- Eine kurze Geschichte des Begriffs „Dritte Welt“
- Die Dritte Welt als Dritter Stand
- Die gegenseitige Stabilisierung der Ersten und Zweiten Welt im Kalten Krieg (1947-1990)
- Die Krise der Ersten Welt nach dem Untergang der Zweiten Welt (1990-2021). Das Interregnum
- Die Neuformierung der drei Welten
- Schluss
Einleitung
In den Anfangsjahren des Kalten Krieges erschien in dem französischen Wochenmagazin L’Observateur (14. August 1952) ein Artikel des französischen Ethnologen, Demographen und Historikers Alfred Sauvy, der sich in Hinblick auf die internationale politische Begreiflichkeit als bahnbrechend erweisen sollte.[1] Die Begriffe der Ersten und der Zweiten Welt, der Kontrahenten des beginnenden Kalten Krieges, hatten sich gerade eingebürgert, Sauvy fragte, was mit dem Rest der Länder des Planeten sei. Für sie sah er den Begriff der „Dritten Welt“ vor. Das war aber nicht der eigentliche begriffliche Clou. In Anlehnung an den französischen Revolutionstheoretiker Emanuel Joseph Sieyès „identifizierte“ Sauvy die Dritte Welt als Dritten Stand in der Ordnung der Welt. Sauvys Aufsatz enthält aber noch weitaus mehr als Begriffsbildung und Analogieschluss. Er entwickelt die Logik des sich damals entfaltenden Kalten Krieges zwischen den ersten beiden Welten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Dritte Welt.
Es ist ergiebig, sich an Sauvys Artikel zu erinnern, ihn einer neuen Lektüre zu unterziehen, da er in seinem beschreibenden und analytischen Charakter beachtliche Parallelen zu der Gegenwart enthält.[2] Der Vergleich mit der Gegenwart vermag aber auch Auskunft zu geben, was sich in den gut sieben Jahrzehnten seit 1952 verändert hat und was geblieben ist – mit der Dreiteilung der Welt.
Im Folgenden wird zunächst ein knapper Überblick über den Begriff der „Dritten Welt“ und die These von der Dreiteilung der Welt gegeben. Anschließend gehen wir auf Sauvys Analogie von Dritter Welt und Drittem Stand ein. Danach greifen wir seine These von der gegenseitigen Stabilisierung der ersten beiden Welten in der Zeit des Kalten Krieges (1947-1990) auf. Im Anschluss daran erfolgt – ausgehend von Sauvys These, dass das Verschwinden von einer der beiden ersten Welten eine „beispiellose Krise“ erzeugen würde – eine Skizze des Interregnums (1990-2021), in dem sich eine Auflösung der Dreiteilung der Welt im Rahmen der so genannten Globalisierung zu ergeben schien, was aber tatsächlich auf die Herrschaft des Anführers der Ersten Welt, die USA, hinauslief. Im Schlussteil wird – über Sauvys Aufsatz hinausgehend – die These entwickelt, dass wir gegenwärtig unter veränderten Vorzeichen eine Neuauflage der Dreiteilung der Welt, von der noch nicht abzusehen ist, ob sie Blockbildung oder einen erneuten Kalten Krieg sein wird, erleben.
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Eine kurze Geschichte des Begriffs „Dritte Welt“
Der Begriff „Dritte Welt“ bürgerte sich schnell nach Sauvys Artikel ein und diente fortan dazu, eine ordnende Struktur in die in Folge der Dekolonisierung explosionsartige Zunahme von Staaten auf der Welt zu bringen.[3] Alle drei Begriffe, Erste, Zweite und Dritte Welt, an sich am Politischen orientierte Begriffe, wobei Dritte Welt mehr eine Restgröße darstellte, wurden ins Ökonomische und Entwicklungspolitische übersetzt: Die Erste Welt erfuhr die Attribuierung „Industrieländer“ oder auch marktwirtschaftlich oder kapitalistisch geprägte Länder; die Zweite Welt wurde mit den Begriffen „Sozialismus und Planwirtschaft“ verbunden; die Dritte Welt, die Residualgröße, bekam das Etikett „Entwicklungsländer“. Politisch schlossen sich letztere in der „Gruppe der 77“, den sogenannten Blockfreien zusammen. In der entwicklungspolitischen Debatte wurde die Dritte Welt noch weiter ausdifferenziert, die ärmsten Länder, die Least Developed Countries (LDC), wurden zu einer Art Vierten Welt zusammengefasst.
In Ländern der Ersten Welt entstanden spezielle Administrationen und Ministerien für die Entwicklungsländer, Entwicklungsministerien, die später in einer frühen Anwandlung von „woker“ Sprache in „Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit“, eine an Aberwitz kaum zu überbietende Begrifflichkeit, umetikettiert wurden. Als größtes Problem erwies sich die Heterogenität der Ländergruppe der Dritten Welt. Nur zwei Probleme seien genannt: die Zuordnung der lateinamerikanischen Länder und die der südostasiatischen Länder. Sauvy sah insbesondere das zuletzt genannte Problem und setzte sich später – auch vor dem Hintergrund des Aufstiegs der so genannten Tigerstaaten – vom Begriff der „Dritten Welt“ ab.
Der Epochenbruch von 1990 brachte die ganze Begrifflichkeit von der Dreiteilung der Welt schließlich zum Einsturz, da die Zweite Welt im Orkus der Geschichte verschwand. Es blieben nur noch die Erste und die Dritte Welt, für ordnungs- und mathematikliebende Beobachter ein unhaltbarer Zustand. Für die Erste Welt fand man mit dem „Westen“ schnell einen neuen Begriff, der auch den Vorteil hatte, weniger wertend zu sind. Für die „unterentwickelten“ Länder verbreitete sich der Begriff des „Globalen Südens“. Was aber ist mit dem Rest der Welt, z.B. Russland und China? Sie existieren und existierten vor sich hin, entzogen sich einer Zuordnung. Über dieser Unordnung schwebte aber die ökonomische Begrifflichkeit mit der Aufteilung in Industrieländer, Schwellenländer und Entwicklungsländer, die blieb und noch einen gewissen Sinn ergab. Aber auch nur einen gewissen Sinn, denn die Industrieländer z.B. sind längst keine Industrieländer mehr, sie haben sich in „Dienstleistungsländer“ verwandelt. Oder auch: Russland sei, so manche Beobachter, eigentlich kein Schwellenland, es sei ein Rohstoffproduzent, der von einer durchgreifenden Industrialisierung ziemlich weit entfernt sei. In der Zeit des Interregnums (1990-2021) schien es unter den segensreichen Wirkungen der Globalisierung so, als sei die ganze Aufteilung der Welt obsolet und man habe es nur noch mit Weltländern zu tun, die m.o.w. weit vom Wohlstandsparadies der Ersten Welt entfernt seien. Für die Nachrichtensendung genügten die geographischen Begriffe „Westen“, wozu auch Japan gehörte, und, seit einiger Zeit, „Globaler Süden“. Was aber ist mit dem „Osten“ – eine der Fragen, die sich heute stellen.
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Die Dritte Welt als Dritter Stand
Sauvys Artikel endet mit dem Satz: „Schließlich will auch diese Dritte Welt, die wie der Dritte Stand ignoriert, ausgebeutet und verachtet wird, etwas sein.“ Das war 1952 formuliert, und es blieb so, es blieb so bis heute.
„Ignoriert“: Sauvy unterschied zwischen „Hauptsorgen“, der Vorbereitung auf den Krieg, und „Nebensorgen“, dem Hunger der Welt. Das war im alten Kalten Krieg so, und es gilt fast noch mehr für den möglicherweise entstehenden neuen Kalten Krieg, der gerade einsetzt. Großzügig und wie aus dem Nichts finanzieren die Staaten der Ersten Welt ihr Militär, nicht ganz so großzügig fallen die karitativen Aktionen in der Zivilgesellschaft aus, wenn zu Spenden für „Brot für die Welt“ aufgerufen wird. An den Hunger in der Dritten Welt hat man sich in dem Maße gewöhnt, wie der eigene Wohlstand stieg.
„Ausgebeutet“: Die späteren Länder der Dritten Welt wurden von „ihren“ Kolonialherren ausgebeutet – die Geschichte reicht vom Sklavenhandel bis zur Baumwollernte –, sie wurden später, nach der Entkolonisierung, ausgebeutet durch die Ölmagnaten der Welt und die Schürfer nach sonstigen Rohstoffen. Heutzutage beruhigt man die mitfühlende Seele mit „Fair Trade“ und der generösen Rückgabe von Kulturgütern.
„Verachtet“: Verachtet wurde die Dritte Welt v.a. in Gestalt der Kriege, mit denen die Erste Welt – durchaus auch die Zweite Welt in den Stellvertreterkriegen – sie überzog. Die Befreiungskriege gegen die Kolonialmächte standen am Anfang, die Missionskriege der Ersten Welt in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten zuletzt.
„Die Dritte Welt will etwas sein.“ Sie war und ist nur Objekt, von einem eigenen Sein ist sie heute wie vor sieben Jahrzehnten weit weit entfernt. Als Subjekte werden die Staaten nur eingeladen, wenn man etwas von ihnen will, z.B., sich zu Klimazielen zu bekennen oder den Russland-Ukraine-Krieg zu verurteilen.
Der Schlussabsatz in Sauvys Artikel rückt noch einmal die Erste Welt mit ihrer Führungsmacht, den Amerikanern, in den Mittelpunkt. Sauvy bezeichnet die Amerikaner als „Neophyten der Herrschaft und Mystiker des freien Unternehmertums“. Er fragt, ob die Welt Nr. 1 in ihrem „größeren Vorsprung“ und „hellem Licht“ „nicht unempfindlich“ gegenüber „dem wilden Drang zum Leben“ der Dritten Welt sein könnte. Die fragende Haltung, der Konjunktiv und die doppelte Verneinung verraten große Skepsis. Und die sollte sich den folgenden Jahrzehnten bewahrheiten. Die Dritte Welt steht heute da, wo sie vor sieben Jahrzehnten stand.
Mit der Analogie von Dritter Welt und Drittem Stand verband sich bei Sauvy insofern ein unterschwelliger Optimismus, als der Dritte Stand aus den Wirren und Kämpfen nach 1789 als Sieger über das monarchistische System, den Ersten und Zweiten Stand, hervorgegangen war. Zum Zeitpunkt, als Sauvy die Analogie prägte, befand sich die Dritte Welt mitten im Dekolonisierungsprozess, so gesehen passte die Analogie. In zwei großen Wellen, im frühen 19. Jahrhundert der südamerikanische Subkontinent, von den vierziger bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts der afrikanische und der südasiatische Kontinent erreichten die ehemaligen Kolonien ihre staatliche Unabhängigkeit. Geblieben allerdings ist bis in die Gegenwart die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Ersten Welt, den ehemaligen Kolonialherren, die in großen Teilen daraus besteht, dass die Kolonien zu Rohstoff- und Nahrungsmittellieferanten für die Erste Welt degenerierten. Eigenständige industrielle Entwicklungen fanden nur im asiatischen Raum statt.
Im Sinne der Entwicklungspotentiale der Dritten Welt führt Sauvy einen weiteren Aspekt des „Ständekampfes“ auf dem Planeten, den medizinischen Fortschritt, der zu höherer Lebenserwartung, Bevölkerungswachstum und wirtschaftlich am Ende zu höherer Produktivität führt, an. Das Aber folgt indessen auf dem Fuße, wenn es um die Eröffnung einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung geht: „Dennoch ist es verständlich, dass dieses Bevölkerungswachstum mit erheblichen Investitionen einhergehen müsste, um den Behälter an den Inhalt anzupassen.“ Genau das hat aber in den sieben Jahrzehnten seit Sauvys Artikel nicht stattgefunden. Wenn von der Ersten Welt investiert wurde, dann in die Ausbeutung der Rohstoffquellen für eigene Zwecke, nicht in systematische wirtschaftliche Entwicklung. Dabei hätte die es gegeben, z.B. mit dem Desertec-Projekt, das an dummen betriebswirtschaftlichen oder marktwirtschaftlichen Überlegungen gescheitert ist. Heute dämmert es: Desertec hätte ganz Nordafrika eine Perspektive geboten und, wie sich in diesen Tagen zeigt, auch dem europäischen Teil der Ersten Welt.[4]
Bleibt man noch für einen kurzen Moment bei dem Analogieschluss Sauvys zwischen den Weltteilen und der französischen Ständeordnung ließe sich in der Gegenwart fragen, wem der Erste Stand, der Klerus, der die Macht verlieh, und der Zweite Stand, die Aristokratie, die seit der Neuzeit über die politische, militärische und wirtschaftliche Macht verfügte, entspricht. Da die Zweite Welt als solche sich im historischen Nichts aufgelöst hat, bleibt für eine Zuordnung nur noch die Erste Welt. Der „Westen“ allerdings, die Erste Welt, hat nach dem Ende des Kalten Krieges gleich beide Funktionen der alten Ständeordnung übernommen. Als klerikale Macht setzt er seine Predigten in die Reste der Welt ab, mal krakeelen die Wertepriester über Menschenrechte, mal über Freiheit, mal über Demokratie und – sic! – über Marktwirtschaft, die allesamt zum Wertekanon des freien Westens zusammenaddiert werden. Marktwirtschaft als Teil des Wertekanons der freien Welt – wohlgefälliger hätte Hayek es nicht formulieren können. Sie ist nicht mehr Mittel, sondern wird zum Zweck geadelt. Und als politische, militärische und wirtschaftliche Macht kujoniert der Westen die Weltreste, sei es mit militärischen Interventionen, oder traktiert sie mit Freihandelsabkommen, die eigene wirtschaftliche Entwicklungen blockieren, und saugt sie gnadenlos weiter aus, neuerdings über – man glaubt es nicht – Fachkräfteanwerbung, für deren Ausbildung nichts bezahlt wird und die die wirtschaftliche Entwicklung der Dritten Welt hemmen und aufhalten. Auch Ungelernte werden benötigt, als Pflegerinnen in den Altenheimen des Westens.
In einem Appendix zu seinem Artikel spricht Sauvy selbst die verlockende Frage an, in welchem der Weltteile denn der Erste und der Zweite Stand in der französischen Ständeordnung ihre Entsprechung finden könnten. Eher scherzhaft formuliert er, dass die kapitalistische Welt mit dem Adel (reale Macht) und die kommunistische Welt mit dem Klerus (Heilsversprechen) korrespondiere, ohne die Sache weiter zu erläutern.
Ignoranz, Ausbeutung und Verachtung – das gilt heute „nur noch“ für die Restbestandteile der vormals Dritten Welt, Afrika, Vorder- und Mittelasien plus einige im Fernen Osten. Speziell Nordafrika und Vorderasien traf in den beiden ersten Jahrzehnten des neuen Jahrtausends die Verachtung umso vernichtender. Sie wurden mit Kriegen seitens der Ersten Welt und ihres Anführers überzogen und um Jahrzehnte zurückgebombt. Zurückblieben sind Failing States, menschliches Elend und perspektivlose Perspektivlosigkeit. Das restliche Afrika zieht sich die ganze Verachtung der Ersten Welt zu und wird von der Ersten Welt nur noch durch gelegentliche, sinnlose militärische Interventionen und als Migrationsproduzent wahrgenommen. Sauvy fragt: „Hören Sie an der Côte d’Azur nicht die Schreie, die uns vom anderen Ende des Mittelmeers, aus Ägypten oder Tunesien, erreichen? Glauben Sie, dass es sich dabei nur um Palastrevolutionen oder das Knurren einiger ehrgeiziger Menschen handelt, die auf der Suche nach einem Platz sind? Nein, nein, der Druck im menschlichen Kessel steigt ständig.“ Schon 1952 waren Schreie von Nordafrika her zu hören, es sollte noch schlimmer kommen. Die Dekolonisierung brachte einen blutigen Abnabelungsprozess, am blutigsten im Algerienkrieg. Heute sind die Schreie nicht mehr nur an der Küste Nordafrikas zu vernehmen, wenn man will und kann – z.B. wenn Bewohner der Ersten Welt mit ihren Segelyachten auf dem Mare Nostrum cruisen –, hört man sie mitten auf dem Mittelmehr, auch an den europäischen Grenzen.
Derweil bewahren die europäischen Tugendwächter, sich der Schwere ihrer Aufgabe bewusst, die Ruhe; sie kümmern sich um die Menschenrechte in anderen, fernen Teilen der Zweiten Welt und sinnieren darüber, wie die ungebetenen Gäste, für die ein absurder Begriff erfunden wurde – „illegale Migranten“ – aus dem Globalen Süden ferngehalten werden können, sie sinnieren über Asylantragszentren in der Dritten Welt, über Zäune und Mauern, über Niederknüppeln an den Grenzen und dulden – als ultima ratio – die aus dem Militärischen bekannte Methode der Abschreckung: Ersaufen lassen im Mittelmeer. Wie formulierte Sauvy vor über sieben Jahrzehnten? „Der Druck im menschlichen Kessel steigt ständig.“ Und er lieferte gleich die Lösung mit, um dem Druck zu begegnen: „erhebliche Investitionen“.
Die Kapitalbewegungen auf dem Markt der Welt folgen den Profitinteressen und haben in den sieben Jahrzehnten seit Sauvys Artikel einzig dazu geführt, Rohstoffvorkommen, Energiequellen und Agrarprodukte zu erschließen, was keinen wesentlichen Unterschied zu den kolonialen Zeiten bedeutete. Erforderlich wäre massive globale Investitionslenkung in den Globalen Süden, Aufbau von Schulen und Universtäten und Fabriken, Krankenhäusern und Infrastruktur und internen Wirtschaftskreisläufen durch Auflage von „Sondervermögen“ und „Dekrete“ für die Konzerne, einen (großen) Teil ihrer Kapitalanlagen dortselbst zu tätigen und nicht immer und immer wieder in ihren eigenen Zentren. Weltweite Investitionslenkung.
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Die gegenseitige Stabilisierung der Ersten und Zweiten Welt im Kalten Krieg (1947-1990)
Über die Ausführungen zur Dritten Welt hinaus enthält Sauvys Artikel einen Gedanken zu den ersten beiden Welten, der in seiner Reichweite noch anregender und wertvoller ist, gerade auch bezogen auf die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit. Sauvys formuliert: „Der Kapitalismus des Westens und der Kommunismus des Ostens stützen sich gegenseitig. Wenn einer von ihnen verschwände, würde der andere eine beispiellose Krise (Herv.d.Verf.) erleiden.“
Der erste Teil der Aussage hat sich für über vier Jahrzehnte bewahrheitet. Die äußere Gegnerschaft der geopolitischen Systeme im Kalten Krieg führte zu einer Konzentration nach innen. Für beide Seiten, die Erste und Zweite Welt, bedeutete das Aufrüstung im militärischen Bereich mit sich gegenseitig aufschaukelnder Tendenz. Für die Erste Welt hatte die Konzentration auf das Innere im wirtschaftlichen Bereich die Konsequenz, den Kapitalismus zu zügeln und neoliberale, marktradikale Ambitionen zu bremsen. Die Besteuerung war hoch, Staatseigentum weit verbreitet und keynesianische wirtschaftspolitische Interventionen gang und gäbe. Planerisches Denken machte sich breit (Planification in Frankreich, Strukturpolitik in der Bundesrepublik). Im Währungsbereich blieben die Verhältnisse stark reguliert (Bretton-Woods-Ordnung mit festen Wechselkursen), der grenzüberschreitende Kapitalverkehr wurde in engen Bahnen gehalten. Der Ausbau des Sozialstaats wurde sukzessive betrieben, und die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen hatten starke Positionen inne. Im politischen Raum wurden die Ränder, links wie rechts, gezügelt.
Zu der von Sauvy angedeuteten Konvergenz der Ersten und Zweiten Welt ist es bekanntlich nicht gekommen. Die Konvergenztheorie, die insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren einen Aufschwung nahm, besagte, dass die kapitalistischen und die sozialistischen Systeme aufgrund ähnlich gelagerter industriegesellschaftlicher Problemstellungen einander annähern. Die kapitalistischen Systeme seien zunehmend gezwungen, planerische Elemente in ihre Wirtschaftspolitik einzubeziehen, während umgekehrt die sozialistischen Systeme die zentral- planwirtschaftlichen Strukturen in Richtung eines Einbezugs marktwirtschaftlicher Elemente erweitern müssten. Die „Neophyten der Herrschaft und Mystiker des freien Unternehmertums“, um in den Worten Sauvys zu bleiben, trugen dafür Sorge, dass der Systemwettbewerb konserviert und in ihrem Sinne entschieden wurde. Es war aber, wie sich heute zeigt, ein Pyrrhussieg, dazu später.
In der Ersten Welt schien sich sogar ein Interesse breitzumachen, das sich mit der Existenz einer Zweiten Welt abfinden und die neuen Realitäten anerkennen würde. Die Bundesrepublik erkannte nunmehr in der DDR einen eigenen souveränen deutschen Staat an, die in Jalta und Potsdam fixierte Grenze an Oder und Neiße zu Polen wurde akzeptiert, Gebietsansprüche ad acta gelegt. Abkommen mit der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Pakts folgten. Mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) schien eine europäische Friedensordnung gefunden, die eine friedliche Koexistenz zwischen Erster und Zweiter Welt in Europa ermöglichen könnte. Ihren allgemeinen Ausdruck fand die Entspannungspolitik in der vieldeutigen Formel vom „Wandel durch Annäherung“, im Wirtschaftlichen „Wandel durch Handel“. Die Entspannung zwischen Erster und Zweiter Welt hielt aber nur bis zu den frühen achtziger Jahren (NATO-Doppelbeschluss, Stationierung von SS-20-Raketen in Osteuropa). Das Arrangement zwischen Erster und Zweiter Welt erwies sich als ephemere Blüte der siebziger Jahre.
Die dunkle Prognose, die Sauvy den Entwicklungsländern in Aussicht gestellt hatte, schien sich in den sechziger und siebziger Jahren nicht unbedingt zu bewahrheiten. Es kam zwar zu zahlreichen Stellvertreterkriegen und blutigen Kolonialkriegen (Algerien, Rhodesien, Vietnam), die Befreiungskriege verliefen aber im Ergebnis erfolgreich: Ende der siebziger Jahre war die Dekolonisierung praktisch abgeschlossen. Die Industrieländer der Ersten Welt zeigten auch Bereitschaft, auf die Entwicklungsländer zuzugehen. 1970 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution, in der empfohlen wurde, dass in den Haushalten der Industrieländern 0,7 Prozent des BIP für die Entwicklungshilfe vorgesehen werden sollte. Die Empfehlung gilt bis heute. Allerdings wurde sie im folgenden halben Jahrhundert nur von wenigen Ländern erfüllt.[5]
Die Dritte Welt demonstrierte auch durchaus so etwas wie neues Selbstbewusstsein: In den Vereinten Nationen wurde 1974 die Resolution über eine Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO) und eine Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten verabschiedet (Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit, Reparationen der Kolonialmächte, Hoheit über die Bodenschätze, Stabilisierung der Rohstoffpreise, striktere Regeln für transnationale Unternehmen), es kam zu zahlreichen Enteignungen amerikanischer Unternehmen, und die OPEC wurde gegründet, die mit Eingriffen in die Preisbildung auf dem Erdölmarkt in den siebziger Jahren zwei Krisen in der Ersten Welt hervorrief. Die neue Macht war aber nicht von langer Dauer, der deregulierte internationale Kapitalverkehr sollte mit seinen Verlockungen, nicht zuletzt für die Entwicklungsländer, im Folgejahrzehnt die internationalen Kräfteverhältnisse zugunsten der Ersten Welt drehen (Washington Consensus).
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Die Krise der Ersten Welt nach dem Untergang der Zweiten Welt (1990-2021). Das Interregnum
Eine klare Evidenz liegt auch für den zweiten Teil von Sauvys oben zitierter These, dass bei einem Verschwinden des einen Teils der Systemkonkurrenten der andere in eine „beispiellose Krise“ geriete, vor. 1990 war es tatsächlich so weit gekommen, dass der eine Teil aus der Dreiteilung der Welt, die Zweite Welt, „verschwand“. Die ganze an Ordinalzahlen orientierte Aufteilung der Welt schien zusammengefallen, und es brach, so Beobachter, ein Zeitalter der „Unipolaren Welt“, popkulturell zu „One World“ erhöht, an. Wir bezeichnen dieses Zeitalter als Interregnum (1990-2021), da spätestens mit der russischen Intervention in die Ukraine ein abermaliger Epochenbruch – nur und ausschließlich in Deutschland „Zeitenwende“ genannt – eingetreten ist. Mit Interregnum ist dabei die Herrschaft der ehemals Ersten Welt gemeint, deren Grundpfeiler, Demokratie und Marktwirtschaft, sich durchgesetzt zu haben schienen. Vorweggreifend sei schon erwähnt, dass man in dieser Zeit des Interregnums der Sache mit der einen unipolaren Welt nicht so ganz traute, denn es breiteten sich geographische Begriffe wie der „Westen“ und der „Globale Süden“ aus. Der „Osten“ war ein schwarzes Loch.
Die Krise der Wirtschaftspolitik
Das neue Zeitalter wurde wirtschaftspolitisch bereits in den achtziger Jahren eingeläutet, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits durch eine Neuformierung der Wirtschaftspolitik in der Ersten Welt mit dem Umschalten auf neoliberale Politikmodelle. In den angelsächsischen Ländern kamen mit Ronald Reagan und Margret Thatcher wirtschaftspolitische Marktfundamentalisten an die Macht, die mit ihren Konzepten nicht nur den Rest der Ersten Welt, sondern auch die Dritte Welt auf verhängnisvolle Weise prägen sollten. Anderseits – wie es der Zufall wollte – in der Dritten Welt, deren Wirtschaftspolitik in Südamerika nach kurzschlüssigen äußeren Öffnungen in einen Krisenstrudel geriet, den man mit der im Washington Consensus zusammengefassten Politik aus der Ersten Welt begegnen wollte. Wir beginnen mit dem Washington Consensus.
Ausgehend von der lateinamerikanischen Schuldenkrise formulierte man im Kernland der Ersten Welt, den USA, und den von ihnen dominierten internationalen Organisationen (IWF, Weltbank) den so genannten Washington Consensus. In ihm wurde eine marktradikale Rezeptur für die Dritte Welt zunächst formuliert und dann verordnet: Deregulierung, Privatisierung, Freihandel und radikale Freigabe des Kapitalverkehrs sollten endlich den jahrzehntelangen Stillstand in der Dritten Welt beenden, die Krise eindämmen, Wohlstand schaffen, Armut und Hunger beseitigen.
Die in Washington formulierte Handlungsanleitung sollte in den folgenden Jahrzehnten für einen Teil der Dritten Welt fatale Konsequenzen zeitigen. Die Länder, deren wirtschaftspolitische Eliten sich an die Vorgaben hielten oder halten mussten, insbesondere Südamerika und Teile Afrikas versanken durch die externe Öffnung zu in wirtschaftliches Chaos führende existenzielle Krisen. Sie waren zum Spekulationsobjekt für internationale Kapitalströme, die, mal hier mal da, nach Anlagemöglichkeiten suchten, geworden. Die Länder, die das genaue Gegenteil an Wirtschaftspolitik, verschiedene Staaten in Ostasien – z.T. in der asiatischen Schuldenkrise Ende der neunziger Jahre kuriert – erzielten wirtschaftliche Erfolge, allen voran China und Südkorea. Eine der Folgen war die Differenzierung und Neusortierung dessen, was bis zu diesem Zeitpunkt als Dritte Welt bezeichnet wurde. Ein Teil der Staaten vollzog die Entwicklung hin zu Schwellenländern, ein anderer Teil blieb im Armenhaus der Dritten Welt eingemauert.
Die Umschichtungen im Interregnum waren aber noch nicht zu Ende. Angetrieben durch die trunken machende Euphorie über die Implosion der Zweiten Welt („Ende der Geschichte“) nahm die durch Reaganomics, Thatcherismus und Washington Consensus angetriebene Rallye in den neunziger Jahren erst so richtig Fahrt auf. Das Geheimrezept des Westens – Deregulierung, Privatisierung und Freihandel – verallgemeinerte sich in den N-1-Staaten der Ersten Welt und erhielt ein neues Etikett: Globalisierung. Die überschäumende Kapitalakkumulation der Vorperiode gebar allerlei wundersame Geldvermehrungsmaschinen, so genannte Institutionelle Investoren (Investmentfonds, Hedgefonds, Private Equity etc.). Und, nicht zu vergessen, der Finanzsektor wurde bis an die Wurzeln dereguliert, traditionellen Banken ging es an den Kragen, Schattenbanken entstanden, wuchsen über den traditionellen Sektor hinaus und erfanden ihrerseits neue „Produkte“ (z.B. Verbriefungen). All das hier nur unvollständig und skizzenhaft Aufgezählte waren genuine Produkte aus dem Führungsland der Ersten Welt. Die in einer Parallelwelt stattfindenden Debatten um ein Ende der pax americana, der US-Hegemonie, waren Gespensterdebatten. Europa spielte dabei nicht nur keine Rolle, sondern ließ sich bereitwillig auf den neuen Kapitalismus ein, bis hin dazu, dass man die Axt an seine vorgeblichen Erkennungsmarken legte, die Infrastruktur und den Sozialstaat.
Der im Interregnum so richtig entfesselte Kapitalismus produzierte, kaum dass er sich breit gemacht hatte, aber eine ganze Kaskade von Krisen. Am Anfang standen noch zwei „exterritoriale“ Krisen in Asien und Russland. Es begann mit der Asiatischen Schuldenkrise 1997/98. Der neuen Wirtschaftspolitik folgend hatten sich große Teile Südostasiens den internationalen Finanzmärkten geöffnet und wurden Objekt spekulativer Kapitalbewegungen. Die Krise begann in Thailand, griff auf andere Staaten über, u.a. Südkorea und Indonesien, führte zu Währungskrisen, Zusammenbrüchen von Finanzinstitutionen und sozialen Verwerfungen. Der IWF sorgte im Sinne des Washington Consensus für Ordnung.
Es folgte die Russland-Krise von 1998/99. Was der Übergang von der Zweiten Welt in die Erste Welt der entfesselten internationalen Finanzmärkte bedeutete, konnte Russland in der Endphase der Jelzin-Ära erfahren. Das Land beherzigte unter Boris Jelzin die Empfehlungen aus dem Washington-Consensus und vollzog eine Radikalprivatisierung, die eine der übelsten Varianten des Kapitalismus, den Oligarchen-Kapitalismus, hervorbrachte. Die Übernahme des westlichen Vorbilds traf auf ein völlig unvorbereitetes internes Wirtschaftssystem, das durch wilde Spekulationen intern zusammenbrach. Es folgten Börsen- und Währungskrisen – und Abhängigkeiten von IWF-Krediten.
Die in der neuen Wirtschaftspolitik der Ersten Welt beherbergten Krisenpotentiale fraßen sich dann aber doch noch im eigenen Haus ein – und brachten es an den Rand eines Zusammenbruchs. Es begann mit der so genannten Dotcom-Krise im Jahr 2000, als überzogene Spekulationen in IT-Unternehmen zu massiven Börseneinbrüchen in der Ersten Welt führten. Die folgende Wirtschaftskrise nahm aber noch einen glimpflichen Verlauf, so dass man diesseits und jenseits des Atlantiks keinerlei Ansporn hatte, die neoliberale Rezeptur kritisch zu überdenken. Im Gegenteil. Der Finanzkapitalismus US-amerikanischer Art trieb im Mutterland absurde neue Wirtschaftskreisläufe hervor und breitete sich unter großem Beifall auch in Europa aus. Europa begann im Casino mitzuspielen.
Der große Knall innerhalb der Ersten Welt, jetzt „Westen“, kam mit der Globalen Finanzkrise von 2007/08. Die immanente Stabilität der Finanzmärkte erwies sich als billiges Ammenmärchen. Gleich einem Kartenhaus krachten die Finanzmärkte im September 2008 schlagartig in sich zusammen, und es bedurfte massiver Interventionen der Staaten und ihrer Zentralbanken, in den USA und in Europa, um das System am Leben zu erhalten. Die Europäer waren so dumm, mit ihrer auf deutschen Rat erfolgenden Austeritätspolitik gleich noch eine Sekundärkrise herbeizuführen, die aber durch die Zentralbank gezügelt werden konnte. Die mühselig anlaufende Konjunktur endete dann am Ende des zweiten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend, überlagert durch die Pandemiekrise (2020-22), die erstmals vor Augen führte, wie verletzlich die einst gefeierte Globalisierung sein konnte. Sie wurde plötzlich hinterfragt, was aber nur ein Hinterfragen an der Oberfläche war, tatsächlich verbargen sich dahinter gewaltige tektonische Verschiebungen innerhalb der drei Welten.
Die Marktwirtschaft– mittlerweile upgegradet zum heiligen Zweck –, erwies sich in den drei großen Krisen der jüngeren Vergangenheit als höchst instabile Veranstaltung und bedurfte massiver staatswirtschaftlicher Stützungsmaßnahmen, um halbwegs über die Runden zu kommen, was ihre „Mystiker“ (Sauvy) freilich nicht davon abhält, die Gesänge von der Überlegenheit der Marktwirtschaft weiter anzustimmen, nicht mehr als Ganze, sondern mehr mit ihrem Instrumentarium.
Und die Dritte Welt, für die jetzt kein Name mehr da war? China und einige ostasiatische Staaten waren während der Globalisierung zu ernsthaften wirtschaftlichen Konkurrenten – ein Kollateralschaden der Globalisierung – herangewachsen. Der noch verbliebene Rest wurde zusätzlich zu seinem ohnehin bestehenden wirtschaftlichen und menschlichen Elend mit einer Serie von Erziehungs- und Missionskriegen überzogen. Es schien, als wolle der Westen sein marktwirtschaftliches Scheitern wenigsten durch die edle kriegerische Mission der Demokratisierung in der Dritten Welt retten.
Die Dritte Welt steckte v.a. in einer grundlegend veränderten Konstellation im Weltgefüge, was auf eine enorme Schwächung hinauslief. Um sie musste nicht mehr geworben werden wie im Kalten Krieg, als Erste und Zweite Welt mit ihren jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsvorstellungen um ihre Sympathien buhlen mussten. Jetzt, im Interregnum, galt nur noch der Washington Consensus mit den marktwirtschaftlichen Vorstellungen von IWF und Weltbank. Entwicklungsprojekte mussten sich betriebswirtschaftlich „lohnen“.
Die Demokratie-Krise
Auch der zweite Markenkern des Westens, die Demokratie, war während des Interregnums in tiefe Erschütterungen und Krisenprozesse geraten. Die sozialistischen Staaten der Zweiten Welt, die vielleicht zu Sauvys Zeiten und in den fünfziger und sechziger Jahren mit ihren Versprechungen eine potentielle Alternative darstellen konnten, erwiesen sich als reformunfähig und ordneten denkbare innere Reformen geopolitischen Erwägungen des Machterhalts rigoros, teils auch brutal unter. Am Ende des Kalten Krieges war das äußere Widerlager für die westliche Demokratie vollständig verschwunden und innere widerstreitende Interessen und Kräfte konnten sich frei entfalten.
Es begann damit, dass in den neunziger Jahren das jahrzehntealte Parteiensystem in heftige Unwetter geriet. In den USA setzte der Ideologisierungs- und Radikalisierungsprozess bei den Republikanern ein (Newt Gingrich, Neokonservativismus, später die Tea-Party-Bewegung). In Europa erodierten staatstragende Parteien, über Jahrzehnte die Regierungen stellend, auf der Rechten und der Linken in atemberaubendem Tempo. Die bei Wahlen eingefahrenen Ergebnisse schmälerten sich, v.a. konservative Parteien wurden bedeutungslos oder lösten sich ganz auf und wurden durch Bewegungen ersetzt. Die kommunistischen Parteien verschwanden noch schneller von der Bildfläche. Das Ende des sozialdemokratischen Zeitalter wurde ausgerufen. Rechtsradikale und nationalistische Bewegungen und Parteien wurden in die Parlamente gespült. Die Parteiensysteme diversifizierten sich. – All diese Phänomen ließen sich darauf zurückführen, dass der Antikommunismus mit dem Untergang der Zweiten Welt als äußere Sinnstiftung und Referenzgröße verloren gegangen war und innere Findungs- und Suchprozesse einsetzten.
Vorläufige Höhepunkte wurden in den beiden angelsächsischen Mutterländern der Demokratie und des Westens Mitte der Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts erreicht, als die neue Paria die Zinnen der Macht erklomm. In den USA kam Donald Trump 2016 an die Macht, getragen von einem „Bündnis“ zwischen ultraradikalen Ideologen (Tea Party) und Abgehängten aus dem Rust Belt, dem Kollateralschaden der in der Globalisierung. Die für USA-Mystiker ungeheuerliche Frage kam auf, ob es überhaupt möglich sein kann, dass in den USA ein Faschismus entstehen kann.[6] In Großbritannien kam es in einem demokratischen Prozess zu Aufwallungen gegen die EU, was schließlich zum Brexit und in der Folge zu abenteuerlichen Schlingerungen im politischen System führte.
In der Werteunion Europa blühten so gut wie in jedem Land rechte Strömungen und Parteien auf. Ganz offiziell sitzen mittlerweile Faschisten in Regierungen oder unterstützen die etwas harmloseren Brüder und Schwestern im Geiste dortselbst. Und die nächsten großen Länder, Frankreich und Spanien, sind nur noch einen Schritt weit davon entfernt. Es scheint bloß noch eine Frage der Zeit, bis die Werteunion Europa mehrheitlich von rechtsextremen, halbfaschistischen, faschistoiden Staaten getragen wird. Je lauter die Rechtsradikalisierung Europas voranschritt, desto schriller ertönten die Werteorientierung der EU.
Schließlich Osteuropa. Die Satelliten der kollabierten Sowjetunion hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich unter die schützenden Dächer von NATO und EU zu begeben. Als halbfaschistische, korrupte und alimentierte Staaten fristen sie dort ihr Dasein, werden aber als Scharfmacher immer lauter, selbstbewusster – und unangenehmer. Willfährig und gehorsamsvorauseilend haben sie den Lügen- und Angriffskrieg der USA auf den Irak mitgemacht, ohne je – wie ihr Anführer, der US-Präsident George W. Bush und sein Pudel Tony Blair – zur Verantwortung vor einem internationalen Strafgerichtshof gezogen worden zu sein; in Belgien wurde eine Klage gegen Bush und Blair wegen Kriegsverbrechen, bezogen auf den Afghanistan- und Irakkrieg eingereicht, wegen diplomatischer Verstimmungen mit den USA aber in die Heimatländer weitergereicht. Der halbe Sichelmond der muslimischen Welt, ein Bestandteil der alten und neuen Dritten Welt, wurde in Elend und Chaos gestürzt. Kaum beachtet wird, dass in den osteuropäischen Staaten die gesamte „westliche“ Geschichtsschreibung in Frage gestellt wird. Roosevelt kann nicht verziehen werden, dass er sich Ende der dreißiger Jahre für den falschen Gegner im Zweiten Weltkrieg entschieden hatte,[7] und auch nicht Churchill, der 1946 in seiner Züricher Europa-Rede noch die neue Weltordnung gemeinsam mit der Sowjetunion aufbauen wollte.
Der latente osteuropäische Rassismus, nichts anderes ist die Weigerung, Flüchtlinge aus der alten und neuen Dritten Welt aufzunehmen, spritzt nicht parteipolitisch auf wie in Westeuropa, er ist struktureller Natur. Die Werteeuropäer im alten westlichen Europa händeln ihn mit großer Nachsicht und Verständnis. Gegen die rechtsstaatlichen Systemprobleme in Polen und Ungarn geht man vehement vor, verhängt Sanktionen und hält finanzielle Transfers zurück, was grundsätzlich auch in der Flüchtlingsfrage möglich gewesen wäre. In dieser Frage sitzt den Werteeuropäern aber die eigene Bevölkerung im Nacken, was zu verstehenden Reaktionen in der Migrations- und Asylrechtsfrage führt. Rechtsstaatsprobleme sind eben etwas anderes als humanitäre Probleme, je abstrakter die Probleme, desto entschiedener das Agieren. Umgekehrt umgekehrt. Für die Zukunft darf man schon gespannt der Zeit entgegensehen, wenn die dereinst unter dem NATO- und EU-Dach konsolidierte Ukraine, die weiß, warum sie Stefan Bandera zum Nationalhelden stilisiert hat – unzählige Straßen sind nach ihm benannt, unzählige Denkmäler von ihm kann man besichtigen und auf Briefen in der Ukraine prangt sein Konterfei –, die ganz dunklen und weniger dunklen Gäste aus der Dritten Welt begrüßen wird. – Der Westen hatte sich vor dem Zweiten Weltkrieg eben den falschen Gegner auserwählt.
Um sich einen Reim auf seine Demokratieprobleme zu machen, erfanden die Ideologen des Westens einen Begriff und ein Konzept. Mit dem Begriff „Populismus“ wurde ein Teil der am demokratischen Prozess Teilnehmenden für unmündig und nicht reif für die Demokratie erklärt, weil einfachen Problemlösungen anhängend. Mit dem Konzept verhielt es sich etwas komplizierter. Man schwankte zwischen Ausgrenzung – Demokratie nur für Demokraten, das altgriechische Konzept – und Partizipation. Mittlerweile scheint sich die Richtung auf Partizipation einzupendeln. Das Aufkommen des Populismus, der eigentlich nur eine euphemistische Umschreibung für eine Art gesäuberten Faschismus darstellt, führte zu allerlei grotesken Phänomen. Da, wo der Populismus demokratisch an die Macht gelangt war (USA, Großbritannien), war man im Ausland verstört und rieb sich die Augen. Im Werteeuropa war besonders Groteskes zu beobachten. Man rieb sich nicht mehr die Augen, siehe Italien. Dafür schickte man seine Diplomaten in alle möglichen Teile der neuen Zweiten und Dritten Welt und ließ dort Menschenrechts- und Demokratieprobleme anprangern, während man zu Hause, im Werteeuropa, nicht einmal in der Lage war, die eigenen populistischen Regierungen in die Schranken zu verweisen.
Die vormals Dritte Welt, jetzt Globaler Süden, war nicht so ganz schuldlos an den Kalamitäten des Westens mit der Demokratie. Der „Druck im Kessel“ war gestiegen, das sorgfältig austarierte Gleichgewicht zwischen „Explosion“ und „Unruhe“ (Sauvy) geriet außer Kontrolle, und einige, die ihre Hoffnung auf „etwas zu sein“ aufgegeben hatten und nur noch etwas haben wollten, klopften an den Türen der Ersten Welt, in den USA, in Europa und baten um Einlass. Der Westen, der sie längst vergessen hatte, nahm die Dritte Welt jetzt als lästigen Produzenten von Migration wahr. Dass er selbst es war, der sie mit Kriegen überzogen hatte und der sinnvolle Investitionen in den Jahrzehnten (Sauvy) zuvor sträflich vernachlässigte, kam seinen Akteuren nicht in den Sinn.
So oder so ähnlich präsentierten sich die unipolare Welt oder One World mit ihren Markenkernen Marktwirtschaft und Demokratie am Ende des Interregnums. Dann kam die russische Intervention in die Ukraine, 2022 – und alles wurde noch komplizierter. Die Widersprüche und Verzweiflungen sind gar nicht mehr überschaubar. Nur drei davon: Mit Gänsehaut blicken die Beobachter des Westens in die USA, das Führungsland des Westens, und fragen sich, was passiert, wenn erneut ein Populist aus der Demokratie siegreich hervorgeht. Mit Hoffnungsfreude, aber auch mit Angst blickt man nach Asien und erkennt dort China, die Hoffnungsfreude bezieht sich auf das Reich der Mitte, eine Diktatur, als Zuchtmeister Russlands und Vermittler in einem Friedensprozess für den Ukraine-Konflikt der Zukunft. Die Angst, das Sträuben der Nackenhaare, kommt auf, wenn man sich China als den USA ebenbürtige Großmacht imaginiert.
Für die neue Dritte Welt entwirft das Werteeuropa blaugestrichene Lager in Nordafrika und Vorderasien, in denen den Verzweifelten Fibeln über Werte überreicht, Rechtsstaatlichkeit („legale Migration“) gelehrt und Trost in ihren Herkunftsländern oder sonst wo vermittelt wird. Fast könnte man auf den verwegenen Gedanken kommen, dass die russische „Spezialoperation“ gerade zur rechten Zeit kam, verwischen sich doch alle Konturen und Konflikte in der Sackgasse, wenn die Nebelkerzen einmal entbrannt sind.
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Die Neuformierung der drei Welten
Nicht erst seit Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges registrieren die Beobachter des Weltgeschehens, dass in ihrem Beobachtungsgegenstand zahlreiche Bewegungen in Gang gekommen sind, die nicht ohne weiteres zu entschlüsseln sind. Eine neue Unübersichtlichkeit hat sich breitgemacht, die Welt lässt sich politisch und ökonomisch nicht mehr so einfach kartographieren. Im Spiegel (Nr. 21, 2023) wird von einem „globalen Dschungel“ gesprochen, was die Sache allerdings unnötig verdunkelt. Klar scheint, dass nach dem krisenhaften Ende des Interregnums eine neue Weltordnung im Begriff ist zu entstehen, welche Gestalt diese neue Weltordnung annehmen wird, versteckt sich einstweilen noch im Nebel des Futur. Der vorliegende Text vertritt die These, dass auch in dieser Hinsicht Sauvys Artikel von 1952 für eine Orientierung hilfreich sein kann. Konkret lautet die These, dass es, ähnlich wie zu Beginn der fünfziger Jahre, eine neue Dreiteilung der Welt in Erste, Zweite und Dritte Welt vorgeht, die in der Zukunft das globale Entwicklungsgeschehen bestimmen wird.
Die Einteilung der Welt ist zunächst nicht mehr als eine Art Taxonomie oder Klassifikation von Ländern nach ihrem wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstand, so wie es etwa die geographische Einteilung in Erdteile gibt. Sieben Jahrzehnte nach Sauvys Artikel gibt es weiterhin Industrieländer, Schwellenländer, Entwicklungsländer, auch Hunger- und Elendsländer, die nicht einmal den Ansatz von Entwicklung am Horizont haben. Die alte Dreiteilung der Welt wurde überlagert von dem politisch-ideologischen Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus, was für die neue Dreiteilung so nicht mehr zutrifft, wir kommen darauf zurück. Aus der starren Taxonomie bzw. Klassifikation ergeben sich aber Dynamiken, im Wesentlichen zwei, einerseits der Kampf der Systeme 1 und 2 untereinander und andererseits das Konkurrieren und Ringen um die Nr. 3, die als einzige Objekt in dem globalen Spiel ist, ganz wie zu Sauvys Zeiten.
Die Teilung der Welt stellt keinen analytischen Rahmen dar, sie bietet aber Möglichkeiten für Orientierung. Ihre einzelnen Teile sind alles andere als präzise definiert, weder ökonomisch noch politisch. Welche Länder zur Ersten Welt gehören macht „definitorisch“ noch keine größeren Schwierigkeiten, Marktwirtschaft und Demokratie werden ihnen gemeinhin als Merkmale zugeschrieben. Die Größe „Industrieland“ ist wie oben bereits angedeutet, eher verwirrend. Bei der Zweiten Welt wird die Sache schwieriger. Es gibt zahlreiche Eingrenzungs- und Zuordnungsversuche für den Begriff „Schwellenländer“, die zahlenmäßig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dritte Welt bleibt eher eine Residualgröße.
Das Verhältnis untereinander ist nicht per se auf Widerstreit oder Gegnerschaft angelegt. Es leiten sich aus der Begrifflichkeit auch keine „natürlichen“ Bündnissysteme ab. Fakt aber ist, dass die Erste Welt relativ hochgradig organisiert und vernetzt ist (NATO, EU, G-7), während die Zweite und Dritte Welt noch über wenige verdichtete Organisationsformen verfügen bzw. nur solche, die im globalen Geschehen lediglich eine geringe Rolle spielen (Mercosur, OAU, ASEAN). Solange aber kapitalistischer oder marktwirtschaftlicher Wettbewerb auf dem Weltmarkt besteht, gibt es eine Tendenz zum Widerstreit. Über ein Forum der Kooperation verfügen die drei Welten dann doch, die Vereinten Nationen, die aber weder mit (supranationaler) Macht ausgestattet sind, noch eine Gemeinschaft der Gleichen sind. Die vorausgesetzte Teilung der Welt verhindert das.
Die neue Teilung der Welt nach dem Interregnum unterscheidet sich von jener zu Sauvys Zeiten 1.) dadurch, dass sich die ideologische Komponente verschoben hat, nicht mehr Kapitalismus und Sozialismus stehen einander gegenüber, sondern Demokratie und Diktatur/Autoritarismus, 2.) dadurch, dass einige Länder bzw. Regionen Aufstiegsprozesse vollzogen haben und 3.) dadurch, dass die alte Dritte Welt sich einerseits um einige asiatische und ostasiatische Länder verkleinert hat und andererseits Länder hervorgebracht hat, die als Vierte Welt bezeichnet werden können.
Die neue Erste Welt
Die Erste Welt, heute also der „Westen“ genannt, konnte – sofern sie sich noch einen Rest von kritischem Geist bewahrt hat – mit gewissen Erkenntnissen aus dem Interregnum hervorgegangen sein. Die beiden Haupterkenntnisse: Demokratie und Marktwirtschaft sind in sich höchst instabile, sehr verletzliche Systeme, vulnerabel eben. Der Stabilitätsanker oder das Widerlager der Systemkonkurrenz ist ihm, dem Westen, in der Zeit des Interregnums verloren gegangen, so dass sich Türen und Tore für allerlei Experimente öffneten. Das betrifft vor allem anderen die von den USA ausgehende Weiterentwicklung des Kapitalismus zum Finanzkapitalismus und zum Monopolkapitalismus der High-Tech-Konzerne. Ebenso wenig wie die drei Teile der Welt eine Weltgemeinschaft darstellen, stellt der „Westen“ eine Gemeinschaft dar, es handelt sich um eine hierarchisch strukturierte Gruppe von Staaten, wenngleich mit flachen Hierarchieebenen.
Die USA
Der Kalte Krieg des vergangenen Jahrhunderts wurde durch die USA mit dem Übergang von Roosevelt zu Harry Truman, der einen radikalen Kurswechsel in der Außenpolitik vornahm, initiiert. Aus der Perspektive der heutigen Osteuropäer wurde damit Roosevelts Fehler vom Ende der dreißiger Jahre korrigiert. Ähnlich ist es heute. Die USA kommen selbst in ihren schlimmsten Alpträumen – Isolationismus hin oder her – nicht auf die Idee, ihre Hegemonialrolle in der Ersten Welt und der ganzen Welt aufzugeben. Der vermeintliche „Sieg“ im Kalten Krieg hat sie darin nur noch bestärkt. Gegenwärtig geht es den USA machtpolitisch primär darum, 1.) den Nachfolgestaat der SU, Russland, definitiv auf den Status einer Regionalmacht (Barack Obama) zurückzuzwingen, der Krieg in der Ukraine ist dazu Mittel zum Zweck, und 2.) darum, den neuen weltpolitischen Rivalen, China, einzudämmen, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch. Systemgegnerschaft bzw. systemischer Rivale lauten die Begriffe dafür. Noch fehlt der Mut dazu, es offensiver zu formulieren.
Wenn oben angedeutet wurde, dass die Erste Welt keine Gemeinschaft zwischen Gleichen darstellt, bedeutet das konkret: Sie ist eine Staatengruppe mit einer Hegemonialmacht an der Spitze und Vasallen und Hintersassen in den nachgeordneten Positionen. Militärisch ist das seit eh und je offensichtlich (NATO), wirtschaftspolitisch verdeckt durch den Systemeinfluss des amerikanischen Kapitalismus (Finanzkapital und Technologiekapital).
Im Jahr 2015 skizzierte der ehemalige US-Botschafter in Indien und Diplomat Robert Blackwill, einer der wichtigen außenpolitischen Experten der USA, die „Grand Strategy“ der USA mit außergewöhnlicher Klarheit. Er schrieb: „Seit ihrer Gründung haben die Vereinigten Staaten konsequent eine große Strategie verfolgt, die sich auf den Erwerb und die Aufrechterhaltung der Vormachtstellung gegenüber verschiedenen Konkurrenten konzentrierte, zunächst auf dem nordamerikanischen Kontinent, dann in der westlichen Hemisphäre und schließlich weltweit“. Blackwill argumentiert, dass „die Erhaltung der Vorrangstellung der USA im globalen System das zentrale Ziel der USA im einundzwanzigsten Jahrhundert bleiben sollte“.[8]
Das geopolitische Macht- und Expansionsstreben der USA zeigte sich in der Zeit des Interregnums an der NATO-Osterweiterung. Nachdem man 1990 für einen Moment vergesslich war und die Bündnisfrage Deutschlands Verhandlungsgegenstand bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen wurde, eine Erweiterung des Militärbündnisses faktisch ausgeschlossen wurde,[9] in der Öffentlichkeit sogar über die Frage einer Mitgliedschaft Russlands in der NATO befunden wurde, fand man in der Zeit der Clinton-Regierung schnell zurück zur eigentlichen Mission. Nach und nach wurde das Militärbündnis des Westens bis an die Grenzen Russlands erweitert. Später zettelte man ohne jede Hemmung in einem großen Teil der Dritten Welt Missionskriege an – mit verheerenden Ergebnissen.
Derweil zerriss es die „exzeptionelle Nation“ im Innern. Die Gegensätze von Arm und Reich erreichten kaum vorstellbare Ausmaße. Die beiden politischen Lager gruben sich in Schützengräben ein, die das demokratische System in bis dato unbekannte Gefahren brachte. Im Schatten davon konnte sich der neue Kapitalismus frei entfalten: Seine beiden Hauptvertreter, das Finanzkapital und die High-Tech-Monopole stiegen im Innern auf, erlangten Machtpositionen, die sie in die Nähe der Regierungsgeschäfte brachten, mitunter übernahmen sie sie auch. Im Ausland werden sie mittlerweile auf Regierungsebene als Gesprächs- und Verhandlungspartner empfangen, mit denen auf Augenhöhe über Zukünftiges debattiert wird. Es lässt sich erahnen, was für ein Typ von Kapitalismus hier hervorwächst.
Mit dem Antritt der Trump-Regierung geriet der „Westen“, was im Kern die NATO ist, sogar in systembedrohliche Regionen. Trump erklärte die Nato für „obsolet“. Der Übergang zur Biden-Regierung und der Russland-Ukraine-Krieg schweißte das Bündnis noch einmal zusammen. Aber welchem Führer hat sich der Rest des Westens, also Europa, ergeben? Der Führer des Westens, die USA, präsentierte sich am Ende des Interregnums als ein Staat, der nicht einmal die Beitrittskriterien für eine Mitgliedschaft in der Europäische Union erfüllen würde (Klaus von Dohnanyi in seinem letzten Buch), nicht von seinem Rechtssystem her, seinem Wirtschaftssystem her und nicht seinem Politischen System her und schon gar nicht seinem Sozialsystem her. Gleichwohl ordnet man sich in Europa dem US-amerikanischen Exzeptionalismus bedenkenlos unter.[10]
Europa
Die EU ist von „strategischer Autonomie“ weiter entfernt denn je. Der Anspruch, eine „geopolitische Kommission“ (Ursula von der Leyen bei ihrem Amtsantritt 2019) anführen zu wollen, meint bestenfalls Geopolitik im Schlepptau der USA. Im Kreis der Staaten der Ersten Welt hat sich die EU spätestens oder erneut, je nach Perspektive, in die Position des Vasallen oder Hintersassen begeben, auch das je nach Perspektive, eingereiht. Um den Jahreswechsel 2021/22 haben es Emmanuel Macron und Olaf Scholz, anders als Nicolas Sarkozy und Angela Merkel 2008, versäumt, die hochgejazzte Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eindeutig und nicht in windelweichen saloppen Statements zu beantworten.[11] Stattdessen hat man die dümmlichste aller Parolen aus dem Handbuch der Geopolitik – jedes Land definiert seine eigene Bündniszugehörigkeit – nachgeplappert. „Einflusssphären“ gehörten nicht mehr in die moderne internationale Welt, so als definierte nicht der Herr der westlichen Welt seine ganze Außenpolitik seit eh und je über Einflusssphären, vom Pazifik über Europa bis in den Nahen, Mittleren und Fernen Osten, mit Schwerpunkt seit einiger Zeit im Pazifik. Allein um die Dritte Welt in Afrika bemüht man sich nicht – zu unwichtig.
Dass der „europäische Pfeiler in der NATO“ am Vorabend des Russland-Ukraine-Krieges überrannt wurde, liegt nicht nur daran, dass das „atlantische“ Großbritannien nicht mehr Teil der EU ist, es liegt auch daran, dass die neue Verwandtschaft der EU, die man sich in der Zeit des Interregnums zugelegt hatte, die Hintersassen der USA aus Osteuropa, mächtig gewühlt haben und als Vorbild („neues Europa“, eher vom Mars kommend, so Donald Rumsfeld zu Zeiten des beginnenden Irak-Kriegs) dienten. Die gute Mutter EU lässt sich von diesen zwielichtigen Staaten ein ums andere Mal an der Nase herumführen. Zur Wiederholung: Anlässlich des Irak-Kriegs hatten sie es nicht eilig genug, ihre Hintersassenschaft unter Beweis zu stellen und sich der Lügen-Kriegs-Propaganda der USA anzuschließen. Nur die geographischen Gegebenheiten hindern sie am Beitritt zu den Vereinigten Staaten von Amerika.
Die gesamte osteuropäische Staatenwelt, einschließlich der jugoslawischen Nachfolge-Staaten, besteht aus einer Ansammlung aus korrupten, rechtsextremen bis halb-faschistischen, jedenfalls nationalistischen Gebilden, die am Subventionstropf des (west)europäischen Umverteilungssystems hängen und aus der europäischen Zentrale mit kaum verständlicher Nachsicht behandelt werden.
Die neue Zweite Welt
Die neue Zweite Weltist in politischer Hinsicht erheblich heterogener als die alte Zweite Welt. Das Band der alten Zweiten Welt war die sozialistische Ideologie bzw. das Machterhaltungsinteresse der SU. Für die neue Zweite Welt existiert ein solches Band nicht mehr, und es ist auch eine analoge Führungsmacht nicht absehbar. Nimmt man die führenden Staaten der neuen Zweiten Welt, die im BRICS-Format zusammengeschlossenen Staaten, finden sich, in der Buchstabenreihenfolge des Akronyms, eine mehr oder weniger brüchige Demokratie (Brasilien), ein oligarchen-kapitalistisches autoritäres System (Russland), eine schein-demokratische Demokratie (Indien), eine kommunistische Diktatur (China) und eine vergangenheits-geprägte Demokratie (Südafrika). Nebenbei: drei Atommächte finden sich darunter, alle Staaten mit m.o.w. regulierten Marktwirtschaften. Südafrika und Brasilien stellen die jeweiligen Brückenköpfe zu ihren Kontinenten dar. Was die BRICS-Staaten eint, ist ihr Charakter als Schwellenländer, was der Sache nach auch schon für die alte Zweite Welt galt. In der Retrospektive erscheint es daher fast so, als sei die ideologische Überformung des Konflikts im Kalten Krieg zwischen Kapitalismus/Demokratie und Sozialismus eher Camouflage gewesen für einen eigentlich bestimmenden wirtschaftlichen Konflikt um Ressourcen, Vorteile im Staatenwettbewerb und Entwicklungspotentiale, auch um politische Mitsprache. Die Zukunft jedenfalls wird weniger von ideologisch-politischen Gegensätzen geprägt sein, obwohl die Anführer und Ideologen der Ersten Welt die Sache darauf reduzieren werden, wir kommen darauf zurück.
Um das BRICS-Format herum zeigen sich bemerkenswerte Vorgänge. Es gibt zahlreiche Anträge auf „Mitgliedschaft“, über die auf der nächsten Tagung im August 2023 in Südafrika entschieden werden soll. Staaten aus dem BRICS-Format treten als Vermittler zwischen ehemaligen Erzfeinden wie Iran und Saudi-Arabien auf (China). Ein anderer Staat, Russland, agiert als „Befrieder“, „Stabilisator“ und „Tatortreiniger“ auf den vom Westen hinterlassenen Schlachtfeldern der Missionskriege auf (Syrien). In der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) kommen seit 2001 neun asiatische Staaten (inkl. Russland) zusammen, die sich mit Fragen der Sicherheitspolitik, Wirtschafts- und Handelsfragen sowie der Stabilität der Region beschäftigen. Im Russland-Ukraine-Krieg definieren sich die übrigen vier BRICS-Staaten als neutral, wie übrigens auch das NATO-Mitglied Türkei und das EU-Mitglied Ungarn. Sie beteiligen sich nicht am Sanktionsregime des Westens. Mit am argwöhnischsten und aufmerksamsten beobachtet der Westen das chinesische Projekt der Seidenstraße, im Rahmen dessen gigantische Investitionen im euro-asiatischen und afrikanischen Raum, nicht nur zur Erschließung von Handelswegen, stattfinden. Es sind die Investitionen, die der glorreiche Westen jahrzehntelang hat vermissen lassen (Sauvy). Und, vielleicht am bemerkenswertesten: alte Feindschaften – zwischen Russland und China, zwischen China und Indien – stehen der Verständigung im BRICS-Format nicht im Wege.
Noch gibt es keine dichteren Bündnisstrukturen in der neuen Zweiten Welt, und es kann durchaus bezweifelt werden, dass es je dazu kommen wird. Bei dem BRICS-Format handelt es sich um einen Club, der nicht einmal über eine feste Organisationsstruktur verfügt. Der Westen beruhigt sich damit, dass es noch eine Reihe von anderen Formaten gibt, die eine neue schärfere Teilung der Welt verhindern. Man trifft sich auf Klimakonferenzen, sieht und begrüßt sich im G-20-Format, schließt sich in regionalen Formaten (QUAD) zusammen. Und, v.a., man hofiert die Zweite Welt, lädt sie zu G-7-Gipfeln ein, auf denen man sie heftig umwirbt. Alles ganz abgesehen von den unzähligen diplomatischen Reiseveranstaltungen, die alle ein Ziel haben: einen Keil in die sich formierende neue Zweite Welt zu treiben. Die Angst des Westens vor einer sich neuformierenden Zweiten Welt ist allemal berechtigt. Im Unterschied zur alten Zweiten Welt ist die neue Zweite Welt ganz erheblich größer, sowohl von der Bevölkerung her als auch von der Zahl der Staaten her – geopolitisch keine unerheblichen Fakten –, sie ist aber prima facie wirtschaftlich um ein Vielfaches stärker und dynamischer als ihr Vorgänger. In ihrem Aufbegehren, ihrer politischen und ideologischen Gegnerschaft gegen den Westen und die USA ist sie der eigentliche „Dritte Stand“, der dem Ersten und Zweiten Stand, die im Westen zusammengeflossen sind, einen ganz gehörigen Schrecken in die Glieder jagt.
Die neue Dritte Welt
Wie hieß es in Sauvys Schlusssatz? „Die Dritte Welt wird ignoriert, ausgebeutet und verachtet.“ Dem ist für die heutige Dritte Welt nicht viel hinzuzufügen. Nur Kleinigkeiten: Die Dritte Welt ist kleiner geworden, eine ganze Reihe von Staaten sind in die Zweite Liga aufgestiegen, was nichts mit der Globalisierung zu tun hatte, sondern mit der Tatsache, dass sie sich nicht an die Empfehlungen des Westens, den Washington-Consensus, gehalten haben. Für den verbliebenen Rest – im Wesentlichen Afrika und der Vordere und Mittlere Orient plus einigen östlichen Anrainern Indiens – gelten im Vergleich zu Sauvys Diktum auch nur Kleinigkeiten: Ein Teil von ihnen wurde mit Kriegen überzogen und für eine halbe Ewigkeit in den Zustand der Unterentwicklung eingeäschert, alle zusammen werden in den Klimakonferenzen über die Konferenztische gezogen und mit „kostengünstigen“ Angeboten abgespeist. Sie hat keine Perspektive, der „hell erleuchtete Westen“ (Sauvy) lässt sie darben. Und die Ersatzinvestitionsagentur, China, führt nur Böses im Schilde. Eigentlich könnte die Dritte Welt wieder der Vergessenheit übergeben werden – wäre da nicht das lästige Migrationsproblem, die Schreie, die man an der Côte d’Azur aus Nordafrika vernimmt.
Zwischen den neuen Weltteilen
In der Öffentlichkeit der Ersten Welt wird mit großem Eifer die Grenzziehung zwischen ihr und der neuen Zweiten Welt politisch an dem Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur/Autoritarismus festgemacht, ökonomisch an der etwas veralteten Unterscheidung zwischen Industrieländern – die sie längst nicht mehr sind – einerseits und Schwellenländern andererseits, die die eigentlichen neuen Industrieländer sind, das wäre die stoffliche Zuordnung. Die alte Unterscheidung zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft hat sich im Grunde genommen erledigt, auf beiden Seiten verzeichnet man die Tendenz zu unterschiedlich stark regulierten Wirtschaften (mit ebenso unterschiedlichen sozialen Systemen). Historisch einigermaßen neu sind der Oligarchenkapitalismus in Osteuropa (keineswegs auf Russland beschränkt, die EU hat unter ihrem östlichen Dach ähnliche Erscheinungen, worüber allerdings wenig geschrieben und geredet wird). Eine besondere Ausprägung des Kapitalismus weist auch China auf. Und schließlich der moderne Kapitalismus in den USA mit seinen dynamischen Zentren im Finanzkapital und der Tech-„Industrie“.
Sowohl die politischen als auch die ökonomischen Marker sind nicht nur statische Zuordnungen, sondern lassen sich in eine dynamische Entwicklung einbetten. Deutet man sie als unhistorische Taxonomien, wie es jetzt in der Ersten Welt in den moralischen Anmaßungen (wieder) in Mode gekommen ist, gerät man auf eine steilabfallende schiefe Ebene, die, weil sie von hohem Plateau kommt, zu fataler Politikunfähigkeit führt. Zwischen der Ersten Welt und der neuen Zweiten Welt liegen etwa, sagen wir, einhundert Jahre an Entwicklung. Den Schritt in die politische Sphäre der Demokratie machte die Erste Welt – in mancher Hinsicht mit der Ausnahme der USA – vor gut einem Jahrhundert. Nach dem Ersten Weltkrieg transformierten sich die monarchistischen Diktaturen und aristokratischen Gesellschaften (in Europa) in mehr oder weniger stabile, zunächst unvollständige Demokratien. Wenn in der Ersten Welt der schroffe Gegensatz von Demokratie (Erste Welt) und Diktatur (Zweite Welt) aufgemacht wird, dann kommuniziert man in gewisser Weise mit seiner eigenen Vergangenheit, und man ist erschrocken darüber, wie undemokratisch, inhuman und borniert die nicht-demokratische Zweite Welt sein kann, vergisst aber gerne, dass man, wie im Kino einer Zeitmaschine, die eigene Vergangenheit vor Augen hat. Man glaubt es kaum: Industrieländer waren selbst einmal Schwellenländer.
Die Erste Welt begegnet in der Anordnung der drei Welten also nur ihrer eigenen Vergangenheit. Dabei fährt ihr deshalb ein gehöriger Schreck in die Glieder, weil sie gewahr wird, dass sie noch ganz andere Dimensionen des Monsterhaften auf dem historischen Kerbholz hat. Erste, Zweite und Dritte Welt sind in ihrem Kern eben „nur“ wirtschaftliche Entwicklungsstadien, sie werden nur überlagert von politischen Überbauphänomenen, ehedem Demokratie und Sozialismus, heute Demokratie und Diktatur.
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ – die alte banale Einsicht aus Brechts Dreigroschenoper bedeutet, übersetzt in die (wirtschafts)geschichtliche Entwicklung, erst kommt die wirtschaftliche Entwicklung, dann folgt die Beschäftigung mit humanen politischen Umgangsformen. Wie verwunderlich ist die gerade in Deutschland um sich greifende geschichtsvergessene Preisgabe der Handlungsanleitung „Wandel durch Handel“ oder auch „Wandel durch Annäherung“ angesichts der vermeintlichen Bedrohung durch eine neue kriegerische Auseinandersetzung.
Den neuen Konflikt als Kampf zwischen Demokratie und Diktatur festzumachen, folgt einem ideologischen Manöver der westlichen Wertepriester. Der Kampf der Welten ist nicht ein Kampf zwischen Gut und Böse, sondern der wirtschaftliche Kampf zwischen den um die Anteile am Weltkuchen ringenden unterschiedlichen Blöcken. Die bodenlos dumme und geschichtsvergessene Redeweise des Westens, v.a. der USA, man befinde sich „auf der richtigen Seite der Geschichte“ (Larry Summers), ist nur ideologische Propaganda zur Selbstberuhigung, Selbstbeweihräucherung und durchschaubare Bewerbung der neuen Dritten Welt, die man Jahrzehnte lang bekriegt und ausgebeutet hat und jetzt in peinlich-biederen Ansprachen auf die „richtige Seite der Geschichte“ zu ziehen versucht. Es gibt keine Parallelräume in der Geschichte, nebeneinanderher surrende Zeitläufte, sondern nur ein historisches Nacheinander von wirtschaftlichen Entwicklungsstadien. Und in dieser einen Geschichte der Welt ist es die Geschichte von Macht, nationalen Interessen und Hegemonialstreben.
In beiden Teilen, in der Ersten und Zweiten Welt, gibt es Großmächte. Großmächte neigen zu Expansion, zur Definition, Begründung und Erweiterung von Einflusssphären, dazu Dominanz auszuüben, Interessen unilateral zu formulieren. Das zu leugnen ist lämmerhaft naiv, idealistisch in schlechtester Manier und am Ende unpolitisch. Zwischen den heutzutage bestehenden Großmächten gibt es aber Unterschiede. Die USA sind eine vollständige Großmacht, d.h. militärisch (ihr Verteidigungshaushalt liegt etwa auf der Höhe der Verteidigungsausgaben des Rests der Welt), wirtschaftlich, technologisch und kulturell. Russland ist eine militärische Großmacht, wirtschaftlich fast nicht einmal ein Schwellenland, eher ein Rohstoffland mit industriellen Leuchttürmen. China entwickelt sich zu einer wirtschaftlichen und technologischen Großmacht, militärisch ist es (noch) eher eine mittlere Macht, sein Expansionsstreben zeigt sich über wirtschaftliche Verflechtung und das Auswerfen von Netzen (Seidenstraße). Indien ist militärisch eine mittlere Macht, wirtschaftlich erst am Anfang einer Schwellenlandisierung. Und Europa, das von ein Polposition in einer multipolaren Welt träumt, besser: schlafwandelt? Europa hat sich auf Gedeih und Verderb in die Vasallen- und Hintersassenposition der USA begeben. Die einzige Großmacht aber – und das ist das punctum saliens –, die global agiert, die einen globalen Hegemonialanspruch formuliert, sind die USA, alle anderen Großmächte agieren militärisch „nur“ auf regionaler Ebene.
Was macht es für den Westen, für die USA so schwer, seine Hegemonialbestrebungen ungehemmt durchzusetzen? Im Kalten Krieg war es das militärische Gleichgewicht, das atomare Patt. In dem Russland-Ukraine-Krieg wird damit mittlerweile gespielt. In der sich anbahnenden neuen Konfrontation mit der Zweiten Welt sind es v.a. wirtschaftliche Faktoren. China ist der größte Gläubiger der USA, fast ein Fünftel der amerikanischen Staatspapiere befinden sich in chinesischer Hand. Sie sind ein wirtschaftliches Kampfmittel, eine finanzpolitische Atombombe, die das internationale Finanzsystem und die Rolle des Dollar als Weltwährung bedroht. Die Leistungsbilanz zwischen beiden Ländern zeigt nicht, dass die USA mit De-Coppling/De-Riscing weiterkommen. Eine westliche Antwort auf die Repatriierung Taiwans durch China, die dem gegenüber Russland ergriffenen Sanktions-, Isolations- und Containment-Regime vergleichbare wäre, dürfte mit erheblich höheren Kosten für den Westen verbunden sein. Andererseits: die Provokationsbereitschaft der USA, die sich in ihrer Russland-Politik zeigte und zeigt, auf den China-Taiwan-Konflikt bezogen, lässt erwarten, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Ein-China-Politik aufgegeben wird und Taiwan, wenn es sich „demokratisch“ zum souveränen Staat erklärt, der Westen, wie im Fall der Ukraine, die sich die NATO-Mitgliedschaft in ihre Verfassung geschrieben hat, umschwenken müsste und, seiner wertegeleiteten Außenpolitik folgend, in eine militärische Eskalationsspirale einsteigen würde. Jedes Land der Welt definiert eben seine Souveränität und Bündniszugehörigkeit selbst.
Die Hoffnung des Westens auf Vermeidung der neuen Dreiteilung der Welt
Die Erste Welt, der Westen, befindet sich gegenwärtig in einer verhältnismäßig komfortablen Situation. Ein neuer Kalter Krieg oder eine offene Blockkonfrontation ist noch nicht ausgebrochen. Es sind drei „Großereignisse“, die ihn hoffen lassen, dass man dieses Mal noch einmal davonkommt: 1.) die Globalisierung, 2.) der Klimawandel und 3.) der Russland-Ukraine-Krieg. Gleichsam zufällig sind alle drei Großereignisse dazu angetan, dass der „Zyklus des Elends“ der Dritten Welt wieder als „Nebensorge“ (Sauvy) auf den Agenden der internationalen Geschäftigkeit notiert werden kann.
Beginnen wir mit der Globalisierung. Der Dichter Durs Grünbein hat die Hoffnung des Westens treffend formuliert: „Ein faschistoides Regime (gemeint ist Russland, d. Verf.), aggressiv nationalistisch … spielt verrückt und begibt sich in einen Endkampf gegen die Realität, die nun einmal eine globale ist, auf Welthandel, Vernetzung und gegenseitiger Kapitalverflechtung, aber auch friedliche Verständigung beruhend“ (FAZ, 29. April 2023). Es führte zu weit, alle Faszien dieses gebündelten Unfugs freizulegen, nur ein Aspekt sei herausgegriffen. Die Kleriker des Westens haben längst beschlossen, dass das Konzept des Wandels durch Handel gescheitert sei, dass man der Dritten Welt am besten mit woken Lieferkettengesetzen helfe und dem neuen Aspiranten auf eine Weltmachtrolle aus der Zweiten Welt nur durch technologisches Containment beikommen könnte. Den ganz hohen Hohe Priestern genügt all das nicht – man will nur noch Handel mit den Guten treiben, davor stünde aber eine ganz mächtige Entflechtung der Globalisierung (wenn z.B. die in chinesischer Hand befindlichen amerikanische Staatspapiere auf den internationalen Finanzmarkt geworfen würden). Der Führungsnation der Ersten Welt geht es um Macht und Hegemonie, nicht um Friedensstiftung durch Globalisierung.
Der zweite Hoffnungsschimmer, der aus Sicht der Akteure der Ersten Welt die Spaltung verhindern könnte, rührt von dem Klimawandel her. Wenn die Staaten der Welt in irgendwelchen Metropolen zu Klimakonferenzen zusammenkommen, werde, so die Hoffnung, überdeutlich, dass man gemeinsam Verantwortung für den Planeten (also doch One World) habe. Sobald es an den Konferenztischen aber konkret wird, werden die Verursacher, die Industrieländer, knausrig, Ausgleichszahlungen für 200 Jahre karbonisierte Industrialisierung werden mal freundlich lächelnd, mal zerknirscht bedauernd abgewehrt. Den Schwellenländern wird empfohlen, gar nicht erst Industrieländer werden zu wollen, und der Dritten Welt, dem Globalen Süden, der am meisten unter der zweihundertjährigen Geschichte karbongetriebener Industrialisierung der Ersten Welt zu leiden hat, wird zum Sprung in ein phantastisches Nichts geraten, ohne auch nur über die einfachsten Grundlagen für eine infrastruktur- und industriebasierte Solar-Wind-Entwicklung zu verfügen. Die Brieftaschen der plötzlich von Verantwortung überwältigten Gutstaaten jedenfalls sind leer, Verursacherprinzip hin oder her. Den rohstoffbasierten Schwellenländern, die allesamt m.o.w. weit von einem Übergang in eine industriebasierte Entwicklung entfernt sind, möchten die Gutstaaten am liebsten raten, ihre einzige Reichtumsbasis zu schließen, die Fördertürme für Öl und Gas klimaneutral zu verschrotten. Gleichzeitig werden sie sanktioniert, traktiert, isoliert. Gegenüber dem Rest der Schwellenländer, die emsig neue Fossilkraftwerke errichten, verharrt die Erste Welt in klimapolitischer Sprachlosigkeit, nicht einmal die ausgeklügelten marktwirtschaftlichen Instrumente der CO2-Bepreisung helfen hier weiter.
In der Ersten Welt entwickelt sich dazu eine „Theorie des Überspringens“, die der Ratgeber für die Zweite und Dritte Welt sein soll. Den Schwellenländern wird wohlfeil empfohlen, die carbon-getriebene Industrialisierung zu überspringen und sofort die Transformation in das Solar-Wind-Zeitalter anzugehen. Was einige Schwellenländer in einer Art Parallelstrategie vielleicht noch schaffen werden, wirkt mit Blick auf die Länder des Globalen Südens wie Hohn. Ohne jede industrielle und infrastrukturelle Basis sollen sie den Spillover in das neue Zeitalter bewältigen. Derweil agiert die Weltbank dort mit betriebswirtschaftlich angelegten Projekten, bei denen im Mittelpunkt steht, dass das Solarprojekt sich „lohnt“, Rendite verspricht. Der Washington Consensus, hier: betriebswirtschaftlich angelegte Entwicklungspolitik, hat noch längst nicht aufgehört zu wirken.
Es zeigt sich ein eigenartiges Phänomen: Die „Weltgemeinschaft“ sieht sich einerseits mit einem erdgeschichtlichen-globalen Problem, der Klimakatastrophe, konfrontiert, die gemeinsames Handeln, Kooperation und Verständigung erfordert, und sie trägt das zur Schau, jedenfalls nach außen hin, wenn sie auf den Klimakonferenzen zusammenkommt. Wenn sie die Konferenzsäle verlässt, herrscht andererseits auf allen denkbaren Ebenen Konfrontation, Systemwettbewerb, Handelskriege, bis zu offenen Kriegen. Das Phänomen lässt nur den Schluss zu, dass die Bekämpfung des Klimawandels bei den zentralen Akteuren aus dem Westen nicht an der allerersten Stelle auf der Agenda steht.
Machtpolitisch kam der Russland-Ukraine-Krieg den USA wie gerufen. Abgesehen von den Kollateral-Benefits (dem gewaltigen Schub für die Rüstungsindustrie, der Festigung des westlichen Bündnisses der innenpolitischen Ablenkung) eröffneten sich Möglichkeiten, die NATO weiter auszudehnen und Russland definitiv auf den Status einer Regionalmacht herunterzubringen. In dem Maße, wie das westliche Bündnis auf Vordermann gebracht wurde, hat sich aber die Zweite Welt gesammelt und den Krieg als regionale europäische Angelegenheit eingeordnet, in der man sich nicht zu positionieren gedenkt. Und das, obwohl die russische Intervention einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht, eines der letzten Bänder, das die Weltgemeinschaft noch zusammenhält, darstellt. Die Zweite Welt und ihre führenden Staaten distanziert sich nicht von der russischen Invasion und beteiligt sich schon gar nicht an Sanktionen gegen Russland, im Gegenteil, die wirtschaftliche Kooperation blüht auf und wird vertieft.
Globalisierung, Klimawandel und Krieg verfügen offensichtlich nicht über die Potentiale, die neue Teilung der Welt aufzuhalten oder gar zu überwinden. Es scheint eher so, dass sie selbst Anlässe sind, aus der Teilung eine Spaltung werden zu lassen. Abhängigkeiten, Betroffenheiten und Empörungen erweisen sich als hilflos und ohnmächtig. Es dominieren Machtpolitik, Vormachtpolitik und Machtaufbegehren der Staaten. Die Staaten der Welt finden sich in den „Weltständen“ wieder. Der Erste Stand beharrt auf seinen Privilegien, seiner Berufung und seinen Vormachtambitionen, der Dritte Stand, jetzt die Zweite Welt, begehrt auf und lässt sich nicht mehr einbinden und schon gar nicht abspeisen.
6
Schluss
Kommen wir zurück auf Sauvys Artikel aus dem Jahr 1952. Siebzig Jahre des „tausendjährigen Zyklus des Elends“ sind vergangen, und am Befund für die Dritte Welt hat sich nichts verändert, sie wird weiter „ignoriert, ausgebeutet und verachtet“. Allerdings: die Dritte Welt ist kleiner an Staaten geworden (nicht in der Anzahl der Menschen), einige ost- und südostasiatische Staaten haben den Aufstieg zum Schwellenland geschafft. Die osteuropäischen Staaten, die wähnten mit dem Beitritt zu NATO und EU den Aufstieg in die Erste Welt zu vollziehen, sind weiter Schwellenländer geblieben, die an den westlichen Tröpfen hängen und als Werkbänke für die westliche Industrie fungieren.
Bestätigt hat sich Sauvys These von der gegenseitigen Stabilisierung der Ersten und der Zweiten Welt im Kalten Krieg. Das galt für das Äußere. Im Innern aber zeigte sich Disparates. In der Ersten Welt blieb der Kapitalismus gefesselt. In der Zweiten Welt zeigte sich vollständige Reformunfähigkeit. Was die einen an Dynamik bremsten, hätten die anderen benötigt. Die sich in der Gegenwart vollziehende Formierung einer neuen Zweiten Welt bringt sehr heterogene Staaten zusammen, was den Schluss zulässt, dass es sich bei den politisch-ideologischen Überformungen um einen Schleier handelt. Es geht um wirtschaftliche Entwicklung.
Auch Sauvys These, dass die Welt in eine „beispiellose Krise“ geriete, würde einer der Pole bzw. Kontrahenten des Systemgegensatzes verschwinden, konnte drei Jahrzehnte lang studiert werden. Die Fragen, die Sauvy sich nicht traute zu stellen, was in dieser Konstellation passieren würde, konnten an der globalen Entwicklung während des Interregnums der unipolaren Welt, der unhinterfragten Dominanz des Westens, die in Wirklichkeit eine Welt nach dem Geschmack der USA war, studiert werden. Nicht ewiger Friede und immerwährende Wohlstandsmehrung sind eingetreten, sondern das Gegenteil, eine Kaskade von Krisen und Kriegen unterschiedlicher Art.
Zugleich hat sich in der Zeit des Interregnums eine neue Dreiteilung der Welt, ein neuer globalen Ständekonflikt, herausgebildet, und innerhalb der ständischen Welten Verfestigungen und Neusortierungen hervorgebracht. Verfestigt hat sich die Hegemonialposition der USA in der Ersten Welt, nicht zuletzt nach dem provozierten Krieg Russlands in der Ukraine. Es nimmt kein Wunder, wird der Kampf der Welten in zugespitzten Konstellationen doch durch das militärische Kräftemessen entschieden; die Militärausgaben der USA (ohne die NATO-Verbündeten) liegen, wie bereits erwähnt, fast auf demselben Niveau wie die des Rests der Welt. Was die moderne Erste und Zweite Welt voneinander unterscheidet, sind die dichten Kooperationsstrukturen des Westens und die lockeren Kooperationsstrukturen des Ostens und Globalen Südens.
Käme es zu einer Wiederholung der Geschichte, eine Möglichkeit, die die einen Historiker bestreiten, die anderen bejahen, und Sauvys Prognosen und Thesen zum alten Kalten Krieg, die immerhin einen Erörterungsrahmen abgeben, wiederholten sich, wäre von diesem Szenario auszugehen: Die beiden Systemkonkurrenten stabilisierten sich gegenseitig und finden zu einer Art Gleichgewicht. Für die neue Erste Welt ließe sich eine Zügelung des Kapitalismus bei gleichzeitigem Nagen am Sozialstaat und eine neuerliche Konzentration auf Rüstung und Militär erwarten. Die neue Zweite Welt dürfte aus verschiedenen Gründen eine ganz andere wirtschaftliche Dynamik entfalten als die alte Zweite Welt, von der bald nach Sauvys Aufsatz abzusehen war, dass die Produktivität ihres Wirtschaftssystems mit dem der Ersten Welt nicht mithalten könnte. Die neue verkleinerte Dritte Welt geriete ein weiteres Mal in Vergessenheit – angesichts des sie v.a. betreffenden Klimawandels keine rosige Perspektive.
Es gibt in diesem Szenario allerdings kaum kalkulierbare Variablen. Eine davon betrifft die Erste Welt. In der Zeit des Interregnums hat der Westen die Raubtiere aus dem Käfig gelassen, ihre Jagd auf den (gezügelten) Kapitalismus und die Demokratie könnte sich fortsetzen. Zusammen mit dem zu Identität und Staatsräson gehörenden Hegemonialstreben der USA ergäbe das eine gruselige Mischung. Eine andere Variable: Bislang präsentiert sich der Club der neuen Zweiten Welt als eine ziemlich bunte Mischung. Kaum abschätzbar ist, ob und wie es zu dichteren Kooperationsstrukturen kommt, die jenen in der Ersten Welt vergleichbar wären und ob sich daraus hegemoniale Bestrebungen ergeben. Eine dritte schwer zu kalkulierende Variable: Der „Druck im Kessel“ (Sauvy) in der Dritten Welt wird, nach allem, was sich abzeichnet, ansteigen. Wie Wasser sucht sich Druck seine Wege. Bislang führen die Wege der impertinenten Migranten über das Mittelmeerwasser. Ansonsten bleibt die Dritte Welt der Selbstbedienungsladen für die Erste Welt – ganz wie zu Kolonialzeiten. Im nächsten Viertel Jahrhundert verdoppelt sich die Einwohnerzahl Afrikas. „Die Ursachen der Migration bekämpfen“ – so lautet die Parole der Schlauen im Westen. Die Schläue reicht aber nicht weit, auf die Idee, dass Schulen und Fabriken usw., es sei wiederholt, gebaut werden müssten, kommen sie nicht mehr, nicht als Entwicklungshilfe, nicht als Weltbankprojekt, sondern als gigantisches Investitionsvorhaben.
Das popkulturelle Schwärmen von One World, der internationalen Staatengemeinschaft, der regelbasierten internationalen Rechtsordnung – es ist eine Schimäre. Mit dem Trugbild beruhigen sich die N-1-Staaten, die Vasallen- und Intersassen-Staaten, um weiter ihren Geschäftchen auf den Weltmärkten nachzugehen. One World bedeutet: politische, wirtschaftliche und militärische Dominanz und Hegemonie der USA. Die regelbasierte internationale Rechtsordnung rezitieren nur die Schelme am Hof des Fürsten, der Fürst verfährt damit nach Gutsherrenart, seine Methode lautet: wo’s passt, passt’s, wo nicht, wird’s passend gemacht. Sollte diese One World jemals Wirklichkeit werden, dann wirken nur noch die Gesetze, Widersprüche, Triebkräfte der exzeptionellen Nation.
Die Blockbildung im Kalten Krieg stand für eine stabile Ordnung, da der jeweilige Gegner die Konzentration auf das Innere erforderte und potentielle Driftungen, das Aufplatzen von Widersprüchen und zentrifugale Tendenzen im Ansatz bändigte. Man kann nur hoffen, dass die popkulturelle Welt der One World oder die Mär von der internationalen Staatengemeinschaft nie Realität wird. Die Erste Welt, der Westen, die internationale Staatengemeinschaft ist ein hierarchisch und hegemonial aufgestelltes Gebilde mit einer eindeutigen Führerschaft, die auf der militärischen Potenz basiert. Es gibt die exzeptionelle Nation und die Vasallen und Hintersassen, teils devoter (die Osteuropäer), teils murrender Couleur (Frankreich). One World ist keine Weltgemeinschaft, eigentlich auch keine One World. Die Gleichheit der Staaten ist eine Fiktion. Es gibt nur Mächtige, weniger Mächtige und Ohnmächtige. So gesehen wäre dem Westen, der die Demokratisierung bis in Briefmarken- und Orchideenbereiche vorantreibt, aber zu eigener Demokratisierung nicht in der Lage ist, ein globales Gegengewicht zu wünschen.
*****
DREI WELTEN, EIN PLANET[12]
Alfred Sauvy
L’Observateur, 14. August 1952, Nr. 118, Seite 14.
Wir sprechen heutzutage gerne von den beiden Welten, die sich gegenüberstehen, von ihrem möglichen Krieg, ihrer Koexistenz usw., und vergessen dabei allzu oft, dass es eine dritte gibt, die wichtigste, und in der Chronologie eigentlich die erste. Das sind die Staaten, die man im Stil der Vereinten Nationen als unterentwickelte Länder bezeichnet.
Wir könnten die Dinge auch anders sehen, nämlich aus der Sicht der beiden Hauptgruppen: Aus dieser Perspektive haben sich zwei Avantgarden um einige Jahrhunderte nach vorne abgesetzt, die westliche und die östliche. Sollte man einer von ihnen folgen oder einen anderen Weg versuchen?
Ohne die dritte oder eigentlich erste Welt würde die Koexistenz der beiden anderen kein großes Problem darstellen. Berlin? Deutschland? Längst wäre das unsichtbare Besatzungssystem in Kraft getreten, das die Deutschen frei ließe und das nur die in das zivile Leben verliebten Militärs verurteilen können. Die Sowjets fürchten nichts mehr, als dass sich Westeuropa dem Kommunismus zuwendet. Der eifrigste Stalinist hier gilt dort als vom Westen infiziert. Sie sprechen lieber von einem guten Chinesen, einem Inder, der seine Ausbildung in Moskau absolviert hat und die Bourgeoisie nur aus der korrekten und reinen Sicht kennt, die dort vermittelt wird. Aber Engländer, Schweden, Franzosen – allesamt unerwünschte Rekruten.
Was für jede der beiden Welten zählt, ist, die dritte zu erobern oder sie zumindest auf ihrer Seite zu haben. Und daraus resultieren all die Probleme, die die Koexistenz mit sich bringt.
Der Kapitalismus des Westens und der Kommunismus des Ostens stützen sich gegenseitig. Wenn einer von ihnen verschwände, würde der andere eine beispiellose Krise erleiden. Die Koexistenz beider könnte ein Schritt in Richtung eines sich annähernden Regimes sein, das aber ebenso weit entfernt ist wie es im Verborgenen liegt. Es würde für beide genügen, diese zukünftige Annäherung (Konvergenz) ständig zu leugnen und der Zeit und der Technik ihren Lauf zu lassen. Es würden andere Probleme auftauchen, die genügend Raum einnehmen würden. Welche wären das? Hüten wir uns davor, die Frage zu stellen.
Versetzen Sie sich ein wenig in die Geschichte zurück: Inmitten der Religionskriege würden Sie vielleicht unvorsichtigerweise die Meinung äußern, dass Katholiken und Protestanten vielleicht eines Tages andere Sorgen haben werden als die unbefleckte Empfängnis. Sie würden misstrauisch betrachtet und wahrscheinlich als Verrückter verbrannt.
Leider erlaubt der Kampf um die Vereinnahmung der dritten Welt den beiden anderen nicht, singend zu wandern, jeder in seinem Tal, dem besten natürlich, dem einzigen, dem „wahren“. Denn der Kalte Krieg hat seltsame Folgen: Dort (in der zweiten Welt) ist es ein krankhaftes Werben um die Spionage, das in die heftigste Isolation treibt. Bei uns (der ersten Welt) ist es der Stillstand der sozialen Entwicklung. Was nützt es, sich zu behindern und zu entbehren, solange die Angst vor dem Kommunismus diejenigen auf dem Hang hält, die gerne vorwärts gehen würden? Warum sollte man überhaupt etwas in Betracht ziehen, wenn die fortschrittliche Mehrheit in zwei Hälften geteilt ist? Wir sehen, dass es nie eine günstigere Zeit für die Klassengesetzgebung gab. Wir sollten uns also durch eine Steueramnestie von unseren Diebstählen befreien, ohne Angst lebenswichtige Investitionen, den Bau von Schulen und Wohnungen beschneiden, um die Investitionen in Straßen großzügig auszustatten, damit die sonntagabendliche Heimfahrt in die schönen Viertel leichter wird. Stärken wir die am wenigsten verteidigungsfähigen Privilegien der Zuckerrüben- und Alkoholindustrie. Warum sich quälen, wenn es keine Opposition gibt?
So würde die Entwicklung hin zu einem fernen und unbekannten Regime (Konvergenz) auf beiden Seiten gestoppt, und dieser Stopp ist nicht allein auf die Kriegsausgaben zurückzuführen. Es geht darum, sich auf den Gegner zu stützen, um sich selbst fest zu etablieren. In beiden Lagern haben die Hardliner die Oberhand, zumindest im Moment. Sie müssen die anderen nur als Verräter bezeichnen; ein einfacher und klassischer Kampf. Und so vereinen sie sich für eine im Grunde genommen gemeinsame Sache: den Krieg.
Und doch gibt es ein Element, das nicht stillsteht: es ist die Zeit. Ihr langsames Wirken lässt erwarten, dass das Ausmaß der Brüche wie immer im Verhältnis zur Künstlichkeit der Stagnation stehen wird. Wie wirkt sich dieses langsame Wirken aus? In vielerlei Hinsicht, aber auf eine ganz besonders, die unerbittlicher ist als alle anderen:
Die unterentwickelten Länder, die dritte Welt, sind in eine neue Phase eingetreten: Bestimmte medizinische Techniken werden relativ schnell eingeführt, und zwar aus einem wichtigen Grund: Sie kosten wenig. Eine ganze Region in Algerien wurde mit DDT gegen Malaria behandelt: Kosten: 68 Franc pro Person. Anderswo, auf Ceylon, in Indien usw. werden ähnliche Ergebnisse verzeichnet. Für ein paar Cent wird das Leben eines Menschen um mehrere Jahre verlängert. In diesen Ländern herrscht also die Sterblichkeit von 1914 und die Geburtenrate des 18. Jahrhunderts (in der ersten Welt). Zwar führt dies zu einer wirtschaftlichen Verbesserung: weniger Jugendsterblichkeit, höherer Produktivität der Erwachsenen usw., aber das ist nicht alles. Es ist klar, dass dieses Bevölkerungswachstum mit erheblichen Investitionen einhergehen müsste, um den Behälter an den Inhalt anzupassen (eine wenig gelungene Übersetzung, im Original so formuliert; gemeint ist: um die wirtschaftlichen Bedingungen an das Bevölkerungswachstum anzupassen). Diese lebenswichtigen Investitionen kosten jedoch weit mehr als 68 Franc pro Person. Sie laufen also gegen die finanzielle Mauer des Kalten Krieges. Das Ergebnis spricht für sich: Der tausendjährige Zyklus von Leben und Tod ist eröffnet, aber es ist ein Zyklus des Elends. Hören Sie an der Côte d’Azur nicht die Schreie, die uns vom anderen Ende des Mittelmeers, aus Ägypten oder Tunesien, erreichen? Glauben Sie, dass es sich dabei nur um Palastrevolutionen oder das Murren einiger ehrgeiziger Menschen handelt, die auf der Suche nach einem Platz zum Leben sind? Nein, nein, der Druck im menschlichen Kessel steigt ständig.
Für diese Leiden von heute und die Katastrophen von morgen gibt es ein souveränes Heilmittel; Sie kennen es, es fließt hier (in der ersten Welt) langsam in die Verpflichtungen des Atlantikpakts, dort (zweite Welt) in fieberhafte Konstruktionen von Waffen, die in drei Jahren veraltet sind.
Es gibt in diesem Abenteuer eine mathematische Zwangsläufigkeit, die sich nur ein riesiges Gehirn ausdenken kann. Da die Vorbereitung des Krieges die Hauptsorge ist, dürfen Nebensorgen wie der Hunger der Welt nur so viel Aufmerksamkeit erhalten, dass es nicht zu einer Explosion kommt, oder genauer gesagt, dass keine Unruhe entsteht, die das Ziel Nummer Eins gefährden könnte. Wenn man jedoch bedenkt, wie viele Fehler die Konservativen aller Zeiten in Bezug auf die menschliche Geduld gemacht haben, kann man der Fähigkeit der Amerikaner, mit dem Feuer des Volkes zu spielen, nur wenig Vertrauen entgegenbringen. Als Neophyten der Herrschaft (Vorherrschaft, Macht) und Mystiker des freien Unternehmertums, die dieses als Zweck begreifen, haben sie noch nicht klar erkannt, dass ein unterentwickeltes, feudalistisch geprägtes Land viel leichter zum kommunistischen Regime übergehen kann als zum demokratischen Kapitalismus. Man mag sich damit trösten, dass dies ein Beweis für einen größeren Vorsprung des Kapitalismus ist, die Tatsache ist nicht zu leugnen. Vielleicht könnte die Welt Nr. 1 in ihrem hellen Licht, selbst ohne jede menschliche Solidarität, nicht unempfindlich gegenüber einem langsamen und unwiderstehlichen, demütigen und wilden Drang zum Leben bleiben. Denn schließlich will auch diese Dritte Welt, die wie der Dritte Stand ignoriert, ausgebeutet und verachtet wird, etwas sein.
Anmerkung zum Ursprung des Ausdrucks „Dritte Welt“ von Alfred Sauvy:
Im Jahr 1951 sprach ich in einer brasilianischen Zeitschrift von drei Welten, ohne jedoch den Ausdruck „Dritte Welt“ zu verwenden.
Diesen Ausdruck kreierte ich und verwendete ihn zum ersten Mal schriftlich in der französischen Wochenzeitung „L’Observateur“ vom 14. August 1952. Der Artikel endete wie folgt: „Denn schließlich will auch diese Dritte Welt, die wie der Dritte Stand ignoriert, ausgebeutet und verachtet wird, etwas sein.“ Damit übertrug ich den berühmten Satz von Sieyès über den Dritten Stand während der Französischen Revolution. Ich habe nicht hinzugefügt (aber manchmal scherzhaft gesagt), dass man die kapitalistische Welt mit dem Adel und die kommunistische Welt mit dem Klerus gleichsetzen könnte.
[1] Alfred Sauvy, „Trois Mondes, une Planèt”, L’Observateur, 14. August 1952, S. 14.
[2] Der Artikel ist im Anhang in einer auf Deepl basierenden eigenen (nicht idealen) Übersetzung beigefügt. Es empfiehlt sich den Artikel zuerst zu lesen.
[3] Die Vereinten Nationen wurden 1945 von 51 Staaten gegründet. 1970 betrug die Mitgliedszahl 127, heutzutage 193.
[4] Desertec war ein Vorhaben zu Beginn des Jahrtausends, das mit Solarpanelen Ökostrom in der Wüstenregion Nordafrikas zusammen mit dem Bau von Kraftwerken für den regionalen und europäischen Strombedarf produzieren sollte. Es scheiterte, obwohl technisch machbar, an kurzsichtigen Betriebswirtschaftserwägungen.
[5] Immerhin, könnte man sagen. Der Wille war und ist da. 0,7 Prozent für die Dritte Welt sind ja auch eine Größenordnung gegenüber den 2 Prozent, die man in der Erste-Welt-NATO für Verteidigungsausgaben vorsieht.
[6] Phillip Roth spielte eine faschistische Machtübernahme in den USA schon vor längerer Zeit in seinem Roman “The Plot Against America” (2004) durch. Er lässt Charles Lindbergh, ein dem deutschen Nationalsozialismus überaus wohlgesonnener Luftfahrtpionier, bei Präsidentschaftswahlen in den dreißiger Jahren gegen Franklin D. Roosevelt gewinnen und errichtet in den USA ein faschistisches System, das mit dem Gedanken spielt, an der Seite der Achsenmächte in den Krieg einzutreten. Der Roman wurde auch als Allegorie auf die Bush-Regierung gelesen.
[7] In seiner Quarantäne-Rede 1937 in Chicago beschrieb Roosevelt die internationale Lage, die er außerordentlichen Gefahren ausgesetzt sah. Die Gefahr gehe von Gewaltregimen, von Machtgier und Herrschaftsstreben aus. Roosevelt unterlässt es aber, konkrete Staaten – etwa Japan, Deutschland und Italien – beim Namen zu nennen. Daraus leiten osteuropäische Historiker ab, es könnte auch die SU gemeint gewesen sein, was besser gewesen wäre.
[8] Zitiert nach: Jeffrey Sachs, „Warum die Welt eine neue US-Außenpolitik braucht“. In: Makroskop 11. Mai 2023 (Warum die Welt eine neue US-Außenpolitik braucht – MAKROSKOP)
[9] Die Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschlands ließ sich die zerfallende SU in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gegen ein Linsengericht abverhandeln. Immerhin erreichte sie, dass keine NATO-Truppen und -Waffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden durften. Es entsprach dem damaligen breiten Konsens, dass sich die NATO nicht nach Osten erweitern würde, was auch in den bekannten mündlichen Statements verkündet wurde.
[10] Der amerikanische Exzeptionalismus steht in seinem Anspruch auf Weltherrschaft einschlägigen faschistischen Ideologien in nichts nach. Er ist einerseits historisch, anderseits religiös-missionarisch begründet und wählt andere Methoden. Jedenfalls ist er eine extreme Form von Nationalismus. Warum sich die Europäer, die sich die Überwindung des Nationalismus auf ihre Fahnen geschrieben haben, diesem Nationalismus so gedankenlos unterwerfen, gehört zu den am besten gehüteten europäischen Geheimnissen, es muss mit ihrer merkantilistischen Krämereinstellung zu tun haben, die dem Handel alles unterordnet.
[11] Es ist historische Spekulation, ob der Angriff Russlands mit einer entschiedenen europäischen Antwort auf die Bündnisfrage der Ukraine hätte vermieden werden können. Wahrscheinlich eher nicht, da sich die USA ihre Antwort auf das russische Verhandlungsangebot vom Dezember 2021, ihr Führungsprivileg nutzend, allein vorbehalten haben, ohne offene Rücksprache und Verständigung in der „Gemeinschaft“ der NATO.
[12] Eine eigene auf Deepl beruhende Übersetzung. Das Programm ist noch weit von zufriedenstellenden Übersetzungen entfernt. Eine der Kuriositäten: „Dritter Stand“ wird mit „Dritter Staat“ übersetzt. Die Klammerbemerkungen stammen vom Übersetzer und dienen der Verdeutlichung.