1.
Das vollständige Mandat der EZB
Wie lautet das Mandat der EZB? Artikel 127 (1), Satz 1 AEUV lautet:
„Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen (Herv.d.Verf.).“
An Zielen gemäß Artikel 3 EUV werden genannt: (1) der Frieden, die Werte der Union und das Wohlergehen der Völker, (2) der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, (3) der Binnenmarkt, (4) die Wirtschafts- und Währungsunion und (5) der Schutz in den Beziehungen zur übrigen Welt.
Nimmt man die Werte über den Konjunkturzyklus hinweg, dann gibt es seit über einem Jahrzehnt kein Inflationsproblem mehr in der Eurozone. Eher ist das Gegenteil der Fall. Knapp über einem Prozent liegen die Werte für die Preissteigerung in der Eurozone, gemessen am angestrebten Wert von nahe bei 2 Prozent deutlich zu wenig. Was folgt daraus für die Geldpolitik der EZB? Sie ist gefordert, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union zu unterstützen. Wie unterstützt eine Zentralbank die Wirtschaftspolitik eines Gemeinwesens? Indem sie den Leitzins, soweit ihr das möglich ist, möglichst niedrig hält, um die Kreditaufnahme der Wirtschaftssubjekte zu fördern. Die EZB kann sich also nicht neutral, desinteressiert oder indifferent in Hinblick auf die Wirtschaftspolitik in der Union verhalten, sondern ist, wenn Preisstabilität gegeben ist, zur Unterstützung angehalten.
Wer noch alle fünf ökonomischen Sinne beisammen hat, wird auch einräumen, dass Preisstabilität immer „symmetrisch“ gemeint sein muss, d.h. nach oben und nach unten. Inflation und Deflation müssen daher von der EZB als wirtschaftliche Konstellationen angegangen werden. Angesichts ihres Mandats wäre es mehr als unverantwortlich gewesen, in den Jahren nach 2014 keine deflationären Gefahren wahrzunehmen und die Zins- und Geldpolitik nicht darauf abzustellen.
In Deutschland wird der zweite Teil des Mandats der EZB, die Unterstützung der Wirtschaftspolitik in der Union, systematisch ausgeblendet, vergessen und bestritten. Eigentlich besagt das alles, über die angeblich regeltreuen und regelversessenen Deutschen. Es geht immer nur um bestimmte Regeln. Kompromisse und komplexere vertragliche Anordnungen werden ignoriert. Regeln werden notfalls auch gebogen und gebrochen und umgedeutet.
Stattdessen werden in Deutschland Zinsmythen verbreitet. Der Zins ist nicht eine funktionale Größe, die sich aus einem makroökonomischen Gesamtzusammenhang ergibt, sondern eine Art Naturrecht, das den Sparern zusteht. Entweder wird die Notenbank verantwortlich gemacht für die Höhe des Zinses oder die Existenz bzw. Nichtexistenz des Zinses, was einer einfältigen Staatsgläubigkeit entspricht, oder das Verschwinden des Zinses wird der so genannten demographischen Entwicklung zugeschrieben. Weil die Leute älter werden und deshalb mehr sparen (Alterssparen), komme es zu einem Überangebot an Ersparnissen, eine These ohne jede empirische Evidenz. Viel mehr Evidenz besitzt die These, dass die nicht erst seit heute vorliegende Überakkumulation von Geldvermögen Ausdruck und Folge von gravierender Einkommensungleichheit, massiver Unterbesteuerung und extremer staatlicher Austeritätspolitik ist.
Europäische Union und Euro-Zone:
Inflationsraten von 2008 bis 2018 (gegenüber Vorjahr)
Quelle: Statista 2019
2.
Draghis Londoner Rede
Erinnern wir uns zurück. Im Sommer 2012 war die durch Deutschland majorisierte europäische Ordnungspolitik an die Wand gefahren. Nichts, aber auch gar nichts konnte die in wilder Spekulation befindlichen Kapitalmärkte beruhigen, die Renditen für südeuropäische Staatspapiere schossen ein ums andere Mal auf Rekordhöhen. Brenzlig wurde es, als die italienische und spanische Staatsfinanzierung in ernsthafte Gefahr geriet. Die Hochmeister der Ordnungspolitik aus Deutschland hatten alle Werkzeuge bedient: Klassische Ordnungspolitik in Form von Regelbindung (Fiskalvertrag), ebenso wie marktradikale Krisenverschärfung (griechische Insolvenz), nichts wollte fruchten, die Bondmärkte ließen sich nicht beeindrucken. Auch alle Sparschwüre verhallten an den Finanzmärkten, wenig erstaunlich, interessiert man sich dort eher nicht für das Sparen, sondern für das Anlegen.
Als sich der Europäische Rat, das politische Machtzentrum der EU, am 28./29. Juni 2012 zum turnusmäßigen Gipfel traf, köchelte die Krise auf ihren Siedepunkt hin. In den Tagen zuvor, fast könnte man sagen, in den Stunden zuvor zirkulierten zwei politische Lösungsansätze, die beide geeignet waren, die Spekulation auf den Bondmärkten mit einem Mal zu ersticken. Der erste Vorschlag kam von den vier EU-Präsidenten (Rat, Kommission, Eurogruppe, EZB), also lagerübergreifend, die intergouvernementalen und supranationalen Organe einigend. Neben einer Bankenunion forderten Draghi und die anderen (Van Rompuy, Barroso und Juncker) Eurobonds (eine „europäische Finanzfazilität“). Die Kanzlerin antwortete am Tag vor der Ratssitzung mit der ebenso fatalen wie dümmlichen Festlegung: Keine Eurobonds, „solange ich lebe“.
Der zweite Vorschlag knüpfte an den gerade etablierten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) an. Den Deutschen war die Institution von vorneherein suspekt, sie musste ihnen hart abgerungen werden, setzte sie doch, so nahm man das wahr, das marktradikale No-Bail-Out-Prinzip aus dem AEUV (Artikel 125) außer Kraft. Dass diese Norm gar nicht im Vertrag steht, sondern einer deutschen Interpretation entspricht, spielt hier keine Rolle. Der ESM ist zwar eine sinnvolle Institution, mit einem maximalen Kreditvolumen von 700 Milliarden EUR aber kein wirkliches Gewicht, wenn große Staaten wie Italien, dessen Schulden das Dreifache betragen, in Finanzierungsschwierigkeiten kommen. In den Tagen vor dem Gipfel wurde daher in Europa eine Banklizenz des ESM erörtert, was nach Lage der Dinge die Krise mit einem Schlag beruhigt hätte. Aber auch dieser Lösungsvorschlag scheiterte an deutschen Vorbehalten.
In Deutschland kam man von der mittlerweile aufgeladenen nationalistischen antieuropäischen Stimmung nicht mehr herunter. Nachdem die schwarz-gelbe Koalition Anfang 2010 noch im Siegestaumel der gewonnenen Bundestagswahl durch beharrliches Zuwarten bei der sich aufbauenden Griechenland-Krise den Boden für den Nationalismus bereitet hatte, steckte man dann im Sommer 2012 in einer richtigen Krise, da politisch kein Ausweg mehr zur Verfügung stand. Ein schönes Beispiel dafür, dass der einmal eingeschlagene Nationalismus nicht mehr heimlich oder stückweise eingedämmt und in den Käfig zurückbeordert werden kann, sondern wie auf einer schiefen Ebene rollt und rollt und rollt.
Der Brüsseler Gipfel mit seinem Ergebnis war dann eine höchst seltsame Mischung aus Verzweiflung und rationaler Krisenbearbeitung. Die Verzweiflung drückte sich darin aus, dass man für die kurze Frist, die eine Eindämmung der Spekulation gegen die südeuropäischen Bonds notwendig gemacht hätte, gar nichts anzubieten hatte. Die rationale Krisenbearbeitung, die man betrieb – natürlich nicht auf deutsche Initiative hin –, leitete endlich die Bankenunion (mit vier Jahren Verspätung) ein, was aber eine Maßnahme für die lange Frist war. Die Antwort der Kapitalmärkte war eindeutig: Es wurde munter weiter gegen die südeuropäischen Staaten spekuliert.
In diesen Situation der höchsten Not und des politischen Versagens hielt Marion Draghi dann vier Wochen später seine Londoner Rede (26. Juli 2012).
“When people talk about the fragility of the euro and the increasing fragility of the euro, and perhaps the crisis of the euro, very often non-euro area member states or leaders, underestimate the amount of political capital that is being invested in the euro.
And so we view this, and I do not think we are unbiased observers, we think the euro is irreversible. And it’s not an empty word now, because I preceded saying exactly what actions have been made, are being made to make it irreversible.
But there is another message I want to tell you.
Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“
Das war eine politische Botschaft („political capital“), es war eine europäische Botschaft („euro is irreversible“), die nie möglich gewesen wäre ohne Absprache mit dem Europäischen Rat, und es war eine Botschaft, man könnte auch sagen Drohung an die Kapitalmärkte („believe me“) in Gestalt eines Hinweises auf die Kräfteverhältnisse zwischen Politik und Finanzmärkten. Das, was der Europäische Rat aufgrund deutschen Drucks nicht entwickeln konnte oder wollte, musste die EZB – auch in dieser Hinsicht eine Art „Lender of Last Resort“ – übernehmen, nämlich zu kommunizieren, wer Herr und wer Knecht in der Welt des Finanzsystems ist. Vier Jahre zuvor, bei der globalen Finanzkrise 2008, wurde auf der ganzen Welt demonstriert, wie die Politik das Finanzsystem mit all seinen Fiktionalitäten retten, ordnen und sanieren kann.
Draghis rhetorischer Intervention folgte sechs Wochen später (6. September 2012) die Ankündigung eines konkreten Maßnahmenpakets, das OMT-Programm. Vorgesehen, aber bislang nicht realisiert, waren Käufe von Staatspapieren kurzer Laufzeit auf dem Sekundärmarkt, ohne Volumen- und Zeitbegrenzung. Der betreffende Staat müsste sich in einem ESM-Programm befinden. Die praktische Umsetzung des Programms war nicht nötig, da die Kapitalmärkte die Kommunikation Draghis sofort aufnahmen und aus den Spekulationen ausstiegen, so dass die Zinsen für die bedrohten Staaten fielen.
3.
Die schratige Position der Bundesbank
Man kann die Ära Draghi nicht würdigen, ohne auf den schratigen Bundesbankpräsidenten einzugehen. Er kam in etwa zur gleichen Zeit ins Amt wie Draghi, ohne allerdings erste Wahl gewesen zu sein. Ein anderer hatte sich in die Büsche geschlagen, wie einige Deutsche in jener Zeit. Vorher war Jens Weidmann an entscheidender wirtschaftspolitischer Beraterstelle im Kanzleramt tätig und wahrscheinlich nicht ganz unbeteiligt an der Europapolitik in den Krisenjahren 2008-2010.
Stimmt es, was Weidmanns ehemaliger Professor, Roland Vaubel, anlässlich von dessen Berufung zum Bundesbankpräsidenten geäußert hat? Vaubel hielt Weidmann für eine Fehlbesetzung: „Er ist der Aufgabe nicht gewachsen. Er ist ein guter Ökonometriker, aber ein farbloser Technokrat. Es liegt ihm nicht, wirtschaftspolitisch zu argumentieren, das heißt zu begründen, mit welchen wirtschaftspolitischen Instrumenten die Ziele am besten erreicht werden können.“
„Farbloser Technokrat“ wäre heutzutage vielleicht nicht das allererste Attribut, das einem zu Weidmann einfiele. Schon eher würde passen „vormoderner marktradikaler Dogmatiker“. Nach Draghis Ankündigung des OMT-Programms kursierte im Netz bald ein Papier (Handelsblatt: „Geheimpapier“), das Weidmann zugeschrieben wurde und die Grundlage für die Stellungnahme der Bundesbank bei der Verhandlung gegen das OMT-Programm der EZB vor dem Bundesverfassungsgericht bilden sollte. Geklagt hatte eine schillernde Truppe von Rechtsradikalen, Europafeinden, Demokratiefreunden und Linksradikalen. Statt die Klage abzuweisen, wegen fehlender inhaltlicher und formaler Zuständigkeit, entblödete sich das Gericht – bekannt für seine geldpolitische Expertise – nicht, über die Sache richten zu wollen und lud Weidmann als Experten, tatsächlich aber als „Zeugen der Anklage“, dass es um „unerlaubte Staatsfinanzierung“ gehe. Die klagenden Don Quijotes und Sancho Pansas werden gejauchzt haben.
In dem „Geheimpapier“ verriet Weidmann seine Interpretation des in der Eurokrise geadelten Haftungsprinzips. Vor Gericht und später in der Öffentlichkeit hatte man im Zusammenhang mit dem OMT-Programm, das ja nie umgesetzt wurde, und den Wertpapierkäufen an den Sekundärmärkten seit 2015 immer die „verbotene“ Staatsfinanzierung in den Vordergrund gerückt. Die Argumentation im Geheimpapier ging aber tiefer. Draghi hatte bei der Vorstellung des OMT-Programms betont, der so genannte Transmissionsmechanismus greife nicht mehr, d.h. die EZB habe in den Südländern keinen Zugriff mehr auf die Zinsbildung, da die permanent hohen Zinsen dort dies verhinderten. Dies müsse sich durch eine entschiedene Intervention an den Bondmärkten ändern.
Der Schrat aus der Bundesbank argumentierte dagegen, dass es nicht Aufgabe der EZB sein könne, für gleiche Zinsen in der Eurozone zu sorgen. Eigentlich dachte man bisher, welche Aufgabe sonst sollte eine Zentralbank haben. Vielmehr sei es umgekehrt so, dass ein höheres Zinsniveau Verbraucher und Unternehmen in den schlecht regierten, weil verschuldeten Staaten erzieherisch wirke. Das nennt man Sippenhaft, auch eine Variante des Haftungsprinzips, das die Deutschen in Europa als neue Integrationskategorie durchgesetzt haben und eine ganz eigene Ausprägung des Binnenmarktgedankens darstellt.
4.
Draghis Bilanz
Über die Modernisierung der Geldpolitik hinaus sind es vor allem zwei Verdienste, die Draghi zugutekommen.
- Draghi hat die Möglichkeiten des zweiten Teils des Mandats der EZB, die Unterstützung der Wirtschaftspolitik in Europa bei Abwesenheit von Inflation, konsequent ausgeschöpft. Die Bestandsgarantie des Euros und der Währungsunion gehört dazu ebenso wie die investitions- und verbraucherfreundliche Gestaltung des Zinses.
- Draghi hat die EZB, von der einst so mancher Ultraliberaler träumte, sie könnte in ihrer Unabhängigkeit Geldpolitik von einem anderen Stern aus betreiben, fest und unverrücklich mitten in das europäische Integrationsprojekt verankert. Er war Teilnehmer an den Präsidentenberichten, darin wurde die Lösung für die europäische Ordnungskrise skizziert, u.a. mit den Eurobonds, und er hat als Teil der Europäer darauf hingewiesen, dass schon zu viel in den Euro investiert wurde, als dass man ihn einer lächerlichen Gefährdung wie der so genannten Staatsschuldenkrise aussetzen würde.