Zur aktuellen Diskussion um die Schuldenbremse und/oder die Schwarze Null: Warum es Unsinn ist, die Einbetonierung der Schuldenbremse ins Grundgesetz als Antwort auf die Finanzkrise 2008 zu begreifen.

Immer wieder ist in den letzten Tagen und Wochen im Zusammenhang mit der Diskussion über ein Abrücken von der Schwarzen Null resp. der Schuldenbremse – dass man beides unterscheiden muss, versteht sich von selbst, aber das soll hier nicht Thema sein – davon die Rede, dass die Schuldenbremse und ihre Verankerung im Grundgesetz (GG) eine Antwort auf die Finanzkrise 2008 und die danach einsetzende exorbitante öffentliche Kreditaufnahme gewesen sei. Das kommt auf groben Unfug, üble Irreführung und fatale Unterschätzung hinaus. Die Wertung kann man sich aussuchen.

Die einfach zu recherchierenden Fakten sind:

  1. Die globale Finanzkrise mit der Insolvenz von Lehman Brothers begann am Montag, dem 15. September 2008. Es gab zwar schon bis ins Jahr 2007 zurückgehende Vorboten, wie in Deutschland bei heraufziehenden Wirtschaftskrisen üblich, wurde aber die „ruhige Hand“ beschworen und noch bis Ende September 2008 glattweg bestritten, dass sich die Ereignisse in den USA – wohlgemerkt: im Zeitalter der Globalisierung – auch auf Europa und Deutschland ausbreiten könnten. Die größte Klappe bei der Abwiegelei hatte der sozialdemokratische Finanzminister.
  2. Die „Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen“, die die Föderalismusreform II ausarbeiten sollte, konstituierte sich im März 2007. Wie ihre Namensgebung schon sagte, hatte sie zunächst nichts zu tun mit dem, was später die zukünftige Entwicklung in Deutschland und Europa so nachhaltig prägen sollte. Nach einigen Diskussionsrunden über dieses und jenes legte der Bundesminister der Finanzen (der unter erstens) im Februar 2008, also nach nicht einmal einem Jahr der Arbeit, der Kommission ein Papier über „Notwendigkeit und Inhalt einer Schuldenregelung im Grundgesetz“ (BMF, 23. Januar 2008) vor. Das blieb fortan Thema der Kommission und führte dann zu dem bekannten Ergebnis. Nach dem formalen Beschluss durch den Gesetzgeber im Sommer 2009 trat das Gesetz schließlich im August des Jahres in Kraft.

Die Faktenlage ist also eineindeutig. Die Verankerung der Schuldenbremse im GG war mitnichten eine Reaktion auf die globale Finanzkrise. Welche Triebkräfte waren es dann, die zu dieser fundamentalen Wende in der deutschen Finanzpolitik führten? Es war die Vollendung der Umwandlung der Sozialdemokratie in ein weiteres neoliberales Projekt, nach der Einkommenssteuerreform und den Hartz-Reformen des Jahres 2004 fehlte noch das konstitutionalisierte Kreditaufnahmeverbot für den Staat. Die Tragweite des Beschlusses kann wirtschaftsgeschichtlich gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die gesamtwirtschaftlich einzig sinnvolle Regelung für den öffentlichen Kredit, die flexible Bindung der staatlichen Kreditaufnahme an die Investitionen („goldene Regel“), wurde ersetzt durch eine starre, die Gesamtwirtschaft lähmende, wachstumsfeindliche Finanzpolitik. Die allerletzten Reste des Keynesianismus, fixiert im GG als Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (1967), wurden beerdigt. Ein Uralttraum des Marktradikalismus (James M. Buchanan, „der Erfinder“ der Public Choice Theory und Pinochet-Berater, gilt als Vater der Schuldenbremse) wurde wahr, getragen auf der neoliberalen Woge der Zeit wähnte sich die Sozialdemokratie auf der Höhe der Zeit.

Zurück zum behaupteten Zusammenhang von Finanzkrise und Verankerung der Schuldenbremse im GG: Der Zusammenhang wird jetzt behauptet, weil manchem langsam dämmert, welcher wirtschaftspolitische Unfug damals in Praxis umgesetzt wurde, angeblich nur, um beim nächsten Mal, der nächsten Krise, Schlimmeres zu verhüten und den Staat zu mehr Sparsamkeit zu bringen. Tatsächlich ist es aber so, dass wirtschaftliche Vernunft es damals geboten hätte, den Tritt auf das Gaspedal bei der Kreditaufnahme 2008/2009 als einzig möglichen Ausweg aus der Weltfinanzkrise darzustellen und die seither aufgelaufenen höheren Schuldenstände als Folge (nicht Ursache) der Finanzkrise politisch zu kommunizieren. Der Staat war der einzige Retter in der Finanzkrise, ihn danach durch die Konstitutionalisierung zu fesseln, stellt die Sache auf den Kopf.

Der aktuelle Niedergang der Sozialdemokratie wird, wenn er selbstkritisch reflektiert wird, viel zu sehr auf die Hartz-Reformen zurückgeführt – und damit verengt. Dass sich die Sozialdemokratie mit ihren fiskalpolitischen Maßnahmen von 2004 (Senkung der Einkommenssteuer), 2008 (Kreditaufnahmeverbot im GG) und 2010-15 (Tolerierung der Austeritätspolitik in Europa) vollständig von der Wirtschaftspolitik verabschiedet hat, taucht nicht einmal mehr am Rande auf. In Anknüpfung an die Diskussion um die Hartz-Reformen die Sozialpolitik allein in den Mittelpunkt zu rücken, verkennt sowohl die gewaltigen Probleme der Zukunft als auch die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Fiskalpolitik. Dass die letzte verbliebene Galionsfigur aus der neoliberalen Schwarmzeit jetzt auch noch den Vorsitz der Partei übernehmen will, gehört zu den schlechtesten aller Treppenwitze, die man sich über die Sozialdemokratie erzählen kann. Oder passen andere Metaphern besser: der Bock wird zum Gärtner, Frechheit siegt?