Kapitels erklärt Wullweber, dass „Warenwert gesellschaftlich konstituiert“ ist und beschreibt ihn als Ergebnis eines „gesellschaftlichen Austauschprozesses“ (ebd.). Aber wie der Warenwert gesellschaftlich konstituiert wird, bleibt ein Rätsel. Bei Adam Smith war klar, dass es um die gesellschaftliche Teilung der Arbeit geht. Die so genannte Arbeitswertlehre ist kein Spleen von Smith, sondern reflektiert den Prozess, dass individuell geleistete Arbeit sich auf den Märkten als gesellschaftlich notwendige bewähren muss. In diesem Sinne ist der Markt tatsächlich gesellschaftlicher Aushandlungsprozess. So weit könnte man dem Verfasser zustimmen, dass der Warenwert nicht intrinsisch ist, sondern das soziale Verhältnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ausdrückt. Aber Wullweber will weder akzeptieren, dass der Warenwert dem Produkt unabhängig vom Gebrauchswert anhängt, noch gibt es bei ihm eine wie auch immer geartete Verbindung zur Wertproduktion. Er beendet die Frage nach dem Wert mit dem verschwurbelten Satz: „Der Warenwert sieht daher von den besonderen Qualitäten der Ware ab und drückt Qualität – als soziales Verhältnis – nur im Verhältnis zu anderen Gütern aus. Auch reflektiert das Wertverhältnis der Waren untereinander Bedarf, Präferenzen etc., also soziale Aspekte und keine objektiven Werte. Indem der Warenwert das Verhältnis zwischen Waren ausdrückt und dieses Verhältnis sozial bedingt ist, beinhaltet der Warenwert ein gesellschaftliches Verhältnis“ (S. 67). Und weiter: „Der Preis stellt den gesellschaftlichen Wert einer Sache in Relation zu den Werten der anderen Waren dar“ (S. 68). Woraus sich irgendwie eine Übereinstimmung mit der Grenznutzentheorie ergeben soll: „In diesem Punkt stimme ich mit der Grenznutzentheorie überein, für die der Preis einer Ware dem Warenwert entspricht“ (ebd.). – Irgendwie entsprechen sich Werte und Preise. Dank Grenznutzentheorie wissen wir, dass Gleichgewichtspreise vom Grenznutzen bestimmt sind und Durchschnittspreis gleich Wert, oder so ähnlich. Vermutlich erkennen nur Ökonomen die Logik. Einerlei: Löst sich der Wert in Grenznutzen auf, dann existiert er nicht mehr unabhängig vom Gebrauchswert. Waren sind dann nur noch Produkte und Warenproduktion ist Produktion schlechthin.

Wenn Produktion nur noch Gebrauchswertproduktion ist, dann verschwindet auch die Möglichkeit, dass Wertproduktion an irgendwelche Grenzen kommt. Wir reden nicht mehr von kapitalistischer Produktionsweise, und Wullwebers „Zentralbankkapitalismus“ ist nur noch Geldwirtschaft schlechthin.

Eine spezielle Absurdität kommt bei Wullweber noch dadurch ins Spiel, dass er – wie oben angedeutet – Vermögenswerte bei der Bestimmung des Wertmaßstabs berücksichtigt sehen will und sich von der gängigen VWL in diesem Punkt abzugrenzen versucht. Das ist absurd und lässt sich nur durch seine Apologetik des Kreditsystems erklären. Während die übliche Wirtschaftswissenschaft das Geld aus den Tauschbeziehungen herzuleiten versucht, ist es für ihn „eine Recheneinheit und eine abstrakte Wertform“ (S. 57), und der Tauschprozess gilt ihm als nur ein Faktor von vielen. Im letzten Abschnitt des Kapitels („Geld und Schulden“) wird klar, was damit gemeint ist: „Geld ist also eine verallgemeinerte Kredit-Schuld-Beziehung, die in einer abstrakten Recheneinheit ausgedrückt wird“ (S. 82). Was er hier Kredit-Schuld-Beziehung nennt, hieß weiter oben noch Vermögenswert. Aber wie immer man es nennen mag: Was an der einen Stelle Vermögen ist, stellt sich anderswo als Schulden dar. Saldiert bleibt nichts übrig, was für den Maßstab der Werte zu berücksichtigen wäre.

Richtig ist: Geld ist heute Kreditgeld, basiert auf dem Kreditsystem. Das Kreditsystem wiederum hat seine Grundlage in der Produktionsweise: Warenproduktion und -zirkulation. Aus dem Kreditsystem können nicht irgendwelche Verhältnisse in Produktion und Zirkulation erklärt werden, also weder der Wert und noch weniger Schuldverhältnisse. Wie sich all das auch noch mit irgendeiner Form von Grenznutzentheorie vereinbaren lässt? Es gibt da Vermögen, die in Form von Bitcoins existieren, aber geschaffen, genauer errechnet, wurden nur Bitfolgen, ohne jeglichen Nutzen. Ganz abgesehen davon, dass sogar Ressourcenverbrauch stattfand. Es gibt zwischen so genannten Kryptowährungen und beliebigen anderen betrügerischen Pyramidensystemen keinen Unterschied. Der Wert dieser Vermögen soll jetzt bei der Bestimmung des Wertmaßstabs berücksichtigt werden? Wer stellt für diese Vermögen eigentlich die entgegengesetzte Schuld-Position?

Das Kreditsystem versteht sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur vor dem Hintergrund der Produktionsweise. Aus 5000 Jahren Schulden erklärt sich nicht, wie das moderne Kreditsystem funktioniert, so wenig wie sich heutige Lohnarbeit aus der Sklaverei erklären lässt. Hier zeigt sich das gleiche Problem wie beim Geld: dass seit ein paar tausend Jahren Geld verwendet wird, erklärt nicht seine heutige Rolle im Reproduktionsprozess und jenseits davon.

Das Kapitel zur „Politischen Theorie des Geldes“ erweist sich als Fremdkörper bei Wullwebers Herleitung eines Zentralbankkapitalismus. Was haben die wirren Herleitungen des Geldes und die Ausführungen zum Kredit gebracht, wenn man verstehen will, wieso ein Teil des Kreditgeschäftes von den alten Banken zu den sogenannten Schattenbanken abgewandert ist? Wieso trauen die Banken sich gegenseitig nicht mehr im Kreditgeschäft? Die Zentralbanken agieren als „lender of last resort“ gegenüber dem Kreditsektor und jetzt auch gegenüber den so genannten Schattenbanken, so what? Ist der aufgeblähte Markt für fiktives Kapital von Schattenbanken oder der Zentralbank verursacht? Wenn nicht, was ist sonst die Ursache?

Auch das fünfte Kapitel („Allgemeine Instabilitäten im Finanzsystem“, S. 108 ff.) enthält keine Argumente, die für eine neue Ära des „Zentralbankkapitalismus“ sprechen würden. Wullweber bezieht sich auf Minsky und dessen Theorie einer systemischen Instabilität des Finanzsystems. „Solange Vertrauen vorherrscht, ist Liquidität gegeben. Vertrauen – Marktvertrauen – ist daher ein Kernbestandteil des Finanzsystems“ (S. 111, Herv.i.O.) Der Verfasser folgt Minskys Krisenzyklenmodell: „Dieses Modell legt dar, dass im Kapitalismus eine destabilisierende Tendenz einer expandierenden Kreditvergabe und eines expandierenden Kreditsystems besteht, die weder durch ökonomische Aktivitäten noch durch staatliches Eingreifen vollständig neutralisiert werden kann“ (S. 113).

Minskys „Betrachtung der kapitalistischen Wirtschaft aus der Perspektive ihrer Finanzbeziehungen“ (Minsky 2011, S. 24) ist selbst reichlich unterkomplex. „Die Hypothese der finanziellen Instabilität ist eine ökonomische Theorie, die den Nachdruck auf die spezifisch kapitalistischen Finanzbeziehungen legt. Als solche ist sie eine Alternative zur derzeit etablierten Theorie, in der versucht wird, Erkenntnisse über kapitalistische Volkswirtschaften anhand von Theorien zu gewinnen, die die kapitalistischen Aspekte der Wirtschaft ignorieren“ (ebd., S. 65). Das Spezifische sind dann die Ponzi-Finanzierungen. Aber mit diesen sowie erweiterten Profitgleichungen à la Kalecki kommt man zu keiner Erklärung der zyklischen Krisen im Kapitalismus.

In Minskys Krisenzyklusmodell wird zwar zwischen Warenzirkulation und Kreditsystem unterschieden, die spezielle Form der Reichtumsproduktion aber wird ignoriert. Gibt es eine „systemische Instabilität“ des Finanzsektors, unabhängig von den Warenmärkten? Einerseits basiert der Kreditsektor auf der materiellen Produktion, andererseits kann er durchaus Eigendynamik entwickeln. Jeder gewährte Kredit zeigt die Eigenständigkeit des Kreditsektors, jeder geplatzte Kredit stellt die Verbindung zur realen Ökonomie wieder her, zumindest was Unternehmenskredite angeht.

Ein entwickeltes Finanzsystem unterstellt, gibt es nicht nur unternehmerischen Kredit, sondern auch Konsumentenkredite, Hypotheken und vor allem auch den Staatskredit. Schon deshalb ist klar, dass die Stabilität des Kreditsektors nicht nur vom Unternehmenskredit abhängt. Die Entwicklung der letzten 40 Jahre ist geprägt durch die zunehmende Bedeutung der Finanzwirtschaft, was Wullweber mit anderen „Finanzialisierung“ (S. 120) nennt. So stellt der Verfasser mit dem Stichwort Finanzderivate fest, dass sich von 2009 bis 2020 die finanziellen Vermögenswerte um 500 Prozent vermehrt haben (S. 124). Aber wo ist der Zusammenhang zu seiner These vom Zentralbankkapitalismus? Sein Schlüsselbegriff ist das eingangs zitierte „Marktvertrauen“, was nach seiner Interpretation die Marktwirtschaft nicht mehr aus sich selbst erzeugt. „Marktvertrauen wird weniger aufgrund interner, sondern vielmehr aufgrund externer Faktoren gebildet. (…) Auf den Finanzmärkten ist es daher in hohem Maße abhängig von globalen sozialökonomischen und politischen Faktoren und heutzutage vor allem von der Geldpolitik der Zentralbanken“ (S. 111 f.). Das Marktsystem ist immanent instabil und bedarf der Intervention durch die Zentralbank – so weit einverstanden. Aber das gilt nicht erst seit dem „Zentralbankkapitalismus“.

Zweierlei fällt auf: Mit Minsky bezieht sich Wullweber auf einen Ökonomen, dessen Theorien lange vor dem betrachteten Zeitraum entstanden sind, dem man entweder einen sehr prophetischen Blick attestieren müsste, weil er Schattenbanken und Zentralbankkapitalismus kommen sah. Und: Auch langweilige Zentralbankpolitik und das alte Bankensystem reichen aus, um einen aufgeblähten Finanzsektor entstehen zu lassen.

3.

Der Einbezug der Schattenbanken in die Zentralbankpolitik

Das eigentlich Neue an Wullwebers Buch – neu im Vergleich mit anderen Darstellungen zu Zentralbanken (vgl. bspw. Heine/Herr 2021) – lässt sich so auf den Punkt bringen: Die us-amerikanische Fed hat in der globalen Finanzkrise von 2007/08, nachdem der traditionelle durch die Geschäftsbanken organisierte Geldmarkt aufgrund einer fundamentalen Vertrauenskrise zum Erliegen kam, einen Politikwechsel vollzogen und die Versorgung des (Geld)Marktes mit Liquidität über den Schattenbankensektor gestaltet („historisch beispielloser Schritt“, S. 140). Das Instrument hierfür waren Repo-Operationen (Kapitel 6, insb. S. 143 ff.), mit denen die Schattenbanken Zugriff auf die Bilanz der Zentralbanken erhielten, in die Nähe von Geldschöpfung gelangten und zu deren „Partnern“ wurden. Die anderen Zentralbanken der C6 (EZB, Bank of England, Bank of Japan, Schweizerische Nationalbank, Bank of Canada, bald C7 mit der People’s Bank of China) zogen nach. Das Ganze führte dazu, dass der Kapitalismus heute in nie gekanntem Ausmaß – auf Gedeih und Verderb – von den Zentralbanken abhängig geworden ist.

Die Frage ist, ob das ausreicht, um eine neue Ära auszurufen. Die Frage stellt sich vor dem Hintergrund, dass es nicht wenige andere Erscheinungen des modernen Kapitalismus gibt, die ebenso, vielleicht noch plausibler für eine Verallgemeinerung und begriffliche Zuspitzung taugen. Zugespitzt: Verglichen mit dem säkularen Wachstum des Finanzmarktes, seiner Deregulierung und dem Aufstieg der Schattenbanken, handelt es sich bei der Versorgung des Geldmarktes via Schattenbanken eher um ein geldtechnisches Detail.

Auffällig ist, dass der Verfasser in seinen Ausführungen meist von den Zentralbanken und dem Finanzmarkt spricht, ohne ausreichend herauszuarbeiten, dass es die Fed war, die in die neue Organisation des Geldmarktes eingestiegen ist und die anderen Zentralbanken Nachzügler waren. Auch wird dem Unterschied zwischen den USA und Europa wenig Rechnung getragen. Schattenbanken wurden in den USA erfunden, das europäische Finanzsystem war viel mehr durch den konventionellen Bankensektor geprägt. Einseitig gerät auch die Darstellung der Haltung der Europäer gegenüber dem Schattenbankensektor: „Nicht zuletzt aus diesem Grund (Absatz von Staatspapieren im marktbasierten Kreditsystem, d.Verf.) haben europäische Institutionen, allen voran die europäische Kommission und die EZB, die Ausweitung des europäischen Repo-Marktes nach Vorbild des US-Repo-Marktes forciert“ (S. 160, ähnlich S. 172). Europa als Propagandist des Schattenbankensystems? Nicht einmal eine Erwähnung wert ist dem Verfasser das Grünbuch der Kommission zu den Schattenbanken, das zwar nicht ganz frei von marktliberalem Spirit ist (Schattenbanken als Konkurrenten der konventionellen Banken), aber ausführlich auf die Risiken und Gefahren des Schattenbankensektors hinweist (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52012DC0102&from=PL). Mittlerweile hat man in Europa – immerhin – auf einem Teilsektor des Schattenbankenwesens, dem der Geldmarktfonds, eine Regulation in Gang gesetzt (2018). Auch die in der EU errichtete Bankenunion, in deren Rahmen der traditionelle Bankensektor stärker reguliert wird, erwähnt der Verfasser nur in einer Fußnote. Interessant wäre das Hinblick darauf, dass die anziehende Regulation in diesem Teilsektor des Finanzmarktes die Tendenz zur weiteren Aufblähung des Schattenbankensektors verstärkt, da man Wettbewerbsnachteilen ausgesetzt ist. Die Klagen aus den regulierten Banken, die teils ihr Investmentbanking zurückbauen oder gar schließen, sind jedenfalls unüberhörbar.

Gänzlich unterbelichtet bleibt auch die Frage der Motivation der Zentralbanken für die neue geldpolitische Liaison mit den Schattenbanken. Es war nicht – wie offensichtlich von dem Verfasser unterstellt – die Idee eines marktliberalen Plans der weiteren Deregulation des Finanzsektors durch Privilegierung des Schattenbankensektors („Schattenbankensystem – das marktliberale Leitbild eines freien Marktes“, S. 140), die hier Platz griff, sondern die schlichte „Not“ der Zentralbanken, die ihre herkömmliche geldpolitische Intervention nicht mehr vollenden konnten. Am Übergang von Kredit in Realwirtschaft war der Kanal verstopft, weil sich die Geschäftsbanken nicht mehr nur untereinander nicht mehr trauten, sondern auch das billige Geld nicht mehr an die Investoren loswurden, weil diese ihrerseits kein Vertrauen in die Zukunft hatten und keine Investitionen anschoben. Diese „Not“ der Zentralbanken, insbesondere der EZB, trieb zu den unkonventionellen Maßnahmen der Schwemmung der Finanzmärkte mit Liquidität. An anderer Stelle (S. 189) räumt der Verfasser auch ein, dass der neuen Politik der Zentralbanken keine ausgearbeiteten Notfallpläne unterlagen, sondern es sich um „pragmatische Ad-hoc-Entscheidungen“ handelte.

Der Verfasser stellt seine Überlegungen an einem der entscheidenden Phänomene des modernen Kapitalismus ein. Er hält fest: „Da das Schattenbankensystem inzwischen eine zentrale Rolle für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft spielt, ist der Schluss gerechtfertigt, dass die Zentralbanken durch ihr Handeln zu Garanten für das Überleben des modernen Kapitalismus geworden sind. Wir leben im Zeitalter des Zentralbankkapitalismus“ (S. 223). Das ist zu kurz gedacht. Ob die Versorgung des Finanzmarktes mit Liquidität über Schattenbanken oder Geschäftsbanken organisiert wird, ist gegenüber der säkularen Investitionsschwäche des modernen Kapitalismus eine Frage von sekundärer Bedeutung. Der Unterschied dürfte „nur“ darin bestehen, dass erstens die Gefahr eines Verdrängungswettbewerbs zwischen Geschäftsbanken und Schattenbanken erheblich steigt und dass zweitens die bei den Schattenbanken landende Liquidität mit höherer Wahrscheinlichkeit in fiktive Anlagen geht und dadurch das Kartenhaus um weitere Karten seitwärts und aufwärts erweitert wird.

Lässt man sich für einen Augenblick dann doch einmal auf Kapitalismus ein, erinnert man, dass zu seinen Gesetzen die Forderung nach gleichen Voraussetzungen in der Konkurrenz gehören. Insofern macht es Sinn, einerseits die Schattenbanken in gleicher Weise wie die alten Banken zu regulieren, andererseits bedeutet das aber, dass die Traditionsbanken Privilegien verlieren. Mit den gleichen Konkurrenzbedingungen ändert sich jedoch nichts daran, dass der über alle Maßen aufgeblähte Markt für fiktives Kapital bestehen bleibt. Bei Wullweber bleibt der Zusammenhang zwischen Schattenbanken und Blasenbildung auf den Finanzmärkten unklar. Was ist Ursache, was Wirkung? Entstanden die Schattenbanken, weil sich durch Überakkumulation im Kreditsektor im Verhältnis zur Wertschöpfung eine Blase mit fiktivem Kapital gebildet hatte oder sind die Schattenbanken Ursache der Blasenbildung. Solche Fragen führen aus dem Finanzmarktsektor heraus und weisen auf Tieferliegendes.

Die Redeweise von den Zentralbanken, damit dem Zentralbankkapitalismus, macht sich noch in anderer Hinsicht angreifbar. Der Verfasser hält einerseits fest: „Während die Fed und die EZB beide im Grunde marktliberal sind, also daran glauben, dass der Markt sich selbst stabilisieren kann, hat die Fed in der Krise kein Problem, diese Ideologie – für eine gewisse Zeit – über Bord zu werfen, um effektiv agieren zu können“ (S. 204). Andererseits spricht er nur von einer „Mitschuld“ (S. 20) der Zentralbanken an der Stärkung des Schattenbankensektors und arbeitet heraus, dass die Kontaktaufnahme mit dem Schattenbankensektor aus einer konkreten Konstellation, dem Austrocknen des Geldmarkts alter Prägung und der Verstopfung des Kreditkanals, entsprungen ist, gewissermaßen getrieben wurde. Im Übrigen übersieht der europafeindliche Schlenker gegen die EZB in der zitierten Aussage, dass die EZB keine „richtige“ Zentralbank, schon gar nicht supranationalen Charakters, ist. Die attentistische Politik der EZB während der so genannten Eurokrise hatte wenig mit ihrer „marktliberalen“ Position zu tun, dafür mehr damit, dass sie mit einer hausinternen Opposition, der Bundesbank, rechnen musste und innerhalb der Eurozone mit einer Mitgliedergruppe, Deutschland mit seiner Hanse, die höchst widersprüchlichen und historisch überlebten Vorstellungen von Geldpolitik und makroökonomischer Steuerung anhängt.

4.

Rückkehr des starken Staates?

Im verallgemeinernden Schlusskapitel 9 differenziert der Verfasser zunächst zwischen staatlicher Souveränitätsmacht (starke Regulation), die den Akteuren strikte Vorgaben macht, und staatlicher Sicherheitsmacht (schwache Regulation), die weiter an die Selbstregulation des Marktes glaubt. Das Ergebnis ist eindeutig: Die marktliberale Logik werde nicht gebrochen (S. 234), es handele sich um keine Rückkehr des starken Staates.

Die herkömmlich so postulierte Dichotomie von Staat und Markt, in der des einen mehr des anderen weniger bedeutet, so der Verfasser weiter, sei durch die beiden Krisen der vergangenen zwei Jahrzehnte „ad absurdum“ (S. 236) geführt. Der Zentralbankkapitalismus zeichne sich durch „mehr Staat und mehr Markt“ aus (ebd.). Die Zentralbanken griffen täglich in den von Schattenbanken bestimmten Geldmarkt ein, und die Schattenbanken hätten die Generierung von Liquidität gänzlich übernommen. Die Zukunft dieses neuen Systems sei nicht prognostizierbar. Manche hielten die Regulation der Schattenbanken für machbar, andere glaubten mit Minsky: „Alle Formen von Kapitalismus sind instabil, aber einige sind instabiler als andere“ (1982, zitiert auf S. 238).

Die Bilanzen der Zentralbanken, so der Verfasser weiter, seien mit der unkonventionellen Politik enorm angeschwollen, und es bleibe unklar, ob sie jemals wieder, ohne Verwerfungen auszulösen, zurückgefahren werden könnten. Die Modalitäten des Finanzsystems hätten sich fundamental verändert, der Staat sei zur „Sicherheitsfabrik für das Schattenbankwesen“ (S. 240) geworden. Gleichzeitig sei der Bedarf nach Safe-Assets, Staatspapieren, gestiegen, um die Repo-Transaktionen zu hinterlegen.

Dann kommt der Verfasser – endlich könnte man sagen – auf die Einkommensverteilung (S. 243 ff.), es wird aber fundamentalistisch. Die Schattenbanken seien die „logische marktliberale Antwort auf die Problematik der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich“ (S. 246). Und er schließt mit der Forderung: „Geldpolitik – die Politik der Zentralbanken – sollte .. wieder stärker demokratisiert werden“ (S. 247). Wenn das einmal erreicht ist, lösen sich noch ganz andere Probleme von selbst.

Die zentrale Frage ist, welcher Wert der These von der Zentralbank-Schattenbanken-Repo-Argumentation für die Deutung der Wirklichkeit zukommt – außerhalb des Inneren der Geldpolitik. Der Verfasser stellt an zwei Stellen den Kontakt zum konkreten historischen Verlauf her. Auf Seite 241 argumentiert er, dass die „klassische Leitzinspolitik dysfunktional geworden ist“, weil die Repo-Märkte eine zentrale Rolle im geldpolitischen Transmissionsprozess übernommen hätten. Was aber war die Ursache, bleibt zu fragen. Unabhängig davon kann die Argumentation auch nicht überzeugen. Nicht nur dass der Transmissionsprozess auch unter dem neuen Regime gestört bleibt, die Leitzinspolitik lief ins Leere, weil keine Initialzündung – trotz Nullzinsen – im realen Sektor erzeugt werden konnte. Man erinnert sich an die Metapher von den Pferden, die nicht zur Tränke getragen werden können.

Den anderen Kontakt zur Wirklichkeit stellt er auf Seite 242 her, wenn er die These formuliert, dass das neue Zentralbank-Schattenbanken-Repo-Regime in den Jahren der so genannten Eurokrise durch die Politik der EZB (unter Trichet) zu dem Spread bei den Eurozonen-Staatsanleihen beigetragen habe. Diese These geht an der Realität vollständig vorbei. Es war die politische Bearbeitung der Eurokrise, zentral bestimmt durch die deutsche „Rettungspolitik“, die zu dem Spread geführt hat, nicht das neue Regime. Die deutsche Politik war gefangen in dem Widerspruch, einerseits das marktfundamentale Haftungsprinzip durchzusetzen, andererseits aber dadurch die gesamte Eurozone folgenschweren Gefahren auszusetzen. – Wullwebers Argumentation kann bei diesen Annäherungen an die Wirklichkeit nicht überzeugen.

5.

Europa und die Zukunft

Im Ausblick wendet sich der Verfasser Europa zu, das vor „sehr spezifischen Herausforderungen“ (S. 248) stehe. Er folgt hier der im Schlusskapital aufgestellten Behauptung, dass der europäische Zentralbankkapitalismus „nicht als ein Zurück zum starken Staat oder als neuer Keynesianismus“ (253 f.) verstanden werden könne, sondern die „marktliberale Logik“ weiter fröhliche Urstände feiert. Das Ressentiment gegenüber Europa kommt einem bekannt vor.

Die Darstellung beginnt mit dem Gedanken, dass in der Eurokrise eigentlich Eurobonds für die Krisenlösung erforderlich gewesen wären (S. 248). Da die nordeuropäischen Länder dazu aber nicht bereit waren, hätten Kommission und EZB auf den Repo-Markt „gesetzt“. Das ist schon ein reichlich verkürztes Referat der historischen Abläufe. Richtig ist: Als die deutsche „Rettungspolitik“ im Sommer 2012 in die Sackgasse geraten war, hat – „aus der Not heraus“ – die EZB mit Draghis Whatever-it-takes-Rede die Initiative übernommen und durch die Ankündigung des OMT-Programms den Weg eröffnet, um die Spreizung der Zinsen auf den Staatskredit zu beenden. Wohlgemerkt: „aus der Not heraus“ und bezogen auf den gespreizten Staatskredit in der Eurozone – und nicht niederträchtigen marktliberalen Instinkten folgend, um das Schattenbanksystem auszuweiten. „Gesetzt“ hat man zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht, da man sich in der EZB noch nicht so recht mit den Repo-Geschäften anfreunden konnte.

Völlig schräg ist in diesem Zusammenhang die These des Verfassers, dass das Schattenbanksystem die „Kernproblematik“ (ebd.) des neuen Finanzsystems darstelle. Selbst wenn der Interbankenmarkt nach der globalen Finanzkrise wieder in Takt gekommen wäre, hätte die EZB 2012 zu ihrer OMT-Politik greifen müssen, da – siehe oben – der Übergang vom Kredit in die Produktion verstopft war. – Nebenbei: Die These, dass die deutsche Regierung zu den größten Kritikern der EZB gehörte (S. 251), ist eindeutig unhaltbar. Es war im Gegenteil so, dass die Kanzlerin 2012 der EZB für ihre Politik einen „Persilschein“ ausstellte, wie es in der Presse hieß, und im März 2020 das PEPP-Programm begrüßte. Der Verfasser verwechselt hier – das kann vorkommen – die Regierung mit dem Verfassungsgericht und der Zivilgesellschaft.

Sich Alternativen zum Schwenk der EZB in den Schattenbanksektor zuwendend, formuliert Wullweber schließlich das Folgende: „Anstatt allerdings konsequenterweise mit der marktliberalen Logik zu brechen und mit effektiven Maßnahmen das Finanzsystem und auch das Schattenbankensystem zu regulieren, wird weiterhin an der Idee festgehalten, dass sich die Finanzmarktakteure bzw. die Marktkräfte frei (Herv.i.O.) entfalten können sollen“ (S. 249). Einmal abgesehen davon, dass der Verfasser hier vergessen hat, den revolutionären Akteur zu benennen – nach Lage der Dinge kann die EZB dafür nicht in Frage kommen – und das eigentliche Kernproblem, die Investitionslähmung, nicht gelöst wäre, ist hier das Folgende festzuhalten:

Die politische Bereitschaft für eine solche Regulationsrevolution in Europa einmal unterstellt, scheitert der Vorschlag an den Machtverhältnissen in der internationalen Finanzordnung. Was hätte Europa tun können? Nicht die Liaison mit den Schattenbanken eingehen? Das hätte selbstzerstörerische Effekte gezeitigt, da auf einmal oder nacheinander Kreditketten gerissen wären und die Produktion in den Abgrund gerissen hätte. Die mittel- bis langfristige Lösung wäre eine andere, so impliziert der Verfasser. Den US-Schattenbanken – BlackRock, dem größten Eigentümer im Dax, und Konsorten – die Zulassung für ihre Geschäfte in Europa entziehen oder – anders formuliert – Schritte einzuleiten, die zu einer Regulation der Schattenbanken führen und langfristig die Schattenbanken in den konventionellen Bankensektor zu integrieren. Das aber ist eine Frage der ordnungspolitischen Macht auf globaler Ebene. Diese nicht ganz unwichtige Frage wirft der Verfasser überhaupt nicht auf. Die Ordnungspolitik für den internationalen Kapitalmarkt wird nicht Europa entschieden, sondern, wie sich kürzlich bei der Frage der Mindestbesteuerung für Unternehmen zeigte, auf internationaler Ebene. Das Gremium, in dem solche Fragen erörtert werden, ist der Financial Stability Board (FSB), in dem die G20-Länder und einige weitere internationale Organisationen sitzen. Wer dort das Sagen hat, dürfte leicht zu erraten sein. Die Machtbasis der USA ist der Dollar als Weltgeld, ihre Interessen dürften nicht darin liegen, ihre eigene Erfindung, die Schattenbanken, regulativ an die Kette zu legen. Um überhaupt in die Nähe von Setzungs- und Ordnungsmacht im FSB zu gelangen, ist es für Europa unabdingbar, den Euro in Richtung Weltgeld zu stärken.

Die Schwäche Europas liegt darin, dass es seine eigene Währung nur von innen her und als Handelswährung im eigenen Raum betrachtet. Will man aus geopolitischen Gründen darüber hinauskommen, stößt man schnell an Grenzen. Als man nach dem durch Trump aufgekündigten Atom-Abkommen mit dem Iran versuchte, eine parallele Geld-, Kapital- und Handelszirkulation mit dem Iran aufzuziehen, ist man kläglich gescheitert. Die Sache ist stillschweigend im Sande verlaufen.

Versuche und Vorschläge, den Euro in den Rang einer Weltwährung zu hieven, liegen vor (zuletzt: The euro’s global role in a changing world: a monetary policy perspective (europa.eu) und Vortrag von Charles Michel im Zentrum für Europäische Politische Studien (CEPS) zur internationalen Rolle des Euro – Consilium (europa.eu)). Die zentrale Voraussetzung dafür ist die gemeinsame Kreditaufnahme der Euro-Staaten. Erst dann wird der Euro zu einer globalen Währung und überwindet seinen Status einer regionalen Handelswährung. Erst dann erreicht der Euro als Kreditwährung ein Volumen, eine Tiefe und eine Liquidität, die ihn für internationale Transaktionen – damit sind alle gemeint: Handelsgeschäfte, Kreditgeschäfte, Anlagegeschäfte – interessant machen. Und erst dann kann Europa als Ordnungs- und Setzungsmacht im internationalen Finanzwesen reüssieren.

Damit kommen wir zu der Frage, wer diesen Schritt verhindert. Es ist kein Geheimnis: Es sind die ordnungspolitischen Gartenzwerge aus dem deutschen Auenland, die sich zwar voll des Mutes trauen, eine Fregatte ins Südchinesische Meer zu schicken, in den wirklich wichtigen internationalen Fragen aber Hinterwäldler bleiben. Aber: Die Zeit geht über dieses Hinterwäldlertum hinweg, mit dem Sure- und dem NextGenEU-Programm sind erstmals europäische (Staats)Anleihen in der Welt, von denen mancherorts vermutet wird, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft den „deutschen“ Euro als Benchmark ablösen werden.

Die Unsicherheiten des Verfassers in europapolitischem Fragen zeigen sich auch auf ordnungspolitischem Gebiet, auf dem er viel zu wenig differenziert. Er spricht von der „marktliberalen Fiskalpolitik .. der Schuldenbremse“ (S. 249), wenn er über Europa handelt. Dabei geht verloren, dass der größere Teil – nicht der mächtigere – der Eurozone in dieser Hinsicht andere Vorstellungen hat. Eine marktliberale Sparpolitik gibt es nicht. Abgesehen von Europa (oder auch Japan) zeigt der Blick in die USA, dass die dortige Ausprägung des Neoliberalismus keinerlei Berührungsängste mit der staatlichen Kreditaufnahme hat, wenn sie, wie unter Reagan oder Trump, „guten Zwecken“ dient, z.B. Steuererleichterungen für Unternehmen. Dem Neoliberalismus ist Sparen an sich fremd, er setzt auf Entfesselung der Märkte und Profit. Wenn sich dazu der Staat verschulden muss, ist ihm das nur Recht. Auch ist der Finanzkapitalismus auf Staatspapiere angewiesen, da es die sicheren Anlagen sind, auf denen er seine Pyramiden an fiktivem Kapitalien aufbauen kann.

6.

Romantisierung des Alten

In Krisen- und Umbruchzeiten ist es nichts Ungewöhnliches, die untergegangenen Verhältnisse zurückzusehnen, sie zu verklären und zu sentimentalisieren. Das kann gegenwärtig an dem neo-ordo-liberalen Komplex in Deutschland beobachtet werden. Man sehnt sich zurück in eine Zeit, in der Zentralbanken noch keine unkonventionelle Geldpolitik betrieben haben, manche sehnen sich nach dem alten Maastricht-Europa zurück, andere sehnen sich auch an die Bundesbank zurück. In der Zeitung für Deutschland erfreute sich Wullweber Buch – nicht zufällig – einer wohlwollenden Wahrnehmung. Ein Teil der Linken, sagen wir die Nationallinke, sehnt sich im antiglobalistischen und antieuropäischen Furor auch nach dem Nationalstaat zurück, weil in dieser Kabine – wie die Geschichte ja zeigt – alles gerechter geregelt werden konnte. Und auch der Verfasser des „Zentralbankkapitalismus“ kommt mit den neuen Verhältnissen nicht mehr zurecht, sehnt sich zurück und will die Zeit zurückdrehen.

Marx kam bei seinen Analysen nicht im Traum auf die Idee, ein Zurück zur Manufakturperiode, Keynes bei den seinigen nicht im Traum auf die Idee, ein Zurück zum Goldstandard zu fordern. Beide sahen sich mit Entwicklungen des Kapitalismus konfrontiert, die es zu analysieren und deren Triebkräfte es zu erforschen galt, ohne an ein Zurück zu den alten Zeiten zu denken. Die Romantisierung des Alten nennt man gemeinhin – wie noch einmal? – unhistorisch, konservativ oder reaktionär.

Wullweber will zurück zu dem alten Kapitalismus. Zurück zu dem Kapitalismus mit einer Zentralbank, die nur Zinspolitik betrieben hat. Zurück zu dem Kapitalismus, in dem der Bankensektor seine „eigentliche Funktion“ (S. 251) erfüllt: Kreditvermittler für die produktive Wirtschaft zu sein. Was für eine eigentümliche Vorstellung von Arbeitsteilung im Kapitalismus! Zurück zu dem Kapitalismus, in dem es noch keine Schattenbanken gab, die die Zentralbanken zu ungehöriger Geldpolitik treiben. In dem alten Kapitalismus hatte alles seine Ordnung, war übersichtlich und gut.

Er fordert die Rückkehr zum „boring central banking“ (Krugman 2009). Allerdings – so langweilig waren diese Zeiten gar nicht. Es waren im Europa der Währungskonkurrenz die Zeiten, in denen die Bundesbank durch eine rücksichtslose Zinspolitik ganze Staaten in die Knie zwang (Frankreichs Wirtschaftspolitik 1983), politische Projekte außerordentlichen Gefahren aussetzte (den Maastricht-Vertrag 1992/3) und durch rigide Zinspolitik mögliches Wachstum in Wachstum nahe der Stagnation umkehrte.

Die Crux an dieser Argumentation: Es war genau dieser alte Kapitalismus, der die Phänomene des neuen „Zentralbankkapitalismus“ hervorgebracht hat. Unkonventionell agierende Zentralbanken, Schattenbanken, die den Sektor des fiktiven Kapitals beherrschen, und Unternehmen der Realwirtschaft, die auf die Idee kommen, Banken zu gründen, wie schon in den achtziger Jahren, als man Unternehmen wie Siemens, VW usw. als Banken mit einer nachgelagerten Industrieabteilung bezeichnete. Wenn die Teslas, die Amazons, die Googles usw. auf die Idee kommen, eine Bank zu gründen, dann ist das eben so. Der moderne Kapitalismus zeichnet sich von dieser Seite her offensichtlich dadurch aus, dass Produktion und Kredit zunehmend ineinander verschwimmen.

Die Sehnsucht nach dem alten Kapitalismus und ihn wieder zu errichten ist nichts als ein historischer Zirkelschluss.

Statt den – klassisch formuliert – Triebkräften, die diese Entwicklung hervorgebracht haben, nachzuspüren, hält sich der Verfasser bei „neuen Liquiditätsketten“ u.ä. auf und gibt sich der Sehnsucht nach dem Untergegangenen hin. Bei der Suche danach stößt man indessen auf die drei Hauptkennzeichen des modernen Kapitalismus: 1.) auf die Überakkumulation von Geldkapital, das noch in jeder Ecke, jeder Falte und jeder Ritze nach Anlagemöglichkeiten sucht, Erfindungsreichtum in der Fiktionalisierung von Kapital eingeschlossen, 2.) auf eine Einkommensverteilung (global und national), die erst die empirisch kaum mehr abschätzbaren Volumina an Geldkapital generiert hat und das Spiegelbild, die Unterkonsumtion der nationalen Bevölkerungen und der Entwicklungsländer, und schließlich 3.) auf eine Realwirtschaft, die angesichts der gegebenen Nachfrageverhältnisse und Vertrauenskrisen in eine Investitionsblockade geraten ist, die einer Investitionslähmung gleichkommt. All das hat zu den Erscheinungsformen des „Zentralbankkapitalismus“ geführt. Und, das Wichtigste, an all dem tragen die Zentralbanken die geringste Schuld. Man muss schon auf den Kapitalismus selbst zurückgraben.

Literatur

Bernanke, Ben S., 2017: Monetary policy in a new era, paper presented at the Rethinking Macroeconomic Policy, Washington. (bernanke_rethinking_macro_final.pdf (brookings.edu))

Heine, Michael/Herr, Hansjörg, 2021: The European Central Bank, Newcastle upon Tyne.

Krugman, Paul, 2009: Making Banking Boring. In: The New York Times (9. April). (Opinion | Making Banking Boring – The New York Times (nytimes.com))

Minsky, Hyman P., 2011: Instabilität und Kapitalismus, Zürich.

Werner Polster, Hans Wiederhold