Herfried Münkler, „Mehr Führung wagen. Die Weltordnung ist in einem Umbruch begriffen, den die Europäer mitgestalten müssen, wenn sie im 21. Jahrhundert eine Rolle spielen wollen. Technologische Unabhängigkeit herzustellen ist die Führungsaufgabe, die Deutschland übernehmen muss -nicht auf sich alleingestellt, aber doch als Anführer aller anderen“. In: FAZ, 27. Mai 2019.
1.
Nur mit einem gewissen zeitlichen Abstand sollte sich politische Theorie an die Arbeit der Abstraktion begeben. Simultane und zeitnahe Abstraktionen, wie sie dem Journalismus unterlaufen, eigentlich zu dessen Alltagsgeschäft gehören, erweisen sich allzu oft als Blindgänger. Als Deutschland in den beiden Jahren der europäischen Ordnungskrise (2010-12) durch brutale Ausnutzung seiner Rolle als Vetospieler im Europäischen Rat der gesamten Eurozone seine Gläubigermacht demonstrierte und gegen jede wirtschaftspolitische Vernunft eine rigide Austeritätspolitik aufherrschte, erfolgte fast parallel dazu die politikwissenschaftliche Theoretisierung von der (neuen) hegemonialen oder doch halbhegemonialen Rolle Deutschlands in Europa. Es kam, wie es kommen musste. Ziemlich genau drei Jahre nach der europäischen Währungskrise war es mit der Theorie von der deutschen Hegemonie in Europa vorbei. Als die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise um europäische Solidarität bat, hallte ihr nicht nur schallendes Gelächter entgegen, es sperrten sich auch die kleinen Vetoplayer im Europäischen Rat und verriegelten ihre Grenzen. Der vermeintliche Hegemon spürte Machtlosigkeit und war zurechtgestutzt auf normales Maß. Seither ist es auch politikwissenschaftlich sehr ruhig geworden um die Theorie von der neuen deutschen Hegemonie.
Die Crux an den Thesen von der deutschen Hegemonie in der EU bestand darin, dass sie Hegemonialmacht mit Gläubigermacht verwechselte und der deutschen Politik eine Dimension unterstellte, über die diese in ihrer ordnungspolitischen Verblendung nicht verfügte. Deutschland verfolgte in der europäischen Krise keine Hegemonialpolitik, die Großzügigkeit mit Weitsichtigkeit verbunden hätte, sondern die Politik eines Halbstarken, der aufgrund seiner materiell-physischen Überlegenheit dem Rest des Clubs seine halbgaren Vorstellungen aufzuzwingen vermochte. Griechenland und die anderen Programmländer sollten bestraft werden für unakzeptable Wirtschaftspolitik in der Periode zuvor.
Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass man in Deutschland auf eine neue gemeinsame Führungsrolle mit Frankreich in Europa vorbereitet wäre. Die Finanzkrise von 2008 und die Eurokrise von 2010 boten reichlich Ansätze, verantwortungsvolle Führung zu zeigen. Stattdessen verfiel man in kleinkarierten Neonationalismus und -liberalismus. Als man begriff, dass es um mehr geht, als die eigene Haut zu retten, versuchte man, die Eurozone zu einer Art Pferderennen umzuformen, Nation gegen Nation („Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“). Naturgemäß stieß das bei den kleineren, schwächeren und wirtschaftspolitisch anders Denkenden im Club auf Vorbehalt und Widerstand.
Und in dieser Situation erhebt ein politischer Theoretiker seine gewichtige Stimme und plädiert für – deutsche Führung. Kein Mensch, kein Politiker und kein Theoretiker, kommt in Deutschland und in Europa gegenwärtig auf die Idee, deutsche Führung in Europa anzumahnen. Ein allzu abwegiger Gedanke.
2.
Ob sich der Politiktheoretiker Münkler bereits im Zustand des Hofberichterstatters der deutschen Exekutive befindet oder die definitive Merkel-Biographie nach der Kanzlerschaft verfassen will, ist nicht bekannt. Mit der folgenden Einlassung steht er aber ganz vorne auf der Liste der Anwärter:
„Bundeskanzlerin Merkel hat die Deutschland zugefallene Führungsrolle in Europa ausgesprochen zurückhaltend interpretiert. Man könnte fast sagen, sie hat durch Führungsverzicht geführt und … dadurch vermieden, dass sich antideutsche Ressentiments aufgestaut haben und gegen Deutschland gekehrte, stabile Fronten in der EU entstanden sind. Weder in der Euro- noch in der Flüchtlingskrise ist sie vorgeprescht, sondern hat lange beobachtet, gewartet und gezögert, bis sie dann unter dem Druck der Ereignisse schließlich doch eine Entscheidung getroffen hat.“
Eine solche Qualifizierung ist gegen jede Realität und gegen jede Wahrnehmung im In- wie im Ausland formuliert und nur dazu angetan, etwaigen Ambitionen der obigen Art zu dienen.
Von Fakten ausgehende politische Theorie kommt zu dem genau entgegengesetzten Befund: 1.) Im Oktober 2008 verhinderten Merkel und ihr Beraterstab im Kanzleramt eine europäisch abgestimmte Anti-Krisenpolitik und leiteten damals den Neonationalismus in Europa ein. 2.) Die Ordnungskrise von 2010-12 wurde von denselben Personen heraufbeschworen und das einzige Mittel zur Eindämmung der Krise, die Eurobonds, das sich auf Großzügigkeit und Weitsicht berufen konnte, schroff abgelehnt („Solange ich lebe!“). 3.) Ohne jede Rücksicht wurde in den Programmländern und der Eurozone insgesamt eine irrationale, bornierte Austeritätspolitik betrieben, die neue tiefe Klüfte in der Eurozone und reichlich Zerwürfnisse erzeugten. 4.) Ohne jede Abstimmung im Europäischen Rat wurde im Sommer/Herbst 2015 eine chaotische Flüchtlingspolitik betrieben, abermals mit dem Ergebnis neuer Spaltungen und Risse. Alle europäischen Feindseligkeiten und Verbitterungen der Folgezeit sind auf das bornierte und kurzsichtige deutsche Gehabe in der Zeit der Krisenbekämpfung zurückzuführen.
Die deutsche Europapolitik unter Merkel hat sich in dem Jahrzehnt zwischen 2005 und 2015 mit Riesenschritten von den Grundbedingungen europäischer Integration entfernt. Man ist in der Krise der Währungsunion ohne Zurückhaltung vorgeprescht und hat Europa überzogen mit einem absurden Spardiktat und dem Integrationsmodell des Nationenwettbewerbs. Als der abtretende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2015 nach vorne gegangen ist und Investitionen und Innovationen in Europa fördern wollte, hat man ihn in Deutschland belächelt und allein gelassen.
Keine antideutschen Ressentiments in Europa? In welchen Berliner Katakomben spinnt der politische Wissenschaftler eigentlich seine Theorie? Hat er nicht die praktischen Texte zur Eurokrise gelesen? Etwa die Rede Macrons an der Sorbonne, in der er die europäischen Auseinandersetzungen in den Jahren 2010-12 als „Bürgerkrieg“ bezeichnete?
3.
Zwei Wochen, bevor der Berliner Politiktheoretiker seine Gedanken zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Europas in der FAZ veröffentlichte, titelte der SPIEGEL (Nr. 20) „Die fetten Jahre sind vorbei. Warum dem deutschen Wirtschaftswunder ein jähes Ende droht“ und berichtete: „Deutsche Firmen .. sind in nahezu allen zentralen Zukunftsbranchen mittlerweile abgeschlagen: Software, Biotechnologie, intelligente Maschinen.“ Zitiert wird der Innovationsforscher Dietmar Harhoff: „Wir haben ein Betulichkeitsproblem in Deutschland.“
Der Politiktheoretiker hätte das Heft lesen sollen. Der Artikel enthält zwar viel Unfug und schleift an der Oberfläche herum, er ist aber ungleich dichter an der Realität als der Essay Münklers. Wenigstens am Rande berichten die Autoren von dem Hauptproblem der deutschen Wirtschaft, der Innovations- und Investitionsschwäche. Der Finanzierungssaldo der deutschen Unternehmen weist seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten positive Werte aus: Die deutschen Unternehmen sparen lieber, als dass sie investieren. Statt zu investieren baut man sich Museen. Was sie, das nebenbei, nicht davon abhält, Steuersenkungen von der Politik zu fordern. Streift der politische Theoretiker dieses Problem? Nein.
In einer Zeit, in der eine deutsche Industrie-Ikone nach der anderen mit ihrer Strategie wenn nicht an die Wand, so doch in die Sackgasse fährt, in einer Zeit, in der das exportgetriebene deutsche Wirtschaftsmodell international an immer robustere Grenzen stößt, in einer Zeit, in der die Leitbranche der deutschen Industrie, der Automobilbau, zentrale Innovationen verschlafen, mit ihrer schlichten Technologie Herausforderungen der Zukunft verpasst und den Lebenszyklus des Produkts Verbrennungsmotor falsch eingeschätzt hat, in dieser Zeit fordert der Politikwissenschaftler technologische Führerschaft für Deutschland, ohne auch nur den kleinsten Hinweis zu geben, für welchen Sektor sein Ansinnen gedacht ist.
Der Politikwissenschaftler gibt seine Empfehlungen auch ohne jeden Hinweis auf die politisch-institutionellen und die ökonomisch-funktionalen Rahmenbedingungen von technologischer Entwicklung. Kein Hinweis auf den Reformstau in der Währungsunion, kein Hinweis auf das wirtschaftspolitische Modell Deutschlands.
Zwanzig Jahre Währungsunion haben Deutschland ein sehr spezielles wirtschaftspolitisches Klima beschert. Die Währungsunion bildete einen Schutzraum, in dem mit der systemisch bedingten Unterbewertung grandiose Exporterfolge erzielt werden konnten. Die Währungsunion hatte aber auch eine Kehrseite für die deutsche Industrie. Der frühere Anreiz für technologische Entwicklung resultierte nicht zuletzt aus den Aufwertungen, denen die Industrie in gewissen Abständen ausgesetzt war. Seit zwei Jahrzehnten gehört das nicht mehr zu den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Stattdessen ließen sich Exporterfolge ausschließlich unter der Dunstglocke von Vorteilen in der preislichen Wettbewerbsfähigkeit erzielen. An keiner Branche wurde und wird der daraus resultierende Stillstand deutlicher als an der deutschen Leitindustrie, dem Automobilbau. Auch mit Lug und Betrug ließ sich kein Ausweg finden.
All das befindet sich offensichtlich nicht in Münklers Zettelkasten. Stattdessen kommt er nach abgestandenem Schwadronement zu EU-Geschichte, sich verändernder Weltordnung und Machiavelli völlig freihändig und ohne jeden doppelten Boden zu diesem Ergebnis: „Technologische Unabhängigkeit der Europäer herzustellen ist die Führungsaufgabe, die Deutschland übernehmen muss – nicht auf sich allein gestellt, aber doch als Anführer aller anderen.“
Hat der Politiktheoretiker etwa den großen neoliberalen Riegel in Deutschland übersehen, der alles blockiert – staatliche kreditfinanzierte Investitionen, Umbau der Währungsunion zu einer Haftungsgemeinschaft, Digitalsteuer für Google & co., offengelegte Besteuerung multinationaler Konzerne, staatliche Industriepolitik usw. usf.? Wie soll die Führerschaft à la carte in einem europapolitisch gänzlich vergifteten Klima erfolgen?
4.
Deutschland hat mit seiner Europapolitik in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Politik eines kleinen Landes betrieben. Es hat so ziemlich alle Prämissen, die ein großes wirtschaftsstarkes Land, ein potentielles Führungsland, ein benevolenter Hegemon in einem Staatenbündnis erfüllen muss, nicht eingehalten. Keine Großzügigkeit, keine Weitsicht, keine Kompromissbereitschaft, kein Denken für das Ganze, kein Verantwortungsbewusstsein. Wirtschaftspolitisch kommt das deutsche Politikmuster vor den beiden Krisen – das Lohndumping – und danach – national ausgerichtete Krisenbekämpfung – einem Totalversagen gleich. Die in der EU und der Eurozone von Deutschland feilgebotene Integrationsmethode des Nationenwettbewerbs ist spätestens 2015 gescheitert, sie wird gleichwohl von den handelnden Akteuren in abgemilderter Form weiter vertreten, ablesbar an den deutschen Reformvorstellungen zum ESM.
Zu all dem passt, dass man den neuen geopolitischen Herausforderungen, die in Macrons europapolitischen Interventionen aufgegriffen werden, intellektuell nicht einmal im Ansatz gewachsen ist. Stattdessen beschäftigt man sich seit Jahren nur noch mit Demoskopie, Sonntagsreden zum Multilateralismus und unterbreitet dümmliche (Scholz: „Frankreich soll auf Sicherheitsratssitz zugunsten Europas verzichten“) und peinliche (Kramp-Karrenbauer: „europäischer Flugzeugträger“) „Angebote“ an Frankreich.
In welchem Jenseits deliriert der Berliner Politiktheoretiker, wenn er von Deutschland Führerschaft fordert?