Es sollte der zentrale Gipfel zur Reform der Eurozone werden. Im Dezember 2017 auf den Weg gebracht, sollten im März 2018 erste Ergebnisse vorliegen, was nicht geschah, endlich aber auf dem Gipfel Ende Juni des Jahres war dann die große Eurozonenreform angekündigt. Wenn nicht ganz die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion, so doch die Wege dorthin sollten in trockene Tücher kommen. Macrons europapolitische Anregungen von der Sorbonne-Rede sollten endlich konkrete Gestalt annehmen, und nach langer Suche und langen Wochen und Monaten des Wartens, man könnte auch sagen, des Hinhaltens, hatte die Kanzlerin in einem Interview sogar eine Antwort darauf gefunden, eine zwar höchst bescheidene, aber immerhin. Die zuständigen Arbeitsgruppen der Regierungen hatten sich ausgetauscht und nach Kompromisslinien sondiert. Und als am Ende Merkel und Macron sich in Meseberg ausgetauscht und auf ein Kommuniqué geeinigt hatten, schien einer Einigung auf dem Brüsseler EU-Gipfel am vergangenen Wochenende nichts mehr im Wege zu stehen. Viel „sollte“.
Aber: Europäische Innenpolitik funktioniert nicht nur nach Plan, mittlerweile funktioniert sie wie nationale Innenpolitik und greift aktuelle Zuspitzungen auf, so dass geplante Themen an der Tischkante herabfallen. Der einzige Unterschied zu nationaler Innenpolitik ist noch der, dass sie nicht Tag für Tag, kontinuierlich abgearbeitet werden kann, eine Folge davon, dass sie intergouvernemental und nicht supranational betrieben wird. Jedenfalls wurde die Eurozonenreform sang und klanglos von der Agende genommen und die Flüchtlingsfrage rückte statt ihrer auf die Agenda.
Verschwörungstheoretisch ließe sich mutmaßen, dass die Sache von deutscher Seite aus perfekt terminiert, orchestriert und inszeniert war. Statt der Eurozonenreform stand die Migrationsfrage im Mittelpunkt und für erstere blieben in der separaten Schlusserklärung nur ein paar magere Sätze – und das war gezielte deutsche Politik, da man auf Zeit spielen muss. Der Hintergrund zu dieser verschwörungstheoretischen These lautet: Im nicht mehr ganz neuen Bundestag lässt sich keine Mehrheit mehr für eine fundamentale Eurozonenreform organisieren, da eine solche eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern würde.
Zur Erläuterung: In ihrem neueren Demokratiefuror haben die Deutschen in den vergangenen Jahren das sogenannte Integrationsverantwortungsgesetz (2009), ein bigotter Begriff, verabschiedet. Dieses in der EU einzigartige Gesetz schreibt vor, dass Gesetze, die auf der Flexibilitätsklausel im AEUV (Artikel 352) beruhen, einem Parlamentsvorbehalt mit einer hohen Hürde unterliegen. Das Abstimmungsverhalten Deutschlands im Rat hängt demzufolge davon ab, ob zwei Drittel der Stimmen im Bundestag und zwei Drittel der Stimmen im Bundesrat für einen Vertrag zustande kommen. Der ESM-Vertrag basiert auf dieser politisch-rechtlichen Konstellation. Und ein Eurozonenbudget, auch „im unteren zweistelligen Bereich“, und die Transformation des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) nicht? Unwahrscheinlich. Für die Arbeitsweise des ESM gilt, dass jede Spesenabrechnung und jede Kredittranche für Griechenland durch den Bundestag gehen muss.
Schaut man sich diesen Bundestag an, zeigt sich Folgendes: Selbst eine Schmalspurreform, die „nur“ eine absolute Mehrheit, die Regierungsmehrheit, erforderte, käme nicht mehr zusammen, da mittlerweile von einer faktischen Mehrheit von Bundestagsabgeordneten auszugehen ist, die europaskeptische bis europafeindliche Positionen vertritt. Wie dieser Tage deutlich wurde, hat die die große Mehrheit der CSU den verzweifelten Übergang in den Rechtsradikalismus vollzogen. Für die CDU geht man davon aus, dass über ein Viertel der Fraktion (200 Mandate) zu den Europaskeptikern gehört. Nimmt man alles zusammen – die offen Rechtsradikalen von der AfD, die Nationalliberalen von der FDP, die Nachfolgestahlhelmer in der CDU und die Nationalkommunisten von der Linken –, dann dürfte das Jahr 2018 eine knappe absolute Mehrheit von Europaskeptikern und Europafeinden dem Bundestag beschert haben.
Die einseitige Erklärung des Generalsekretariats des Rates im Namen des Euro-Gipfels – das ist der Rat im Format der Eurogruppe – vom 29. Juni 2018 enthält folgende Punkte:
- Das „Bankenpaket“ (u.a. regulatorische Vorschiften für Banken, ausreichend Kapital für Verlustpuffer bereitzuhalten) gilt als verabschiedet, es muss noch durch die zwei gesetzgeberischen europäischen Instanzen gehen. Die Aufforderung, Verhandlungen über ein Europäisches Einlagensicherungssystem (European Deposit Insurance Scheme, EDIS), die dritte Säule der Bankenunion, aufzunehmen. Der Klartext dazu: Deutschland, das ein solches Reglement mit dem Vorwand der vielen faulen Kredite, die in den Kellern italienischer Banken lagern, rundheraus ablehnt, weil ihm die deutschen Sparkassen im Nacken sitzen, hat sich durchgesetzt und lässt das Projekt auf die lange Bank schieben.
- Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wird die gemeinsame Letztsicherung für den einheitlichen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund, SRF) für in die Insolvenz gehenden Banken, ein Teil der zweiten Säule der Bankenunion, bereitstellen (zum Verständnis: er ersetzt in Deutschland z.B. die Soffin, Volumen: rund 60 Mrd. EUR). Die Details dazu wie auch die Modalitäten der Weiterentwicklung des ESM zu einem EWF sollen bis zum Dezember 2018, dem nächsten Euro-Gipfel ausgearbeitet werden. Klartext: Ein konkreter Reformschritt (SFR) kann verbucht werden, ansonsten: lange Bank.
- In der Euro-Gruppe werden alle weiteren Aspekte erörtert. Klartext: Dahinter versteckt sich vielleicht auch das Eurozonenbudget, ansonsten lange Bank.
- Auf der Tagung des nächsten Euro-Gipfels wird all das weiter besprochen. Dazu gibt es keinen Klartext, das ist wirklich als eigener Punkt gelistet.
Folgt man der obigen Verschwörungstheorie, dann ist die deutsche Mission – fiktives Flüchtlingsproblem als Ablenkungsmanöver, bedauerliche „lange Bank“ für die Reform der Eurozone als Konsequenz – perfekt gelungen.
Die Folie, vor deren Hintergrund das Ergebnis des Gipfels ausgeleuchtet werden muss, hält Forderungen wie „Erneuerung Europas“ (Macron an der Sorbonne, 2017), „Eurozonenbudget“ („unverhandelbar“, Macron) in mehreren Prozent des BIP, „Eurozonen-Finanzminister“ (Macron), „Weiterentwicklung des ESM zu einem EWF“ (Koalitionsvertrag, 2018), neue Eigenmittel in Form von Steuern (Digitalsteuer, Transaktionssteuer, Anteile an der Körperschaftssteuer) vor. Zur Verdeutlichung: Die ursprüngliche Forderung Macrons von einem Eurozonenbudget von 300 Mrd. EUR ist bei Merkel auf eine Größenordnung von „im unteren zweistelligen Bereich“ geschrumpft. Nimmt man dies als Maßstab, dann sind von Macrons Vorschlägen etwa 10 Prozent übriggeblieben und nicht einmal die können als gesichert gelten.
Aus all diesen Vorschlägen wurde nichts, weil – ja, weil der europäische Hegemon ein klitzekleines innenpolitisches Problem mit der Rechtsradikalisierung einer regionalen Koalitionspartei hat und das Amt der Kanzlerin auf dem Spiel steht. Das herrscht dem Betrachter geradezu zwei Fragen auf: 1.) Sind die auf eine Reform der Eurozone dringenden Staaten, insbesondere Frankreich und Italien, so dumm, dass sie dieses Spielchen einfach so mitmachen? Und bzw. oder: 2.) Was hat die von großer europäischer Solidarität bei dem EU-Gipfel profitierende Kanzlerin den reformwilligen (und abhängigen) Eurostaaten und den rechtsradikalen Visegrád-Staaten inklusive ihrer alten Habsburger Mutter alles zugesagt?
Man weiß nicht, welches die zielführende Frage ist. Die zweite hätte jedenfalls einen gewissen Charme und ließe ein wenig Hoffnung, dass im Wege der „Quersubventionierung“ die Deutschen zu Zugeständnissen in der europäischen Wirtschaftspolitik (z.B. Abkehr von der Austeritätspolitik und Korrektur bei den Handelsüberschüssen) bewegt werden können. Die Zusagen an die reformwilligen Eurostaaten können aber nicht substantiell gewesen sein. Davor steht nicht nur die europaskeptische bis europafeindliche Sperrminorität im Bundestag, sondern auch der Riss, der durch die Eurogruppe geht. Die Niederlande als Anführer der Reformunwilligen Nordstaaten haben bereits deutlich gemacht, was sie von dem Eurozonenbudget halten – nichts.
Die Kanzlerin hat sich in ihrer Europapolitik vollständig verfahren, sie hat die verschiedenen Krisenhefte nicht mehr in der Hand. Deutsche Kanzler sind am Anfang ihrer Amtszeit in ihrem Denken und Handeln noch vorwiegend national gepolt, erst später lernen sie die Gestaltungsmöglichkeiten in der Europapolitik kennen und mutieren dann in einen europäischen Politikmodus. Bei Merkel hatte sich diese Beobachtungserkenntnis auch so vollzogen, nur hat genau in der Übergangsphase von Nationalem zu Europäischem die falschen Berater an ihrer Seite und Fehler über Fehler begangen.
Die Mutter aller heutigen europäischen Krisen, die sich damit als Folgekrisen entpuppen, kam für Merkel also zu früh. Zunächst zur Mutter aller Krisen. Als die Große Finanzkrise im Herbst 2008 nach dem Lehman-Crash Mitte September 2017 mit irrwitziger Geschwindigkeit in Europa landete, ergriffen der damalige französische Staatspräsident und die EU-Kommission die Initiative und versuchten eine gemeinsame europäische Lösung mit Investitionen und Bankenrettungen auf den Weg zu bringen. Deutschland antwortete ebenso kühl wie bodenlos dumm-provinziell. „Ein jeder kehr vor seiner Tür…“, tönte es aus dem CSU-geführten Wirtschaftsministerium. Die Kanzlerin, noch ganz im nationalen Politikmodus der Anfängerjahre, blockte alle europäischen Lösungen im Verein mit der SPD ab und setzte auf die nationale Karte.
War man bei den Krisenbekämpfungsmaßnahmen 2008/09 noch, wenn auch verhalten, keynesianisch inspiriert – nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“ –, erhielt die sich entwickelnde Matrix der Krisenbekämpfung 2010 mit der Griechenlandkrise ihre kongeniale Ergänzung durch den knochenharten Neoliberalismus, bestehend aus Austerität und Lohnsenkung. Beide Elemente, den Nationalismus aus 2008 und der Neoliberalismus aus 2010, zusammengenommen hätten eine so wunderbare Kombination für das Europa der Zukunft ergeben: den Wettbewerb der Nationen innerhalb der Gemeinschaft. So oder so ähnlich waren die Vorstellungen im Kanzleramt und im Finanzministerium für das europäische Leitbild der Zukunft.
Parallel dazu kam in diesen Jahren die Rede vom neuen deutschen Hegemon hinzu, bestärkt insbesondere durch das rüde, keinen Widerspruch duldende und jeden Kompromiss – die europäische Methode schlechthin – verweigernde Auftreten der Deutschen bei der Programmierung der Memoranda of Understanding für die Programmländer, es galt die ebenso fixen wie bornierten neoliberalen Grundideen im Praxistest zu erproben. Als Hegemon gerierte man sich auch im Nationenwettbewerb, indem man sich durch die inländische Spar- und Maßhaltepolitik bei den Löhnen eine Wettbewerbsposition nach der anderen eroberte und damit explodierende Handelsüberschüsse erwirtschaftete.
Auf dem Höhepunkt angelangt war diese Politikmatrix im Sommer 2015. Griechenland hatte man fast in die Steinzeit zurückgewirtschaftet und konnte dem Land locker mit dem Rauswurf aus der Eurozone drohen (Schäuble) – gegen jede vertragliche Grundlage und gegen jeden europäischen Geist. Die kleinen Programmländer hatte man als größter Geldgeber an der Kandare und die großen folgten den Deutschen in ihrem national-neoliberalen Politikmodell wie halb bewusstlose Dackel. Im Sommer 2015 war alles so schön. Im Kanzleramt und im Finanzministerium muss man sich wie die Götter von Europa gefühlt haben.
Und im Herbst 2015 kam alles anders. Zufall? Kaum. Die Geschichte des Jahres 2015 mit dem dramatischen Wechsel innerhalb weniger Wochen ist längst noch nicht auserzählt. Deutschland, die Kanzlerin, die Bundesregierung befanden sich im Sommer 2015 auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht: Berlin entschied die Wirtschaftspolitik für den gesamten Kontinent, mindestens der Eurozone, Berlin entschied über die Mitgliedschaft in der Eurozone und Berlin war die zentrale Adresse für alle europäischen Fragen. Kam dann das Gefühl auf „Alles ist möglich“? Wurde die Substanz der hegemonialen Position überschätzt? Sollte dem wirtschaftspolitischen Zuchtmeister die gnädige Samariterin folgen?
Alle Nachfolgekrisen, die der Mutter aller europäischen Krisen folgten, hatten ihren Ausgangspunkt in den Jahren 2008-2010, in der neoliberal-nationalistischen Matrix bei der Bekämpfung der Finanzkrise und der Eurokrise. Die nationalistische Eruption in fast ganz Europa, im Westen wie im Osten, der Brexit, die Migrationsbewegungen, Pauperisierung und Arbeitslosigkeit in vielen Ländern, das jämmerliche Wachstum in der Eurozone seit 2016, die tiefen Spaltungen in der Eurozone und tiefen Spaltungen in der Europäischen Union – alle diese Nachfolgekrisen sind das Ergebnis der geschilderten Matrix.
Was die Auflösung dieses wabernden Krisenfeldes so schwer macht, ist weniger die eine oder anderen Entscheidung, die getroffen wurde, für sich genommen, es ist vielmehr die Art und Weise, die Methode, wie diese Entscheidungen getroffen wurden. Das, was Deutschland seit 2008 vorexerziert hat, war: 1.) Nationale Alleingänge haben Priorität (Eroberung von Wettbewerbsvorteilen durch Lohnmäßigung und Sparpolitik, Krisenbekämpfung von 2008/09). 2.) Ideologische Positionen werden gegen die anderen Länder (Programmländer, aber auch das gesamte Eurozonen-Gebiet) ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt (Wirtschaftspolitik ab 2010). 3.) Die essenziellste aller Methoden europäischer Politik wurde ausgerechnet auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik außer Kraft gesetzt und knüppelharte Austerität oktroyiert. 4.) Als die Redeweisen vom neuen Hegemon in Europa unmittelbar nach Krisenbeginn einsetzten, war man in Berlin nicht gewarnt, es schrillten nicht die Alarmglocken, sondern man demonstrierte im Gegenteil geradezu hegemoniale Attitüden, gepaart mit Gesten des Erwischtwordenseins und koketter Zurückweisung.
Gemessen an diesen fatalen Fehlern war die Position des Rest-Europas auf dem Gipfel mehr als erstaunlich. Giuseppe Conte drohte, Emanuel Macron war verstimmt, die Kanzlerin triumphierte ob der europäischen Solidarität zur Rettung ihres Amtes.