Der Bundesfinanzminister ist bisher in den SPD-Annalen notiert als
- ideologischer Verfechter und Implantierer der Hartz-Gesetzgebung (2004) und damit als einfühlsamer Sozialpolitiker
- sowie als begeisterter Anhänger der Schwarzen Null (2002/2018) und damit als profunder Kenner der makroökonomischen Bedeutung der Staatsfinanzen.
Nach seiner Europarede an der Humboldt-Universität Berlin (28. November 2018) erweitert er dortselbst seine Meriten um eine moralphilosophische und eine europapolitische Komponente.
Zur Moralphilosophie:
„Aufgrund unserer Lage in der Mitte der Union, der Einwohnerzahl und unserer Wirtschaftskraft hat alles, was wir tun, direkte Auswirkungen auf unsere Nachbarn. Und alles, was wir unterlassen, im Übrigen auch. Mit großem Einfluss kommt große Verantwortung. Deutschland muss seinen Einfluss dazu nutzen, auf europäischer Ebene Kompromisse zu ermöglichen und dabei helfen, die oft unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb der EU zu einer Position zusammenzuführen. Dafür müssen wir manchmal etwas großzügiger sein als andere, auch als wir es bislang oft gewesen sind. Und damit meine ich ausdrücklich nicht finanzielle Großzügigkeit. Sondern großzügig darin, unsere Interessen öfter im Licht der gemeinsamen europäischen Sache zu sehen, ohne sofort in die klassischen Reflexe zu verfallen. Weil kein Land so von diesem einheitlichen Europa profitiert wie Deutschland.“ (Herv.d.Verf.)
Wer hat das Markenrecht auf die neue Theorie der immateriellen Großzügigkeit – der Geisterschreiber oder sein Minister? Liest letzterer eigentlich die Sinnfreiheiten, die ihm ersterer aufgeschrieben hat?
Zur Europapolitik:
„Und wenn wir es ernst meinen mit der Europäischen Union, dann sollte die EU auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit einer Stimme sprechen. Ich schlage vor (sic!): Mittelfristig könnte der Sitz Frankreichs in einen EU-Sitz umgewandelt werden – im Gegenzug sollte Frankreich dann permanent den EU-Botschafter bei den Vereinten Nationen stellen. Mir ist klar, dass es dazu sicherlich in Paris noch einiger Überzeugungsarbeit bedarf, aber ein kühnes und kluges Ziel wäre es.“ (Herv.d.Verf.)
Da hat der Geisterschreiber in der Wilhelmstraße aber doch ein, zwei Schwenker Cognac zu viel gezwitschert. Oder waren es fünf oder sechs? Noch berauscht von den Einsichten der neuen Theorie der immateriellen Großzügigkeit gönnt er sich jetzt barmherzige Verzichtspolitik – für andere. Viel Spaß bei der „Überzeugungsarbeit“ im Élysée-Palast kann man da nur wünschen.