Sieht man von den Überlegungen zur europäischen Außenpolitik, der Migrationsfrage und der institutionellen Reform der EU ab, dann unterbreitete Merkel im Interview mit der FAS (3. Juni 2018) drei konkrete Vorschläge zur Reform der Währungsunion.
- Mit dem EWF (ehedem ESM) soll eine auf wirklicher Macht beruhende Institution geschaffen werden, die ihre intergouvernementale Struktur mit Parlamentsvorbehalt (in manchen Staaten) beibehielte. Die Macht käme insbesondere durch die Auflagenkompetenz zum Ausdruck, die aus eigener Zuständigkeit erwachsen soll, also nicht mehr durch den Rat und die ehedem so bezeichnete Troika. Nebenbei bemerkt: Diese Maßnahme setzte die Tendenz der Entmachtung der Kommission weiter fort. Der frühere Instinkt, einen solchen EWF nicht gut zu finden, hat die Kommission also nicht getäuscht. Der EWF wäre die neue wirtschaftspolitische Superbehörde in der Eurozone. Ihr Chef würde den Job nicht mehr wie bisher quasi nebenbei erledigen, nein, er rückte, bei der jetzigen Konstellation, in eine Reihe ganz nach vorne neben Tusk und Juncker.
- Der neue EWF soll, so Merkel im Interview, die Verwaltung der bisherigen langfristigen Kreditlinie des ESM und die Funktion der Letztsicherung für die Bankenunion übernehmen („Common Backstop“). So ist es auch in dem einschlägigen Verordnungsentwurf der Kommission vorgesehen. Darauf hat man sich offensichtlich schon verständigt. Zusätzlich soll er eine neue fünfjährige Kreditlinie erhalten (Merkel: „Immer gegen Auflagen natürlich, in begrenzter Höhe und mit vollständiger Rückzahlung“). Das wäre der „Schlechtwetterfonds“ gegen so genannte asymmetrische Schocks, z.B. eine in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte Krise Irlands nach dem Brexit.
- Schließlich soll es noch zur Einrichtung eines Investivhaushalts (Volumen: „im unteren zweistelligen Milliardenbereich“) in oder außerhalb des regulären EU-Haushaltes kommen. Gedacht ist dieser Fonds offensichtlich als Konvergenzhilfe innerhalb der Eurozone. Diesen Vorschlag hatte die Kanzlerin schon auf dem Höhepunkt der Eurokrise unterbreitet, jetzt greift sie ihn auf, es geht um die Belohnung von „Strukturreformen“, man kann sich vorstellen, was damit gemeint ist.
Die Kanzlerin hat in diesem Interview – sieht man einmal von der neuen kurzfristigen Kreditlinie für den EWF ab – nicht mehr und nicht weniger als den Stand des Koalitionsvertrages referiert. Wort für Wort ist das alles dort nachzulesen. Und das Paket kann auch nicht überraschen, da mit der Kreditstrategie alles, was mit Haftungs- und Transferunion auf europäischer Ebene auch nur im Entferntesten in Verbindung gebracht werden könnte, abgewehrt ist. Die Hintergrundinformation, die man dazu wissen muss, lautet: Europarechtlich ist es keineswegs eine abgemachte Sache, dass die Umwandlung des ESM in einen EWF und andere europäische Reformvorhaben mit den üblichen politischen Mehrheiten beschlossen werden können. Wenn für diesen Prozess eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig sein sollte, dann ist die im Bundestag für die GroKo nicht einmal mehr mit den Stimmen der Grünen zu erreichen. Zu den Zeichen der Zeit gehört also: Im Bundestag gibt es mittlerweile eine rechtsnationale, europafeindliche Sperrminorität von Rechtsradikalen, Nationalliberalen, Unionsnationalen und linken Fundamentalisten. Wer sich bei dieser Mischpoke wohlfühlt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Angesichts der erbärmlichen Dürftigkeit der Merkelschen Vorschläge könnte man sich – aus spieltheoretischer Perspektive betrachtet – damit beruhigen, dass die Kanzlerin im Interview das Minimum auf dem Verhandlungsteppich ausgebreitet hat und sie in den Verhandlungen selbst mit Frankreich Ende Juni noch eine europapolitische Schaufel drauflegt. Vielleicht erhält der zukünftige EWF-Chef noch einen „Doppelhut“ (Kommissar plus EWF-Chef) und rückt damit in die Nähe des „Europäischen Finanzministers“ und vielleicht wird aus dem unteren ein mittlerer Milliardenbetrag für den Investivhaushalt. Doch kann dies nicht wirklich beruhigend.
Eine tatsächliche Reform der Eurozone müsste an zwei ganz anderen Baustellen ansetzen. Davon ist Merkel eine ganze Meile entfernt und Macron mindestens eine halbe. Die prozesspolitische oder realwirtschaftliche Baustelle hätte die Verständigung auf eine Gesamtwirtschaftspolitik in der Eurozone zum Thema, sie ist aber kein Vorhaben, das morgen angegangen werden könnte. Es steht auch bei dem Juni-Gipfel nicht auf dem Programm. Außerdem ist diese Baustelle noch nicht einmal auf den Zetteln der beteiligten Akteure. Das ist mit der zweiten Baustelle, der ordnungspolitischen, anders und darauf bezieht sich auch das Merkel-Interview.
Das Thema dieser Baustelle lautet: Die Währungsunion müsste in der Weise rekonstruiert werden, dass sie den politischen Grundstrukturen ihrer Trägerschaft wieder gerecht wird. Was ist damit gemeint? Eines der für das Gemeinschaftsprojekt „Währungsunion“ in den neunziger Jahren qualifizierenden Kriterien war der einheitliche konvergente Zins auf den nationalen Kapitalmärkten. Das Kriterium wurde von den jeweiligen Kandidaten erreicht und so konnte die Währungsunion eingeführt werden. Dies durfte einerseits für die Kandidaten selbst wie auch für die Kapitalmärkte andererseits als Signal interpretiert werden, dass auch die Währungsunion auf der Basis eines einheitlichen konvergenten Zinses funktionieren würde. Und so geschah es denn auch im ersten Jahrzehnt der Währungsunion. Dann kam es bekanntlich in den Turbulenzen der Weltfinanzkrise anders, der No-bail-out-Artikel, für den deutschen Neoliberalismus das Herzstück der Währungsunion, musste erst mit brachialer Gewalt, fast könnte man sagen, gegen die Kapitalmärkte, durchgesetzt werden.
Die angesprochene Trägerschaft der Währungsunion besteht aus politisch souveränen Staaten – in dem Maße eben, wie heutzutage überhaupt noch von Staatensouveränität die Rede sein kann. Das mag man beklagen oder für eine Fehlkonstruktion halten, es ist aber die Realität. Sie ist nicht entstanden aus einer neoliberalen Gedankenwelt, um den Staatenwettbewerb zu organisieren, sie war auch keine deutsche Erfindung zur Absicherung des Exportmodells, sie war das historisch zufällige Ergebnis einer bestimmten Mächtekonstellation in einer bestimmten historischen Situation, die es auch weiter zu beachten gilt. Als unabhängige Konstituante geht dieser fiskalisch eigenverantwortliche Staat in die ordnungspolitischen Voraussetzungen der Währungsunion ein. Man könnte dies auch radikalen Föderalismus nennen.
Wenn dieser radikale Föderalismus – inklusive der darin enthaltenen Verdikte gegenüber finanziellen Transfers – akzeptiert ist, dann muss ordnungspolitisch auch dafür gesorgt werden, dass er leben und gelebt werden kann. Das bedeutet prima facie, dass unterschiedliche Wirtschaftspolitiken in den Trägerstaaten zu akzeptieren sind. Und das wiederum bedeutet, dass der Stabilitätspakt, nicht wie gegenwärtig in Deutschland, wie eine heilige Betonskulptur herumgereicht wird, sondern dass auch sein zweiter Namensteil – Wachstumspakt – zu seinem Recht kommt. Mit anderen Worten: Um dem radikalen Föderalismus in der Eurozone Luft zu verschaffen, muss der austeritätsgetriebene Norden hinnehmen, dass im Süden Wachstums- oder Nachfragepolitik betrieben wird.
Eine solche Politik wird mit ein paar Milliarden für diesen oder jenen Fonds nicht gehen, sondern, nach Lage der Dinge, nur über selbstgesteuerte Kreditaufnahme. Und das funktioniert nur, wenn die Teilnehmer in der Eurozone von den Vorteilen eines großen Währungsraumes profitieren können. Das war die Geschäftsgrundlage des ersten Jahrzehnts der Währungsunion und entgegen den postumen neoliberalen Verzerrungen hat diese Ordnung der Währungsunion ganz gut funktioniert. Die Krise in den späteren Programmländern entwickelte sich erst, als man diese Ordnung beschädigte und durchlöcherte und den Kapitalmärkten signalisierte, dass man zukünftig eine Politik der Risikoprämien bevorzugen würde. Die Verantwortlichen für die Krisenbearbeitung in der Eurozone beeilten sich förmlich, in die Ordnung marktmäßige Strukturen einzuziehen. Der Höhepunkt war die mit kaltem Kalkül durchgezogene Teilinsolvenz des griechischen Staates, mit der nicht nur der erste und einzige Staatsbankrott in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – unter der Voraussetzung, man sieht von dem deutschen Staatsbankrott nach dem Zweiten Weltkrieg ab – inszeniert wurde, sondern dem No-bail-out-Artikel aus dem AEUV erst zum Durchbruch verholfen wurde.
Das Problem des konvergenten Zinses in der Währungsunion wurde in der Zwischenzeit von wichtigen politischen Akteuren auch erkannt. Nichts anderes als der konvergente Zins liegt dem 2012 von der EZB angekündigten, aber nicht realisierten OMT-Programm zugrunde und nichts anderes auch dem QE-Programm (Staatsanleihekaufprogramm). Beide Programme, das angekündigte und das praktizierte, vermochten die Zinsen zwar erheblich zu drücken, dennoch verbleibt noch eine Risikoprämie für einzelne Staaten und diese Risikoprämie schwebt als disziplinierende Drohung über den Staaten und ihren Wirtschaftspolitiken.
Um es dogmatisch zu formulieren: Eine Währungsunion auf der Basis eines radikalen Föderalismus kann nur mit dem konvergenten Zins funktionieren. Das ordnungspolitische Modell, das die deutschen Akteure im Verlauf der Eurokrise durchgesetzt haben, die Währungsunion auf der Basis eines Staatenwettbewerbs, ist gescheitert.
Sehr deutlich wird das Scheitern an dem zusätzlich auf die Tagesordnung des Juni-Gipfels gerückten Fall Italien. Während mit den bisherigen Programmländern nach dem kreditbegleitenden Motto „Immer gegen Auflagen natürlich“ – deshalb hießen die Auflagen auch „Memorandum of Understanding“ – umgesprungen werden konnte, hat man es bei Italien mit einem Vetoplayer zu tun, der nicht ohne weiteres mit ein paar Krediten für den Mezzogiorno abgespeist werden kann.
Die Parteinahme für Italien fällt gegenwärtig schwer, ist höchst degoutant, weil das vorgetragene mehr als berechtigte wirtschaftspolitische Interesse von einem mehr als dubiosen, eben degoutanten Bündnis formuliert wird. Scharf zu trennen zwischen Sache und Personen wird ein Thema des anstehenden Gipfels sein. Zu hoffen ist, dass das Geschwätz über Populismus nicht allzu sehr im Vordergrund steht und die Vetoplayer-Position von der italienischen Seite robust vertreten wird. Das wäre allemal zielführender als das lächerliche Geplänkel um Symbole wie einen Finanzminister, ritualisierte Verdammungen der Transfer- und Haftungsunion und Ablenkungsmanöver auf andere Politikfelder, weil die Stärkung Europas dort angeblich viel wichtiger sei.
Aber: selbst wenn es nur zu der im Merkel-Interview hervorscheinenden Miniatur einer Eurozonen-Reform käme – die Welt respektive Europa respektive die Eurozone ginge auch davon nicht unter. Die Europäische Union hält die kläffenden Nationalisten von allerorten aus und wird sie überleben, auch die deutschen neoliberalen Ordensritter. Schreckens- oder Untergangsszenarien müssen nicht an die Wand gemalt werden.