Die Fixierung auf wirtschaftspolitische Regelbindung der Deutschen. Erzählung von einem Mythos

Gemeinhin wird der deutschen Wirtschaftspolitik, aber auch der Politik allgemein attestiert, sie beruhe ihrem Wesen nach auf dem Prinzip der Regelbindung. Im Bereich der Wirtschaftspolitik gilt es geradezu als Markenkern des Ordoliberalismus, dass er regelgebundener Wirtschaftspolitik den Vorzug vor diskretionären Eingriffen gibt. Regeln gehören zum Ordnungsrahmen und der bildet das Kerngerüst der Wirtschaft, innerhalb dessen sich dann die Marktgesetze entfalten sollen. Der Regelbindung gegenüber steht auf der Skala wirtschaftsphilosophischer Postulate die diskretionäre Wirtschaftspolitik, wie sie insbesondere die angelsächsische Welt, aber auch große Teile Europas kennzeichnet.

Zuletzt haben Brunnermeier u.a. in ihrem Buch („Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen“, 2018) auf die fundamentalen Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Wirtschaftspolitik hingewiesen. Für Deutschland halten sie fest: „Eine Konzentration auf die rechtlichen, moralischen und politischen Grundlagen freier Märkte mit vereinbarten Regeln, bei denen es sich um Verträge, Gesetze, gemeinsame Absprachen oder Vereinbarungen handeln kann“ (S. 89). Für Frankreich konstatieren sie demgegenüber, dass Regeln flexibel auszulegen seien und dass sich der Staat nicht durch Regeln einschränken sollte (S. 99).

Ganz oben, an der Spitze der Pyramide der wirtschaftspolitischen Axiome der deutschen Politik steht nicht die Regelbindung. Diese Annahme ist grundfalsch. Sie ist falsch aus zwei Gründen. 1.) Ganz oben steht, wenn man es tugendphilosophisch formuliert, das bereits aus Erhards Zeiten bekannte Maßhalten oder Gürtel-enger-schnallen, wenn man es fachlich formuliert, die Stabilitätsorientierung und Sparpolitik. Von hier aus strahlt alles auf nachgeordnete Ziele und Zwecke: die Eroberung von Wettbewerbspositionen, die Kreditfeindlichkeit, die Anti-Wachstumspolitik. Ob mit oder ohne Regelbindung, alles wird diesem heiligen Nukleus deutscher Wirtschaftspolitik subordiniert. 2.) Die Regelbindung für sich genommen, wird von der deutschen Politik längst nicht in dem Maße befolgt, wie das meist in den Selbsteinschätzungen und wissenschaftlichen Fremdeinschätzungen unterstellt wird. Im Gegenteil. Zugespitzt ließe sich die These aufstellen: Die Deutschen befolgen und konstruieren Regeln, die ihnen gefallen, sie ignorieren und verletzten Regeln, die ihnen missfallen. Darum soll es im Folgenden anhand dreier Beispiele gehen.

 

1

Das erste Beispiel handelt von Verteidigungspolitik. Dabei wird konsequent von der Frage abstrahiert, ob eine Steigerung des Wehretats in dieser Zeit eine angemessene Reaktion auf die internationalen Krisen ist oder ob es nicht sinnvoll wäre statt den Verteidigungsetat den entwicklungspolitischen Etat merklich aufzustocken. Es geht ausschließlich um die Frage der Regelbindung. Vorweg noch ein Hinweis zur gegenwärtigen Aufrüstungspolitik der NATO: Für das Jahr 2017 betragen die Militärausgaben der NATO-Länder 901,5 Mrd. US-Dollar, die Russlands 66,3 Mrd. US-Dollar. Die Schlussfolgerungen liegen auf der Hand. Soviel zur Vorrede.

Deutschland hat 2014 auf dem NATO-Gipfel in Wales ein Dokument unterschrieben, das besagt, dass der Wehretat eines jeden NATO-Mitglieds innerhalb von zehn Jahren auf mindestens 2 Prozent des BIP steigen soll. Zu diesem Zeitpunkt lag der Wert bei etwas mehr als 1 Prozent. Was ist in den Folgejahren passiert? Nicht viel. Es gab mäßige Steigerungsraten, 2018 beträgt der Wert 1,24 Prozent. Die mäßigen Steigerungen und der offensichtliche Unwille, seinen Verpflichtungen nachzukommen, resultieren nicht daraus, dass plötzlich die Friedensengel ins Kanzleramt eingezogen sind, nein die Verweigerung geht auf die mit ideologischer Verstocktheit verfolgte Politik der Schwarzen Null zurück. Als Nebenergebnis kann festgehalten werden: Das für Konservative eigentlich ureigenste Terrain von Politik, die Sicherheitspolitik, wird einem wirtschaftspolitischen Dogma untergeordnet. Das ist Ausdruck von der Besessenheit, mit der dieses Dogma verfolgt wird.

Das ist aber nicht der Hauptaspekt. Der eigentliche Clou, wie Deutschland mit paraphierten Regeln umgeht, kommt noch. In der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes (bis 2022) ist, von diesem Jahr aus gesehen, vorgesehen, dass der Wert stagniert bzw. leicht fällt. Danach, also in der nächsten Legislaturperiode schnellt er dann hoch – auf die geforderte Zahl von 2 Prozent? Mitnichten, er schnellt hoch auf 1,5 Prozent! Hinter diesen vermeintlichen Miniaturzahlen verbergen sich zweistellige Milliardenbeträge, vom heutigen Stand bis zum Endziel 60 Milliarden EUR. Das vereinbarte Ziel wird also schlicht ignoriert.

Wie ist das zu deuten? Die Deutschen verfügen über ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten der Vermeidung von Regeln. Sie sind nicht nur die Weltmeister der Regelgenerierung, sondern auch die Weltmeister der Regelumgehung. Eine kleine Auswahl aus dem bunten Strauß der Ausreden bei der NATO-Regel: die philosophische Ausrede (Was sind schon Zahlen, Qualität geht vor Quantität), die ausweichende Ausrede (Entwicklungshilfe ist besser als Militärausgabe), die „Ausrede“ des Wegduckens (einfach weitermachen, möglichst nicht entdeckt werden) usw. usf. Theoretisch wird das Free-rider-Verhalten genannt.

Das NATO-2-Prozent-Ziel ist zwar eine einfache, aber keine harte Regel. Sie ist nicht als bindende Vorschrift formuliert und nicht sanktionsbewährt, besitzt auch keinen Regeldurchsetzer. Diese Art von Regeln laden förmlich zum Regelbruch ein. Fest steht, dass die Deutschen die Regel nicht mögen, entsprechend verfahren sie. Am Ende fragt sich dann, warum man die Paraphe unter das einschlägige Dokument gesetzt hat.

 

2

Eine der wichtigsten Regeln für eine Währungsunion ohne Wirtschafts- bzw. Fiskalunion, also für den europäischen Fall, zielt auf einen mittelfristigen Ausgleich bei den Handelsbilanzen der Teilnehmerstaaten. Da die Möglichkeiten der Wechselkurspolitik in einer Währungsunion nicht mehr zur Verfügung stehen, Abwertungen zum Verlustausgleich der Wettbewerbsposition nicht mehr möglich sind, sind Länder mit dauerhaften Defiziten zu inneren Abwertungen (Lohnsenkungen, Sparpolitik) gezwungen, während Überschussländer ihre Wettbewerbsposition weiter ausbauen.

Grundsätzlich hat das die EU erkannt und 2011 ein Regelwerk („Sixpack“) beschlossen, innerhalb dessen eine Reihe von makroökonomischen Größen in den Mitgliedstaaten erhoben und interpretiert werden. Die mit Abstand bedeutendste Größe betrifft die Leistungsbilanz. Die präzise Regel lautet hier: Die durchschnittlichen Überschüsse über die letzten drei Jahre sollten den Wert von 6 Prozent des BIP nicht überschreiten, ansonsten läge ein übermäßiges Ungleichgewicht vor, das ein Verfahren für den betreffenden Staat nach sich zöge. Das Verfahren, durchgeführt durch die Kommission, abgeschlossen durch den Ministerrat, sieht einen milden ersten Teil vor (Warnung) und einen schärferen zweiten Teil (Korrekturplan bis hin zu Sanktionen, allerdings nur minimal). Im Defizitfall lautet die Grenze 4 Prozent des BIP.

Obwohl es bei dem Regelwerk der gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichtsverfahren um zentrale realwirtschaftliche Größenordnungen für die Währungsunion geht, hat man hier die Form der schwachen Regel gewählt. Zu dem Ungleichgewichtsverfahren gehört ein schwacher, machtloser Regelexekutor, die Kommission, die ein zahnloser Tiger ist und im Fall der Sanktion sitzt der Regelverletzter noch im entscheidenden Gremium, dem Ministerrat, im Fall der Überschussposition ist die Grenze absurd hoch, es gibt keine Sanktionen, keine Automatismen und Zwänge.

Außenbeitragsquote

Der Blick in die Realität zeigt nun Folgendes. Die bis in die Frühzeit zurückgehende Tendenz der merkantilistischen Überschussbildung setzt sich gerade auch mit Beginn der Währungsunion fort. Seit 2006 überschreitet Deutschland regelmäßig die Marke von 6 Prozent des BIP, so dass eigentlich längst ein „übermäßiges Ungleichgewichtsverfahren“ angestanden hätte. Die Kommission, wohlwissend, dass der Exportüberschuss zu den edelsten und unantastbaren Zielen deutscher Wirtschaftspolitik gehört, will sich nicht die Finger verbrennen und sich mit dem europäischen Hegemon anlegen. Also liegt die Regel auf Eis.

Und was macht der Regelbetroffene? Die Rechtfertigungen für den Regelbruch sind wieder vielfältig, mehr oder weniger dumm. Hier nur einige, wir beginnen auf der Skala bei bodenlos dumm: die ganze Wirtschaftswelt besteht nur aus Mikroökonomie, Makroökonomie gibt es gar nicht: die Handelsbilanz und auch Exportüberschuss seien das Ergebnis millionenfacher Einzelentscheidungen, die ja nicht beeinflussbar seien, letztlich sei die Qualität deutscher Produkte einfach zu gut. Fast noch dümmer ist der Hinweis auf das Grundgesetz, das verbiete, dass die Tarifparteien von außen in ihren Lohnverhandlungen beeinflusst werden. Dummdreist hat der damalige Bundesfinanzminister die Kritik pariert: „Staatliche Eingriffe in die Leistungsbilanz kommen nicht in Frage“ (2017). Seit etwa 2014 räumt die Bundesregierung ein Problem ein, spielt aber die Unschuld vom Land, da man auch nicht wisse, was zu tun sei.

Man sieht, auch diese Regel mögen die Deutschen nicht. Man ist zwar international vollständig isoliert, in letzter Konsequenz wird die Regel aber einfach ignoriert. Woher diese Hartleibigkeit? Exportüberschüsse gehören, neudeutsch formuliert, zur wirtschaftspolitischen DNA Deutschlands. Sie sind das Ergebnis des Maßhaltens (bei Lohnabschlüssen, Konsum und Staatsausgaben), was zusammen mit dem Arbeiterfleiß und der Arbeiterproduktivität die Wettbewerbsvorteile auf den internationalen Märkten bringt.

 

3

Das dritte Beispiel für das Regelverständnis der Deutschen betrifft die Verletzung des Stabilitätspakts 2004 durch die Schröder-Regierung, zusammen mit der französischen Regierung. Deutschland und Frankreich hatten seit mehreren Jahren das Defizitkriterium des Maastrichter Vertrages verletzt und sahen sich infolgedessen einer Konfrontation mit der Kommission, der Regelhüterin, ausgesetzt. Über längere Zeit kam es zu Auseinandersetzungen mit den beiden Ländern. Schröder argumentierte u.a., dass der Pakt nicht „dumm“ sei, sondern nur „auslegungsfähig“ und „flexibel“ (Sonderfaktoren seien in Rechnung zu stellen). Nebenbei: in dieser Zeit verletzte Deutschland auch die inländische Regel, dass die Kreditaufnahme die Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten dürfe. Die Gralshüter der Stabilität in Deutschland (neoliberale Wissenschaft, Presse) beharrten auf strikter Anwendung des Pakts, inklusive möglicher Sanktionen. 2006 leiteten Kommission und Ministerrat tatsächlich ein „verschärftes Defizitverfahren“ ein, so dass ein Machtkampf zwischen supranationalen Institutionen und nationalen anstand. Da Deutschland und Frankreich aber im Folgejahr, 2007, wieder in die Stabilitätsspur kamen, glätteten sich die Wogen. Der Pakt wurde dann zu dem jetzigen, selbst für Experten kaum mehr überschaubaren Monstrum umgearbeitet.

Ein statisches Regelwerk wie der Stabilitätspakt ist völlig ungeeignet für eine dynamische Wirtschaft, die sich v.a. durch Konjunkturzyklen auszeichnet. Das wurde auch in der damaligen Situation klar, ist hier aber nicht das Thema. Die Auseinandersetzung um den Stabilitätspakt zeigte, dass große Nationalstaaten der supranationalen Kommission in jeder Hinsicht überlegen sind und demzufolge diese Überlegenheit auch ausspielen. Die Kommission hat weder die Macht noch die Kompetenz, die Regel durchzusetzen. Im Stil der damaligen Auseinandersetzung drückte sich diese Überlegenheit auch aus. Die Rollen von Herr und Knecht waren klar verteilt. Die deutsche Seite hat aus wirtschaftspolitischen Gründen auch nicht davor zurückgeschreckt, das Heiligtum des Stabilitätspakts phasenweise außer Kraft zu setzen.

Wenige Jahre später, als die Finanzkrise über Europa wie ein Tsunami rollte, war auch keine Rede mehr vom Stabilitätspakt. Alle Länder der Eurozone, einschließlich Deutschlands, erhöhten ihre Kreditaufnahme erheblich (20 Prozent und mehr). Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte der Stabilitätspakt überarbeitet werden müssen und die Grenzwerte erheblich nach oben gesetzt werden müssen. Das Gegenteil geschah. Der Anführer bei der Bearbeitung der Eurokrise, Deutschland, setzte eine ganz neue informelle Regel auf und die lautete, dass die durch die Finanzkrise bedingte erhöhte Kreditaufnahme ganz schnell zu vergessen sei und ab jetzt wieder und sofort die üblichen Stabilitätskriterien gelten sollten. Daraus resultierten dann die schier irren Übertreibungen in der öffentlichen Diskussion um die Maßlosigkeit der Überschuldung mancher Staaten und die Forderung, dass jetzt durchgegriffen werden müsse. Auch so gehen die Deutschen mit Regeln um.

 

4

Die Liste der Regelverletzungen seitens Deutschlands ließe sich noch um etliche weitere Beispiele fortsetzen. Hier nur noch zwei weitere, eines aus der Geschichte, eines aus der Gegenwart. Als 1967 das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verabschiedet wurde, schien der Keynesianismus endlich auch in der damaligen Bundesrepublik angekommen zu sein. Die in dem Gesetz enthaltene Regel, auf das „außenwirtschaftliche Gleichgewicht“ zu achten und die Außenhandelsbilanz notfalls auszugleichen, wurde in der Folgejahrzehnten konsequent ignoriert. Schon damals bildet sich das Motto aus: Deutsche befolgen nur die Regeln, die ihnen passen. Zweites Beispiel: Als in der Gründungsphase der EZB die Regel festgelegt wurde, geldpolitisches Ziel der EZB solle eine Inflationsrate nahe bei 2 Prozent sein, wurde das im stabilitätsbewussten Deutschland allseits begrüßt. Als die EZB auf der Basis dieser Regel seit 2012 ihre Geldpolitik mit den Niedrigzinsen und dem Ankaufprogramm von Staatspapieren neueinstellte, um deflationären Gefahren vorzubeugen, verfielen die findigen Deutschen auf allerlei originelle Ideen. Weil ihnen in dieser Situation wichtiger als alles andere war, dass der Zins angehoben wird (aus verschiedenen Gründen), schlugen einige der Ideologen vor, die Regel doch einfach auf 0 Prozent Inflation herunterzuschrauben, sodass die Interventionen überflüssig wären. Andere wiederum traten den Nachweis an, dass die Inflation ja gar nicht richtig gemessen würde und in Wirklichkeit (unter Einbezug der Vermögenspreise) viel höher liege. Und dergleichen mehr.

Geschichtlich passt die Regelbindung nicht so ganz in den wirtschaftsliberalen Grundton deutscher Politik. Dem reinen Wirtschaftsliberalismus Hayekscher Provenienz bspw. ist die Regelbindung – wie überhaupt der gesamte Ordoliberalismus – ziemlich fremd. Schon eher lässt sich die Regelbindung in die Gestalt des autoritären Staates, wie er weite Teile der deutschen Geschichte prägte, einpassen, was im übrigen mentalitätsgeschichtlich auch ganz bequem in das Kataster der berühmten deutschen Sekundärtugenden passt. Der oftmals behauptete Zusammenhang von Regelbindung und Föderalismus ist auch nicht ohne weiteres evident. Die zweifellos föderalistischen USA z.B. kommen in ihrer Wirtschaftspolitik weitgehend ohne Regeln gegenüber den untergeordneten Bundesstaaten und für das Zentrum aus, hier tun es einige wenige Gebote und Verbote. Über die Idee, sich auf gesamtstaatlicher Ebene eine Regel (Selbstbindung) wie die Schuldenbremse zu geben, wird dortselbst wahrscheinlich nicht einmal gelächelt, für so absurd wird diese Regel gehalten.

Die bis zu einem gewissen Grade zu konstatierende Regelfixierung der Deutschen gilt fast ausschließlich für die Stabilitätskultur. Um die Stabilitätskultur herum zeichnen sich die Deutschen als außerordentlich erfindungsreich aus. Flexibler sind sie bei anderen Regeln. In der Fixierung auf Regeln drückt sich ein tiefes Misstrauen gegenüber Staat, Politik und Demokratie aus. Auch das lässt sich geschichtlich einordnen. Der Regeltyp, den die Deutschen präferieren, ist der Typ der Selbstbindung. Wirtschaftspolitische Handlungsweisen, Ziele und Strategien werden dem politisch-demokratischen Prozess entzogen. Das wiederum fügt sich wie von selbst in die lange Tradition und Kontinuität deutscher Geschichte ein.

– Als Fazit bleibt: Die Redeweise von der deutschen Regelfixierung ist viel zu undifferenziert. Mit Regeln, die den Deutschen nicht passen, gehen sie um wie Freerider, phantasievolle Regelausleger und selbstbewusste Regelverletzer.

Von Meseberg zum EU-Gipfel. Zum Stand der Eurozonenreform

Es sollte der zentrale Gipfel zur Reform der Eurozone werden. Im Dezember 2017 auf den Weg gebracht, sollten im März 2018 erste Ergebnisse vorliegen, was nicht geschah, endlich aber auf dem Gipfel Ende Juni des Jahres war dann die große Eurozonenreform angekündigt. Wenn nicht ganz die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion, so doch die Wege dorthin sollten in trockene Tücher kommen. Macrons europapolitische Anregungen von der Sorbonne-Rede sollten endlich konkrete Gestalt annehmen, und nach langer Suche und langen Wochen und Monaten des Wartens, man könnte auch sagen, des Hinhaltens, hatte die Kanzlerin in einem Interview sogar eine Antwort darauf gefunden, eine zwar höchst bescheidene, aber immerhin. Die zuständigen Arbeitsgruppen der Regierungen hatten sich ausgetauscht und nach Kompromisslinien sondiert. Und als am Ende Merkel und Macron sich in Meseberg ausgetauscht und auf ein Kommuniqué geeinigt hatten, schien einer Einigung auf dem Brüsseler EU-Gipfel am vergangenen Wochenende nichts mehr im Wege zu stehen. Viel „sollte“.

Aber: Europäische Innenpolitik funktioniert nicht nur nach Plan, mittlerweile funktioniert sie wie nationale Innenpolitik und greift aktuelle Zuspitzungen auf, so dass geplante Themen an der Tischkante herabfallen. Der einzige Unterschied zu nationaler Innenpolitik ist noch der, dass sie nicht Tag für Tag, kontinuierlich abgearbeitet werden kann, eine Folge davon, dass sie intergouvernemental und nicht supranational betrieben wird. Jedenfalls wurde die Eurozonenreform sang und klanglos von der Agende genommen und die Flüchtlingsfrage rückte statt ihrer auf die Agenda.

Verschwörungstheoretisch ließe sich mutmaßen, dass die Sache von deutscher Seite aus perfekt terminiert, orchestriert und inszeniert war. Statt der Eurozonenreform stand die Migrationsfrage im Mittelpunkt und für erstere blieben in der separaten Schlusserklärung nur ein paar magere Sätze – und das war gezielte deutsche Politik, da man auf Zeit spielen muss. Der Hintergrund zu dieser verschwörungstheoretischen These lautet: Im nicht mehr ganz neuen Bundestag lässt sich keine Mehrheit mehr für eine fundamentale Eurozonenreform organisieren, da eine solche eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern würde.

Zur Erläuterung: In ihrem neueren Demokratiefuror haben die Deutschen in den vergangenen Jahren das sogenannte Integrationsverantwortungsgesetz (2009), ein bigotter Begriff, verabschiedet. Dieses in der EU einzigartige Gesetz schreibt vor, dass Gesetze, die auf der Flexibilitätsklausel im AEUV (Artikel 352) beruhen, einem Parlamentsvorbehalt mit einer hohen Hürde unterliegen. Das Abstimmungsverhalten Deutschlands im Rat hängt demzufolge davon ab, ob zwei Drittel der Stimmen im Bundestag und zwei Drittel der Stimmen im Bundesrat für einen Vertrag zustande kommen. Der ESM-Vertrag basiert auf dieser politisch-rechtlichen Konstellation. Und ein Eurozonenbudget, auch „im unteren zweistelligen Bereich“, und die Transformation des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) nicht? Unwahrscheinlich. Für die Arbeitsweise des ESM gilt, dass jede Spesenabrechnung und jede Kredittranche für Griechenland durch den Bundestag gehen muss.

Schaut man sich diesen Bundestag an, zeigt sich Folgendes: Selbst eine Schmalspurreform, die „nur“ eine absolute Mehrheit, die Regierungsmehrheit, erforderte, käme nicht mehr zusammen, da mittlerweile von einer faktischen Mehrheit von Bundestagsabgeordneten auszugehen ist, die europaskeptische bis europafeindliche Positionen vertritt. Wie dieser Tage deutlich wurde, hat die die große Mehrheit der CSU den verzweifelten Übergang in den Rechtsradikalismus vollzogen. Für die CDU geht man davon aus, dass über ein Viertel der Fraktion (200 Mandate) zu den Europaskeptikern gehört. Nimmt man alles zusammen – die offen Rechtsradikalen von der AfD, die Nationalliberalen von der FDP, die Nachfolgestahlhelmer in der CDU und die Nationalkommunisten von der Linken –, dann dürfte das Jahr 2018 eine knappe absolute Mehrheit von Europaskeptikern und Europafeinden dem Bundestag beschert haben.

Die einseitige Erklärung des Generalsekretariats des Rates im Namen des Euro-Gipfels – das ist der Rat im Format der Eurogruppe – vom 29. Juni 2018 enthält folgende Punkte:

  1. Das „Bankenpaket“ (u.a. regulatorische Vorschiften für Banken, ausreichend Kapital für Verlustpuffer bereitzuhalten) gilt als verabschiedet, es muss noch durch die zwei gesetzgeberischen europäischen Instanzen gehen. Die Aufforderung, Verhandlungen über ein Europäisches Einlagensicherungssystem (European Deposit Insurance Scheme, EDIS), die dritte Säule der Bankenunion, aufzunehmen. Der Klartext dazu: Deutschland, das ein solches Reglement mit dem Vorwand der vielen faulen Kredite, die in den Kellern italienischer Banken lagern, rundheraus ablehnt, weil ihm die deutschen Sparkassen im Nacken sitzen, hat sich durchgesetzt und lässt das Projekt auf die lange Bank schieben.
  2. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) wird die gemeinsame Letztsicherung für den einheitlichen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund, SRF) für in die Insolvenz gehenden Banken, ein Teil der zweiten Säule der Bankenunion, bereitstellen (zum Verständnis: er ersetzt in Deutschland z.B. die Soffin, Volumen: rund 60 Mrd. EUR). Die Details dazu wie auch die Modalitäten der Weiterentwicklung des ESM zu einem EWF sollen bis zum Dezember 2018, dem nächsten Euro-Gipfel ausgearbeitet werden. Klartext: Ein konkreter Reformschritt (SFR) kann verbucht werden, ansonsten: lange Bank.
  3. In der Euro-Gruppe werden alle weiteren Aspekte erörtert. Klartext: Dahinter versteckt sich vielleicht auch das Eurozonenbudget, ansonsten lange Bank.
  4. Auf der Tagung des nächsten Euro-Gipfels wird all das weiter besprochen. Dazu gibt es keinen Klartext, das ist wirklich als eigener Punkt gelistet.

Folgt man der obigen Verschwörungstheorie, dann ist die deutsche Mission – fiktives Flüchtlingsproblem als Ablenkungsmanöver, bedauerliche „lange Bank“ für die Reform der Eurozone als Konsequenz – perfekt gelungen.

Die Folie, vor deren Hintergrund das Ergebnis des Gipfels ausgeleuchtet werden muss, hält Forderungen wie „Erneuerung Europas“ (Macron an der Sorbonne, 2017), „Eurozonenbudget“ („unverhandelbar“, Macron) in mehreren Prozent des BIP, „Eurozonen-Finanzminister“ (Macron), „Weiterentwicklung des ESM zu einem EWF“ (Koalitionsvertrag, 2018), neue Eigenmittel in Form von Steuern (Digitalsteuer, Transaktionssteuer, Anteile an der Körperschaftssteuer) vor. Zur Verdeutlichung: Die ursprüngliche Forderung Macrons von einem Eurozonenbudget von 300 Mrd. EUR ist bei Merkel auf eine Größenordnung von „im unteren zweistelligen Bereich“ geschrumpft. Nimmt man dies als Maßstab, dann sind von Macrons Vorschlägen etwa 10 Prozent übriggeblieben und nicht einmal die können als gesichert gelten.

Aus all diesen Vorschlägen wurde nichts, weil – ja, weil der europäische Hegemon ein klitzekleines innenpolitisches Problem mit der Rechtsradikalisierung einer regionalen Koalitionspartei hat und das Amt der Kanzlerin auf dem Spiel steht. Das herrscht dem Betrachter geradezu zwei Fragen auf: 1.) Sind die auf eine Reform der Eurozone dringenden Staaten, insbesondere Frankreich und Italien, so dumm, dass sie dieses Spielchen einfach so mitmachen? Und bzw. oder: 2.) Was hat die von großer europäischer Solidarität bei dem EU-Gipfel profitierende Kanzlerin den reformwilligen (und abhängigen) Eurostaaten und den rechtsradikalen Visegrád-Staaten inklusive ihrer alten Habsburger Mutter alles zugesagt?

Man weiß nicht, welches die zielführende Frage ist. Die zweite hätte jedenfalls einen gewissen Charme und ließe ein wenig Hoffnung, dass im Wege der „Quersubventionierung“ die Deutschen zu Zugeständnissen in der europäischen Wirtschaftspolitik (z.B. Abkehr von der Austeritätspolitik und Korrektur bei den Handelsüberschüssen) bewegt werden können. Die Zusagen an die reformwilligen Eurostaaten können aber nicht substantiell gewesen sein. Davor steht nicht nur die europaskeptische bis europafeindliche Sperrminorität im Bundestag, sondern auch der Riss, der durch die Eurogruppe geht. Die Niederlande als Anführer der Reformunwilligen Nordstaaten haben bereits deutlich gemacht, was sie von dem Eurozonenbudget halten – nichts.

Die Kanzlerin hat sich in ihrer Europapolitik vollständig verfahren, sie hat die verschiedenen Krisenhefte nicht mehr in der Hand. Deutsche Kanzler sind am Anfang ihrer Amtszeit in ihrem Denken und Handeln noch vorwiegend national gepolt, erst später lernen sie die Gestaltungsmöglichkeiten in der Europapolitik kennen und mutieren dann in einen europäischen Politikmodus. Bei Merkel hatte sich diese Beobachtungserkenntnis auch so vollzogen, nur hat genau in der Übergangsphase von Nationalem zu Europäischem die falschen Berater an ihrer Seite und Fehler über Fehler begangen.

Die Mutter aller heutigen europäischen Krisen, die sich damit als Folgekrisen entpuppen, kam für Merkel also zu früh. Zunächst zur Mutter aller Krisen. Als die Große Finanzkrise im Herbst 2008 nach dem Lehman-Crash Mitte September 2017 mit irrwitziger Geschwindigkeit in Europa landete, ergriffen der damalige französische Staatspräsident und die EU-Kommission die Initiative und versuchten eine gemeinsame europäische Lösung mit Investitionen und Bankenrettungen auf den Weg zu bringen. Deutschland antwortete ebenso kühl wie bodenlos dumm-provinziell. „Ein jeder kehr vor seiner Tür…“, tönte es aus dem CSU-geführten Wirtschaftsministerium. Die Kanzlerin, noch ganz im nationalen Politikmodus der Anfängerjahre, blockte alle europäischen Lösungen im Verein mit der SPD ab und setzte auf die nationale Karte.

War man bei den Krisenbekämpfungsmaßnahmen 2008/09 noch, wenn auch verhalten, keynesianisch inspiriert – nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“ –, erhielt die sich entwickelnde Matrix der Krisenbekämpfung 2010 mit der Griechenlandkrise ihre kongeniale Ergänzung durch den knochenharten Neoliberalismus, bestehend aus Austerität und Lohnsenkung. Beide Elemente, den Nationalismus aus 2008 und der Neoliberalismus aus 2010, zusammengenommen hätten eine so wunderbare Kombination für das Europa der Zukunft ergeben: den Wettbewerb der Nationen innerhalb der Gemeinschaft. So oder so ähnlich waren die Vorstellungen im Kanzleramt und im Finanzministerium für das europäische Leitbild der Zukunft.

Parallel dazu kam in diesen Jahren die Rede vom neuen deutschen Hegemon hinzu, bestärkt insbesondere durch das rüde, keinen Widerspruch duldende und jeden Kompromiss – die europäische Methode schlechthin – verweigernde Auftreten der Deutschen bei der Programmierung der Memoranda of Understanding für die Programmländer, es galt die ebenso fixen wie bornierten neoliberalen Grundideen im Praxistest zu erproben. Als Hegemon gerierte man sich auch im Nationenwettbewerb, indem man sich durch die inländische Spar- und Maßhaltepolitik bei den Löhnen eine Wettbewerbsposition nach der anderen eroberte und damit explodierende Handelsüberschüsse erwirtschaftete.

Auf dem Höhepunkt angelangt war diese Politikmatrix im Sommer 2015. Griechenland hatte man fast in die Steinzeit zurückgewirtschaftet und konnte dem Land locker mit dem Rauswurf aus der Eurozone drohen (Schäuble) – gegen jede vertragliche Grundlage und gegen jeden europäischen Geist. Die kleinen Programmländer hatte man als größter Geldgeber an der Kandare und die großen folgten den Deutschen in ihrem national-neoliberalen Politikmodell wie halb bewusstlose Dackel. Im Sommer 2015 war alles so schön. Im Kanzleramt und im Finanzministerium muss man sich wie die Götter von Europa gefühlt haben.

Und im Herbst 2015 kam alles anders. Zufall? Kaum. Die Geschichte des Jahres 2015 mit dem dramatischen Wechsel innerhalb weniger Wochen ist längst noch nicht auserzählt. Deutschland, die Kanzlerin, die Bundesregierung befanden sich im Sommer 2015 auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht: Berlin entschied die Wirtschaftspolitik für den gesamten Kontinent, mindestens der Eurozone, Berlin entschied über die Mitgliedschaft in der Eurozone und Berlin war die zentrale Adresse für alle europäischen Fragen. Kam dann das Gefühl auf „Alles ist möglich“? Wurde die Substanz der hegemonialen Position überschätzt? Sollte dem wirtschaftspolitischen Zuchtmeister die gnädige Samariterin folgen?

Alle Nachfolgekrisen, die der Mutter aller europäischen Krisen folgten, hatten ihren Ausgangspunkt in den Jahren 2008-2010, in der neoliberal-nationalistischen Matrix bei der Bekämpfung der Finanzkrise und der Eurokrise. Die nationalistische Eruption in fast ganz Europa, im Westen wie im Osten, der Brexit, die Migrationsbewegungen, Pauperisierung und Arbeitslosigkeit in vielen Ländern, das jämmerliche Wachstum in der Eurozone seit 2016, die tiefen Spaltungen in der Eurozone und tiefen Spaltungen in der Europäischen Union – alle diese Nachfolgekrisen sind das Ergebnis der geschilderten Matrix.

Was die Auflösung dieses wabernden Krisenfeldes so schwer macht, ist weniger die eine oder anderen Entscheidung, die getroffen wurde, für sich genommen, es ist vielmehr die Art und Weise, die Methode, wie diese Entscheidungen getroffen wurden. Das, was Deutschland seit 2008 vorexerziert hat, war: 1.) Nationale Alleingänge haben Priorität (Eroberung von Wettbewerbsvorteilen durch Lohnmäßigung und Sparpolitik, Krisenbekämpfung von 2008/09). 2.) Ideologische Positionen werden gegen die anderen Länder (Programmländer, aber auch das gesamte Eurozonen-Gebiet) ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt (Wirtschaftspolitik ab 2010). 3.) Die essenziellste aller Methoden europäischer Politik wurde ausgerechnet auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik außer Kraft gesetzt und knüppelharte Austerität oktroyiert. 4.) Als die Redeweisen vom neuen Hegemon in Europa unmittelbar nach Krisenbeginn einsetzten, war man in Berlin nicht gewarnt, es schrillten nicht die Alarmglocken, sondern man demonstrierte im Gegenteil geradezu hegemoniale Attitüden, gepaart mit Gesten des Erwischtwordenseins und koketter Zurückweisung.

Gemessen an diesen fatalen Fehlern war die Position des Rest-Europas auf dem Gipfel mehr als erstaunlich. Giuseppe Conte drohte, Emanuel Macron war verstimmt, die Kanzlerin triumphierte ob der europäischen Solidarität zur Rettung ihres Amtes.

Eine fundierte Analyse zur makroökonomischen Gesamtsituation in der Eurozone. Nicht zur Eurokrise. Jörg Bibow und Heiner Flassbeck, „Das Euro-Desaster. Wie die deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt“

Im Frühjahr des Jahres 2010 war die Eurozone im Grund schon über die durch die große Finanzkrise von 2007/08 ausgelöste Finanz- und Wirtschaftskrise hinweg. Auf einem absoluten Nebenschauplatz braute sich dann in einem kleinen Euroland doch noch ein kleines Unwetter zusammen. Ein lächerliches Liquiditätsproblem. Das hätte bei einer besonnenen, europafreundlichen, vorausschauenden Politik mit einigen wenigen politischen Gesten seitens der entscheidenden Akteure rasch aufgelöst werden können. Bekanntlich kam es anders. Das an dieser Stelle einsetzende Narrativ von „mächtigen Finanzmärkten“, die im Frühjahr 2010 unruhig wurden und einen Anstieg griechischer Zinsen auf Wucherniveau erzwangen, gehört eigentlich in das Panoptikum skurriler wirtschaftspolitischer Legenden. Die „mächtigen Finanzmärkte“ mit ihren Agenten und Finanzinstituten, von denen hier die Rede ist, waren wenig mehr als ein Jahr zuvor auf der Größe eines Fingerhuts, all überall versanken sie entweder im Abgrund oder sie durften Blicke in schwindlige Tiefen dorthin wagen. Wenn für 2010 also ein Narrativ erzählt werden soll, dann lautet es eher so, dass die Politik durch irgendwelche Aktionen den am Boden liegenden Finanzmärkten wieder auf die Beine helfen musste. Und genau dafür war die Griechenland-Krise in mehrfacher Hinsicht perfekt geeignet. Die Entscheider im deutschen Kanzleramt und im Finanzministerium hatten damals die Gunst der Stunde blitzschnell erkannt und fächelten die Krise an, um einen ordnungspolitischen Systemwechsel herbeizuzwingen. Zunächst mussten die griechischen Zustände der Schuldenberg, den sie verursacht hatten, skandalisiert werden. Der entscheidende Wind gelang ihnen dann durch die mehrere Monate dauernde Inszenierung des griechischen Staatsbankrotts. Erst mit dem Schuldenschnitt sprang der Funke auf die anderen späteren Programmländer über und der Öffentlichkeit konnte die Mär von einer Staatsschuldenkrise in der Eurozone verkauft werden. – Man wird sehen, was dieser Vorspann mit dem im Folgenden besprochenen Buch zu tun hat.

Wer das Buch von Jörg Bibow und Heiner Flassbeck, „Das Euro-Desaster. Wie die deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt“, zur Hand nimmt, erhält eine makroökonomisch fundierte Krisenanalyse der Eurozone, eine ganze Reihe von Länderanalysen und einen Vorschlag zur Überwindung der Krise. Wir beginnen mit letzterem.

In den beiden Schlusskapiteln unterbreiten die beiden Autoren einen Reformansatz für die Eurozone, der zwei Elemente beinhaltet:

  1. Gegründet werden soll ein „Euro-Schatzamt“ (S. 217 ff.), dem Steuererhebungs- und Kreditaufnahmekompetenz zukommen soll. Der Rat legt das Budget fest, bspw. drei Prozent des BIP, und die jährliche Wachstumsrate der öffentlichen Investitionen, bspw. fünf Prozent. Gedeckelt werden soll die Kreditaufnahme für die Infrastrukturinvestitionen in der Eurozone bei 60 Prozent des BIP Ende des Jahrhunderts. Für die Nationen bleibt alles beim Alten: SWP und Fiskalpakt bleiben in Kraft, die Nichthaftungsklausel aus dem AEUV bleibt unberührt. Abgesichert wird die Kreditaufnahme für das Investitionsbudget durch die EZB vermittels spezifischer Marktinterventionen. Mit dem Steuererhebungsrecht des Schatzamtes sollen die Zinszahlungen für die Kredite und die Stabilisierung der Schuldenquote finanziert werden.
  2. Eingehalten werden müsse in Zukunft, so die Autoren, die bislang sträflich verletzte „inhärente Stabilitätsregel einer Währungsunion“ (S. 22, 112, 222), dass nämlich Löhne und Haushalte um das von der EZB vorgegebene Wachstum der Inflationsrate wachsen sollten. Da aber infolge der jahrelangen deutschen Unterbietungen bei den Löhnen und Staatshaushalten ein massives Ungleichgewicht gegenüber dem Rest der Eurozone besteht und eine Anpassung des Rests nach unten in einer Lawine innerer Abwertungen und deflationären Konstellationen enden würde, müsste Deutschland für unabsehbare Zeit eine extraordinär expansive Fiskal- und Lohnpolitik betreiben.

Süffisant nehmen die Autoren folgende Selbsteinschätzung vor: „Dies ist kein wirklich radikaler Vorschlag“ (S. 222). Fast könnte man darüber lachen, wenn einem nicht doch noch einfiele, um wie viele Galaxien entfernt der Vorschlag der Autoren von der Realität der gegebenen Eurozone, ihrer Akteure und ihren Ideologien, die ihr Schicksal bestimmen, und den Konstellationen von Nationalstaat und ihrer Bereitschaft zur supranationalen Delegation liegt. Aber, es gilt der uralte Satz: Auch realitätsferne Vorschläge dürfen unterbreitet werden, sie müssen sogar unterbreitet werden, wenn sie gute und brauchbare Vorschläge sind. Und das sind die Vorschläge von Bibow/Flassbeck zweifellos. Wenn sie noch ein paar Ungereimtheiten und Nachlässigkeiten beseitigt hätten, wären sie noch besser.

Man muss kein Freund des Subsidiaritätsprinzips sein, um sich den Gedanken einfallen zu lassen, warum ausgerechnet die Investitionen auf Eurozonenebene vergemeinschaftet und zentralisiert werden sollen. Oder vielleicht sollen sie das auch gar nicht, denn die Gelder werden nach zentraler Sammlung an die Nationen anteilig zurückgegeben. Warum reicht nicht eine entsprechende Regel für die Nationalstaaten? Schön wäre auch eine Erklärung dafür, warum die supranationale Exekutive die Kompetenzkompetenz bei der Steuererhebung und Kreditaufnahme erhalten soll und nicht eine parlamentarische Versammlung oder das Europäische Parlament. Kennen die Autoren die zahlreichen Versuche der Kommission, sich autonome Finanzierungsquellen zu erschließen und die dazu passende Unerbittlichkeit in der Absage durch die Nationalstaaten? Bei dem institutionellen Vorschlag, dem Schatzamt und den Eurobonds, können die Autoren alles Mögliche für sich beanspruchen, nur nicht das Patentrecht, warum gehen sie dann nicht auf vorliegende Vorschläge ein? Z.B. auf den Macrons aus dem Sommer 2017, der ein Eurozonen-Budget von „mehreren BIP-Punkten“ forderte.

Zur Größenordnung – die von Macron ins Spiel gebrachte Quantität umfasste 300 Mrd. EUR pro Jahr – muss man sich vor Augen führen, dass die gegenwärtigen Haushaltsplanungen der EU (2021-2027) schon bei dem von der Kommission vorgelegten Vorschlag von etwas über einem Prozent des BIP (und darin sind bei weitem nicht nur Investitionsausgaben enthalten) in den Mitgliedstaaten schon für massive Verbunkerungen gesorgt haben. Woher kommt also die gute Laune der Autoren, wenn sie für das Eurobudget mehr als das Doppelte des bisherigen EU-Haushalts fordern?

In den beiden analytischen Teilen geht es den Autoren einerseits um die Politik der „Giftmischung aus Sparpolitik und Lohnsenkung“ (S. 200) in den Eurokrisenländern, die zu einem Zusammenbruch der Binnennachfrage geführt hat, andererseits um die Wirtschaftspolitik in den vier großen Eurostaaten, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien und ihren Resultaten. Beide Teile sind reichlich mit empirischem Material und profunden Länderanalysen unterlegt und kommen zu bedenkenswerten Thesen und Aussagen. Sehr gut geraten ist dabei der wirtschaftsgeschichtliche Abriss zur merkantilistischen Politik Deutschlands und ihren gedanklichen Grundlagen. Wie es den Autoren aber gelingt, die Politik der „inneren Disziplin“ (Ludwig Erhard 1950 in einem Brief an Wilhelm Vocke, S 127), also der Lohnzurückhaltung zum Zwecke der Eroberung von merkantilistischen Wettbewerbsvorteilen auszubreiten, ohne dass auch nur ein einziges Mal der Begriff „Gewerkschaft“ fällt, ist schon eine Meisterleistung. Alles nur Neoliberalismus? Wirtschaftspolitik als Emanation ökonomischer Glaubenssätze ohne irgendwelche Interessen?

Plausibel legen die Autoren im ersten Teil dar, dass das „Teufelsgebräu“ (S. 34) von Sparpolitik und Lohnsenkung die Krisenstaaten tiefer und tiefer in die Krise gerissen hat und dass die deutsche Politik der Lohnzurückhaltung zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen die großen Staaten zu inneren Abwertungen gezwungen hat, die zu nichts führten, außer schwachem Wachstum und Defizitpositionen gegenüber Deutschland. Das angebliche deutsche Modell für ganz Europa hat zwar mittlerweile zu Leistungsbilanzüberschüssen der Eurozone von vier Prozent des BIP geführt (S. 206), man hat sich also auf Kosten der Außennachfrage und der Einschränkung der Importnachfrage „saniert“. Ein wirklicher Wachstumsprozess sieht aber anders aus als die seit 2015 wehende laue Luft. Ein großer Währungsraum wie die Eurozone war von vorneherein falsch gepolt, wenn er auf Außenüberschüsse setzt. Entscheidend ist die Binnennachfrage (S. 162).

Zur Krisenanalyse: Treffend arbeiten die beiden Autoren heraus: „Die Prozesse und Fehlentwicklungen, die durch deutsche Lohnzurückhaltung in der Zeit ab Mitte der 1990er Jahre bis 2010 angetrieben wurden, bilden die Hauptursache für die bis heute ungelöste Eurokrise“ (S. 145). Und: „Kern der Krise ist die ‚Beggar-thy-neighbor‘-Politik Deutschlands. Deutschland hatte ab Mitte der 1990er Jahre ‚Lohnzurückhaltung‘ zur nationalen Agenda erklärt“ (S. 203). Versteht man richtig, es war eine bestimmte Art gesamtwirtschaftlicher Politik seitens Deutschlands, die problematisch in der Eurozone gewirkt hat. Im Grunde war das auch nichts Neues, wurde damit von dem größten Land der Eurozone, dem früheren Ankerland des EWS, doch jene Politik fortgesetzt, die man jahrzehntelang betrieben hatte, die Politik des „sedierten Wachstums“.

Danach begeben sich die Autoren aber auf einen Irrweg. Sie machen diese deutsche Politik verantwortlich für die Krise der Währungsunion 2010-12. Wo kein Zusammenhang ist, lässt sich auch keiner herstellen. Das lachhafte Liquiditätsproblem im Südosten der Eurozone hatte einen ganz anderen Hintergrund und konnte auch ganz anders gelöst werden.

Überflüssigerweise lassen sich die Autoren darauf ein, den mittlerweile rechtsradikal kontaminierten Satz von der „Währungsunion als Fehlkonstruktion“ ein ums andere Mal nachzubeten. Beim Wort vom Kern der Krise genommen: Hätte Deutschland nicht die fatale Politik des Lohndumpings betrieben, wäre die Währungsunion schlecht und recht, jedenfalls ohne die großen Probleme durch die Zeit gekommen. Währungsunion = Fehlkonstruktion? Hätten die Troika-Akteure in das Memorandum of Understanding für Griechenland eine satte Nachfragepolitik mit marshallplanähnlichen Schenkungen und Krediten diktiert und Griechenland wäre auferstanden wie, sagen wir, der Phönix aus der Asche und der Rest der Eurozone hätte sich so halbwegs durchgewurstelt, läge dann immer noch eine Fehlkonstruktion der Währungsunion vor? Oder: werfen die Autoren den Akteuren in Maastricht wirklich vor vergessen zu haben, die „inhärente Stabilitätsregel einer Währungsunion“ in den Vertrag zu schreiben? Erinnern sie noch, was das Hauptmotiv des Maastrichter Weges war? Haben sie eine vage Vorstellung von solchen Staatsverhandlungen?

Alles hängt davon ab, was man genau unter der Eurokrise versteht. Zur Krisenerklärung für das Liquiditätsproblem zwischen 2010-12 kann man die eingangs entworfene Skizze heranziehen. Versteht man unter der Eurokrise aber eine dauerhafte Verzerrung zwischen und innerhalb der Gesamtwirtschaften der Staaten der Eurozone – und das ist offensichtlich die Vostellung der Autoren – dann ergibt sich die Frage, ob dafür der Krisenbegriff geeignet ist. Die Autoren sprechen von „Divergenzen und Ungleichgewichten“ (S. 203, 220). Das, was das Buch erklärt, sind die makroökonomischen Fehlentwicklungen in der Eurozone mit den verschenkten Wachstumsmöglichkeiten und den mutwillig durch die deutsche Austeritätspolitik herbeigeführten wirtschaftlichen Schrumpfungsprozessen im Süden der Eurozone.

Bezogen auf die potentiell krisenhaften Auswirkungen der makroökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone kann, bis auf Weiteres und den Beweis des Gegenteils, konstatiert werden, dass der institutionelle Gesamtbestand der Währungsunion erstaunlich immun gegen krisenhafte Zuspitzungen ist.

Die Wirtschaftswissenschaft denkt, dass sie „physikalische“ Naturgesetze dingfest machen kann. Etwa derart: Gesamtwirtschaften funktionieren wie Dampfkessel, die immer nur bei mittlerer Temperatur erhitzt werden sollten (Gleichgewicht). Werden sie über die Maßen erhitzt, kommt es zur Explosion. Die reale Wirtschaft funktioniert danach nicht. Auch das von den Autoren formulierte „Gesetz“, eine Währungsunion mit dauerhaften Handelsüberschüssen führe zwangsläufig zu einer Transferunion (S. 36, 104, 146, 156), lässt sich in der Wirklichkeit der Realwirtschaft so nicht nachweisen, nicht einmal für den Föderalismus der Bundesrepublik, sind dort doch gesamtwirtschaftliche Stabilisatoren im Einsatz, die mit „Transfers“ im engeren Sinne nichts zu tun haben. Schon gar nicht stimmt das „Gesetz“ für Italien, das über Jahrzehnte eine Währungsunion betrieb, ohne dass es zu nennenswerten Transfers aus dem exportstarken Norden in den pauperisierenden Süden kam.

Der Untertitel des Buches, „Wie deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt“, trifft – einmal abgesehen von der alpinen Metapher – den dargestellten Inhalt voll und ganz. Der reißerisch dahergelaufene Haupttitel, „Das Euro-Desaster“, samt der im Buch latent immer am Anschlag formulierenden Untergangsweissagungen – kleine Auswahl: der Fortbestand des Euros ist infrage gestellt (S. 9), die Eurozone steht am Abgrund der Deflation (S. 11), der Euro ist gescheitert (S. 111) – passt nicht zu seinem analytischen Gehalt und Anspruch.

Abgrundtief peinlich gerät den Autoren der Titel noch aus einem anderen Grund. Das kindische Design des Eurozeichens auf dem Buchdeckel passt zu folgendem: Und zwar zu rechtsradikal-neoliberalen Untergangsschwätzern wie Max Otte, mit dem sich die Autoren –ungewollt – über den gleichnamigen Titel dessen Buches aus dem Jahr 2013 gemeinmachen. Peinlich, peinlich.

Neues vom Niedergang der Sozialdemokratie II Sozialdemokraten entdecken eine neue Herzensangelegenheit: Die Nation. Ein Büchlein eines Sozialdemokraten, das wirklich so heißt: „Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen“

Man darf viele Dinge nicht den Rechtspopulisten überlassen. Die Arbeiterklasse, den Rassismus, die Menschenfeindlichkeit. Wenn man die Dinge zurückholt, dann wird’s besser. Das trifft nicht einmal die Schreibhaltung des Autors, der an prominenter Stelle der Sozialdemokratie agiert (Leiter des Referats Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung). Es ist noch schlimmer: Nicht ganz einen halben Meter südöstlich des Denkzentrums hat der Autor offensichtlich körperliche Sensationen, wenn es um die Nation geht. Und denen will er nachgehen.

Wer banale Tautologien oder tautologische Banalitäten, die sonst nur am Stammtisch mit erheblicher Alkoholeinwirkung durchgehen, ausspricht – in der letzten Zeit: „Wir können nicht allen helfen“ –, will bekanntlich durch den vermeintlichen Tabubruch ein verschämtes Bekenntnis abliefern, das in Klarsprache nicht ausgesprochen werden kann oder soll. Das Bekenntnis lautet: Jawohl, ich bin einer von euch. War es im gerade erwähnten Fall ein Grüner, der sich den Rechtsradikalen andiente, ist es in dem Bändchen „Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen“ ein sozialdemokratischer Bildungspolitiker, den es zu den Rechtsradikalen zieht. Es drängt ihn, „Ein linkes Lob der Nation“ – so lautet das Schlusskapitel – anzustimmen. Das Loblied trägt er in drei Strophen, „Migration“, „Europa“ (darum soll es im Folgenden gehen) und „Globalisierung“, vor, ein Teil peinlicher als der andere.

Der Autor hat zweifelsfrei fleißig studiert, jedenfalls kann er die übliche Hauptseminar-Literatur zu den Themen „Nationalstaat“, „Europa“ und „Internationales System“ referieren. Er hat auch einen Standpunkt: Er ist progressiv. Und er hat einen Feind: Orchideen-Europäer wie Ulrike Guérot und Robert Menasse. Er hat beim Studium auch gelernt, wie man abstrahiert: Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat, demokratischer Staat usw. usf. alles fliegt bei ihm in einen Topf und wird – zur Nation. Und der soll dann gehuldigt werden.

Ausgangspunkt ist dem Autor der Horror vor dem „europäischen Superstaat“ (S. 64) und die Angst vor der „Zerschlagung des Nationalstaats“ (S. 63). Das steht nicht in einem Pamphlet einer schlagenden Verbindung, sondern in einem Essay eines sozialdemokratischen Funktionärs, herausgegeben in einem sozialdemokratischen Verlag. „Aber brauchen wir .. tatsächlich überall mehr Europa? Muss der Nationalstaat wirklich überall den Weg freimachen für ‚europäische‘ Lösungen? In weiten Teilen der deutschen politischen Klasse zumindest gilt genau das als Konsens“ (S. 40). Man glaubt es kaum: Der Autor wähnt „Fürsprecher einer paneuropäischen Umerziehung der europäischen Völker in Richtung auf ein europäisches Bewusstsein“ (S. 59) am Werk. Eigentlich würde man solche völkischen Fata-Morgana-Sätze eher in AfD-Reden vermuten.

So ziemlich alles, was in rechtsradikalen Kreisen und europakritischen Politologenseminaren an antieuropäischem Ressentiment herumgereicht wird, sammelt der Autor auf. Noch die dümmsten Scheinbefunde werden vorgetragen, man glaubt es nicht. Hier eine Auswahl:

  • Mit den rechtsradikal-neoliberalen Ökonomen, die später bei der AfD gelandet sind, führt er das ebenso rechtsradikal kontextualisierte „Argument“ an, die europäische Währungsunion sei kein „optimaler Währungsraum“ (S. 50). Konsequenterweise macht er sich stark für ein „flexibles Europa“ durch Auflösung der Währungsunion in einen Nord- und einen Südblock (S. 67).
  • Fassungslos liest man: „Das real existierende europäische Projekt wurde nicht von Linken, sondern von konservativen Kräften aus der Taufe gehoben“ (S. 45). Und: „Die wirtschaftsliberale DNA aber ist heute kaum noch aus dem europäischen Projekt herauszufiltern“ (S. 46). Warum er dann nicht die Auflösung der Europäischen Union fordert, bleibt sein Geheimnis.
  • Der ganze Müll aus der national-sozialdemokratischen Ecke (Streeck, Scharpf) mit der EU als „Liberalisierungsmaschine“ (S. 48) und der „negativen Integration“ (S. 46) wird beipflichtend referiert.
  • Bei der Eurorettung phantasiert er sich eine „Machtfülle“ (S. 52) der europäischen Institutionen zusammen und eine „Entmachtung … nationaler Parlamente“ (S. 53).
  • Fehlen darf natürlich auch nicht der Hinweis auf das „Demokratiedefizit“ in der EU (S. 55) und das „Fehlen eines europäischen Demos“ (S. 58). Demokratisierung und Parlamentarisierung der EU – z.B. durch Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen – laufe notwendig auf eine Bedrohung der nationalen Demokratie hinaus (S. 61).

Aus alledem ergibt sich: „mehr Nationalstaat .. wagen“ (S. 68)

Wo kommt all das Ressentiment, das Vorurteil, das Eifern gegen Europa her? Man könnte dem Referatsleiter Internationale Politikanalyse in der FES mit Fortbildung weiterhelfen. Er ist tatsächlich mit dem Thema der europäischen Integration – milde formuliert – wenig vertraut. Ansonsten ginge er von einem fundamentalen Axiom aus, das seine ganze Anbiederei an den Nationalstaat von vorneherein obsolet machte, dem Axiom nämlich, dass es Nationalstaaten waren, die Europa zum Behufe der eigenen Macht- und Interessensicherung erfunden haben. Es waren die gleichen Nationalstaaten, die dafür gesorgt haben, dass dieses Europa kleinblieb und wenig substantielle Macht erhielt. Und es sind Nationalstaaten, die unter sich – intergouvernemental – die Eurorettung organisieren, wobei einem Parlament ganz außerordentliche Macht zukommt, dem Bundestag, der jede Rechnung des ESM genehmigen muss. Und integrationsgeschichtlich: Es war nicht ein neoliberaler Deus ex Machina, der das Integrationsprojekt initiierte, sondern es waren wieder zu Macht gekommene Nationalstaaten, die sich in ihrer Kooperation immer nur auf die kleinsten Nenner einigten. Deshalb der „neoliberale Einstieg“. Statt die von ihm herangezogenen ausgefransten politologischen Schablonen zu bemühen, sollte der Verfasser die europäischen Prozesse präzise beobachten und analysieren. Er könnte dann – mit Anstrengung – erkennen, dass sich vor unser aller Augen ein nationalstaatlich geprägter Europäisierungsprozess vollzieht und kein supranational inszenierter heimtückischer Angriff auf den Nationalstaat. Das zu erkennen verhindert aber bei diesem Autor, wie bei allen anderen, die den Nationalstaat loben wollen, eine Sensation nicht ganz einen halben Meter südöstlich des Denkapparats.

Neues vom Niedergang der Sozialdemokratie I „Aufbruch für Europa – Zeit zu handeln“ – Das europapolitische Beschlusspapier der SPD-Bundestagsfraktion

Eigentlich wäre für die Bundestagsfraktion der SPD in dem Beschlusspapier zur Europapolitik ja mal Zeit und Platz gewesen – jenseits von Koalitionszwängen – eigene Noten und Nuancen zur Reform der Eurozone zu setzen. Da die SPD seit fast zwei Jahrzehnten mit in der Regierung sitzt – mit der Ausnahme von 2009-2013 –, hätte auch der Gedanke nahegelegen, einmal selbstkritisch über das nachzudenken, was man in Europa seit Beginn der Währungsunion mit gerichtet und angerichtet hat. Was liest man stattdessen? Einen faden Aufguss des Koalitionsvertrages plus ein wenig Beilagen à la Macron (Bankenunion, Finanzminister). Von eigenen gedanklichen Ansätzen oder gar Selbstkritik ist weit und breit nichts zu sehen.

Statt einmal gesamtwirtschaftliche Überlegungen darüber anzustellen, wie in einer Währungsunion ohne Wirtschaftsunion und ohne Tarifunion Kooperations- und Anpassungsregeln entwickelt werden können, fällt den Sozialdemokraten nichts anderes ein, als Absprachen über den Mindestlohn, Fortschritte beim Entsenderecht und einen Ausbau der Europäischen Säule sozialer Rechte zu fordern. Höchst elegant wird um den Kern des Problems, die Lohnpolitik und die innere Nachfrage- und Investitionsschwäche, herumlaviert.

Man hält fest: „Es muss verhindert werden, dass alleine die Lohnpolitiken als Anpassungsinstrument dienen.“ Dann kommt der Hinweis auf „Stärkung der sozialen Dimension“. Es stellen sich Fragen: Was soll außer der Lohnpolitik noch als „Anpassungsinstrument“ dienen? Gemeint sind wohl die schwächeren Staaten. Aber warum müssen sich die „schwachen“ Staaten mit ihren Volkswirtschaften anpassen? Warum kann sich nicht das Führungsland in der Währungsunion, welches das Lohndumping unter sozialdemokratischer Führung erst begonnen hat, anpassen? Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an Keynes.

Höchst elegant umschifft die SPD-Fraktion auch die Überschussproblematik. Wie? Man erwähnt sie einfach nicht. Das klammheimliche Bündnis der Sozialdemokratie mit dem Neoliberalismus in dieser Frage ist unübersehbar. Die Neoliberalen rechtfertigen den Überschuss mit Sprüchen über deutsche Qualität und den Hinweis auf die anonymen, nicht steuerbaren unzähligen Marktentscheidungen, die Sozialdemokraten lassen das Thema ruhen, weil – vermeintlich – die Interessen ihrer Kernwählerschaft berührt sind. Wann fängt die deutsche Sozialdemokratie an, europäisch zu denken?

„Existenzfragen für Europa“ – Die Kanzlerin antwortet Macron. „Immer gegen Auflagen natürlich…“

Sieht man von den Überlegungen zur europäischen Außenpolitik, der Migrationsfrage und der institutionellen Reform der EU ab, dann unterbreitete Merkel im Interview mit der FAS (3. Juni 2018) drei konkrete Vorschläge zur Reform der Währungsunion.

  1. Mit dem EWF (ehedem ESM) soll eine auf wirklicher Macht beruhende Institution geschaffen werden, die ihre intergouvernementale Struktur mit Parlamentsvorbehalt (in manchen Staaten) beibehielte. Die Macht käme insbesondere durch die Auflagenkompetenz zum Ausdruck, die aus eigener Zuständigkeit erwachsen soll, also nicht mehr durch den Rat und die ehedem so bezeichnete Troika. Nebenbei bemerkt: Diese Maßnahme setzte die Tendenz der Entmachtung der Kommission weiter fort. Der frühere Instinkt, einen solchen EWF nicht gut zu finden, hat die Kommission also nicht getäuscht. Der EWF wäre die neue wirtschaftspolitische Superbehörde in der Eurozone. Ihr Chef würde den Job nicht mehr wie bisher quasi nebenbei erledigen, nein, er rückte, bei der jetzigen Konstellation, in eine Reihe ganz nach vorne neben Tusk und Juncker.
  2. Der neue EWF soll, so Merkel im Interview, die Verwaltung der bisherigen langfristigen Kreditlinie des ESM und die Funktion der Letztsicherung für die Bankenunion übernehmen („Common Backstop“). So ist es auch in dem einschlägigen Verordnungsentwurf der Kommission vorgesehen. Darauf hat man sich offensichtlich schon verständigt. Zusätzlich soll er eine neue fünfjährige Kreditlinie erhalten (Merkel: „Immer gegen Auflagen natürlich, in begrenzter Höhe und mit vollständiger Rückzahlung“). Das wäre der „Schlechtwetterfonds“ gegen so genannte asymmetrische Schocks, z.B. eine in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnte Krise Irlands nach dem Brexit.
  3. Schließlich soll es noch zur Einrichtung eines Investivhaushalts (Volumen: „im unteren zweistelligen Milliardenbereich“) in oder außerhalb des regulären EU-Haushaltes kommen. Gedacht ist dieser Fonds offensichtlich als Konvergenzhilfe innerhalb der Eurozone. Diesen Vorschlag hatte die Kanzlerin schon auf dem Höhepunkt der Eurokrise unterbreitet, jetzt greift sie ihn auf, es geht um die Belohnung von „Strukturreformen“, man kann sich vorstellen, was damit gemeint ist.

Die Kanzlerin hat in diesem Interview – sieht man einmal von der neuen kurzfristigen Kreditlinie für den EWF ab – nicht mehr und nicht weniger als den Stand des Koalitionsvertrages referiert. Wort für Wort ist das alles dort nachzulesen. Und das Paket kann auch nicht überraschen, da mit der Kreditstrategie alles, was mit Haftungs- und Transferunion auf europäischer Ebene auch nur im Entferntesten in Verbindung gebracht werden könnte, abgewehrt ist. Die Hintergrundinformation, die man dazu wissen muss, lautet: Europarechtlich ist es keineswegs eine abgemachte Sache, dass die Umwandlung des ESM in einen EWF und andere europäische Reformvorhaben mit den üblichen politischen Mehrheiten beschlossen werden können. Wenn für diesen Prozess eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig sein sollte, dann ist die im Bundestag für die GroKo nicht einmal mehr mit den Stimmen der Grünen zu erreichen. Zu den Zeichen der Zeit gehört also: Im Bundestag gibt es mittlerweile eine rechtsnationale, europafeindliche Sperrminorität von Rechtsradikalen, Nationalliberalen, Unionsnationalen und linken Fundamentalisten. Wer sich bei dieser Mischpoke wohlfühlt, dem ist nicht mehr zu helfen.

Angesichts der erbärmlichen Dürftigkeit der Merkelschen Vorschläge könnte man sich – aus spieltheoretischer Perspektive betrachtet – damit beruhigen, dass die Kanzlerin im Interview das Minimum auf dem Verhandlungsteppich ausgebreitet hat und sie in den Verhandlungen selbst mit Frankreich Ende Juni noch eine europapolitische Schaufel drauflegt. Vielleicht erhält der zukünftige EWF-Chef noch einen „Doppelhut“ (Kommissar plus EWF-Chef) und rückt damit in die Nähe des „Europäischen Finanzministers“ und vielleicht wird aus dem unteren ein mittlerer Milliardenbetrag für den Investivhaushalt. Doch kann dies nicht wirklich beruhigend.

Eine tatsächliche Reform der Eurozone müsste an zwei ganz anderen Baustellen ansetzen. Davon ist Merkel eine ganze Meile entfernt und Macron mindestens eine halbe. Die prozesspolitische oder realwirtschaftliche Baustelle hätte die Verständigung auf eine Gesamtwirtschaftspolitik in der Eurozone zum Thema, sie ist aber kein Vorhaben, das morgen angegangen werden könnte. Es steht auch bei dem Juni-Gipfel nicht auf dem Programm. Außerdem ist diese Baustelle noch nicht einmal auf den Zetteln der beteiligten Akteure. Das ist mit der zweiten Baustelle, der ordnungspolitischen, anders und darauf bezieht sich auch das Merkel-Interview.

Das Thema dieser Baustelle lautet: Die Währungsunion müsste in der Weise rekonstruiert werden, dass sie den politischen Grundstrukturen ihrer Trägerschaft wieder gerecht wird. Was ist damit gemeint? Eines der für das Gemeinschaftsprojekt „Währungsunion“ in den neunziger Jahren qualifizierenden Kriterien war der einheitliche konvergente Zins auf den nationalen Kapitalmärkten. Das Kriterium wurde von den jeweiligen Kandidaten erreicht und so konnte die Währungsunion eingeführt werden. Dies durfte einerseits für die Kandidaten selbst wie auch für die Kapitalmärkte andererseits als Signal interpretiert werden, dass auch die Währungsunion auf der Basis eines einheitlichen konvergenten Zinses funktionieren würde. Und so geschah es denn auch im ersten Jahrzehnt der Währungsunion. Dann kam es bekanntlich in den Turbulenzen der Weltfinanzkrise anders, der No-bail-out-Artikel, für den deutschen Neoliberalismus das Herzstück der Währungsunion, musste erst mit brachialer Gewalt, fast könnte man sagen, gegen die Kapitalmärkte, durchgesetzt werden.

Die angesprochene Trägerschaft der Währungsunion besteht aus politisch souveränen Staaten – in dem Maße eben, wie heutzutage überhaupt noch von Staatensouveränität die Rede sein kann. Das mag man beklagen oder für eine Fehlkonstruktion halten, es ist aber die Realität. Sie ist nicht entstanden aus einer neoliberalen Gedankenwelt, um den Staatenwettbewerb zu organisieren, sie war auch keine deutsche Erfindung zur Absicherung des Exportmodells, sie war das historisch zufällige Ergebnis einer bestimmten Mächtekonstellation in einer bestimmten historischen Situation, die es auch weiter zu beachten gilt. Als unabhängige Konstituante geht dieser fiskalisch eigenverantwortliche Staat in die ordnungspolitischen Voraussetzungen der Währungsunion ein. Man könnte dies auch radikalen Föderalismus nennen.

Wenn dieser radikale Föderalismus – inklusive der darin enthaltenen Verdikte gegenüber finanziellen Transfers – akzeptiert ist, dann muss ordnungspolitisch auch dafür gesorgt werden, dass er leben und gelebt werden kann. Das bedeutet prima facie, dass unterschiedliche Wirtschaftspolitiken in den Trägerstaaten zu akzeptieren sind. Und das wiederum bedeutet, dass der Stabilitätspakt, nicht wie gegenwärtig in Deutschland, wie eine heilige Betonskulptur herumgereicht wird, sondern dass auch sein zweiter Namensteil – Wachstumspakt – zu seinem Recht kommt. Mit anderen Worten: Um dem radikalen Föderalismus in der Eurozone Luft zu verschaffen, muss der austeritätsgetriebene Norden hinnehmen, dass im Süden Wachstums- oder Nachfragepolitik betrieben wird.

Eine solche Politik wird mit ein paar Milliarden für diesen oder jenen Fonds nicht gehen, sondern, nach Lage der Dinge, nur über selbstgesteuerte Kreditaufnahme. Und das funktioniert nur, wenn die Teilnehmer in der Eurozone von den Vorteilen eines großen Währungsraumes profitieren können. Das war die Geschäftsgrundlage des ersten Jahrzehnts der Währungsunion und entgegen den postumen neoliberalen Verzerrungen hat diese Ordnung der Währungsunion ganz gut funktioniert. Die Krise in den späteren Programmländern entwickelte sich erst, als man diese Ordnung beschädigte und durchlöcherte und den Kapitalmärkten signalisierte, dass man zukünftig eine Politik der Risikoprämien bevorzugen würde. Die Verantwortlichen für die Krisenbearbeitung in der Eurozone beeilten sich förmlich, in die Ordnung marktmäßige Strukturen einzuziehen. Der Höhepunkt war die mit kaltem Kalkül durchgezogene Teilinsolvenz des griechischen Staates, mit der nicht nur der erste und einzige Staatsbankrott in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg – unter der Voraussetzung, man sieht von dem deutschen Staatsbankrott nach dem Zweiten Weltkrieg ab – inszeniert wurde, sondern dem No-bail-out-Artikel aus dem AEUV erst zum Durchbruch verholfen wurde.

Das Problem des konvergenten Zinses in der Währungsunion wurde in der Zwischenzeit von wichtigen politischen Akteuren auch erkannt. Nichts anderes als der konvergente Zins liegt dem 2012 von der EZB angekündigten, aber nicht realisierten OMT-Programm zugrunde und nichts anderes auch dem QE-Programm (Staatsanleihekaufprogramm). Beide Programme, das angekündigte und das praktizierte, vermochten die Zinsen zwar erheblich zu drücken, dennoch verbleibt noch eine Risikoprämie für einzelne Staaten und diese Risikoprämie schwebt als disziplinierende Drohung über den Staaten und ihren Wirtschaftspolitiken.

Um es dogmatisch zu formulieren: Eine Währungsunion auf der Basis eines radikalen Föderalismus kann nur mit dem konvergenten Zins funktionieren. Das ordnungspolitische Modell, das die deutschen Akteure im Verlauf der Eurokrise durchgesetzt haben, die Währungsunion auf der Basis eines Staatenwettbewerbs, ist gescheitert.

Sehr deutlich wird das Scheitern an dem zusätzlich auf die Tagesordnung des Juni-Gipfels gerückten Fall Italien. Während mit den bisherigen Programmländern nach dem kreditbegleitenden Motto „Immer gegen Auflagen natürlich“ – deshalb hießen die Auflagen auch „Memorandum of Understanding“ – umgesprungen werden konnte, hat man es bei Italien mit einem Vetoplayer zu tun, der nicht ohne weiteres mit ein paar Krediten für den Mezzogiorno abgespeist werden kann.

Die Parteinahme für Italien fällt gegenwärtig schwer, ist höchst degoutant, weil das vorgetragene mehr als berechtigte wirtschaftspolitische Interesse von einem mehr als dubiosen, eben degoutanten Bündnis formuliert wird. Scharf zu trennen zwischen Sache und Personen wird ein Thema des anstehenden Gipfels sein. Zu hoffen ist, dass das Geschwätz über Populismus nicht allzu sehr im Vordergrund steht und die Vetoplayer-Position von der italienischen Seite robust vertreten wird. Das wäre allemal zielführender als das lächerliche Geplänkel um Symbole wie einen Finanzminister, ritualisierte Verdammungen der Transfer- und Haftungsunion und Ablenkungsmanöver auf andere Politikfelder, weil die Stärkung Europas dort angeblich viel wichtiger sei.

Aber: selbst wenn es nur zu der im Merkel-Interview hervorscheinenden Miniatur einer Eurozonen-Reform käme – die Welt respektive Europa respektive die Eurozone ginge auch davon nicht unter. Die Europäische Union hält die kläffenden Nationalisten von allerorten aus und wird sie überleben, auch die deutschen neoliberalen Ordensritter. Schreckens- oder Untergangsszenarien müssen nicht an die Wand gemalt werden.

 

 

Die Machtverteilung in der Eurozone

Hierzulande wird bei der Kritik an der Austeritätspolitik in der Eurozone häufig vergessen, dass Deutschland nur der sichtbare Teil eines Eisblocks ist, der tatsächlich um ein Erhebliches größer ist. Die Gesamtformation der Austerität wird schon etwas besser erfasst, wenn man von dem Norden und dem Süden in der Eurozone spricht. Wird die Sache so formuliert, steht man plötzlich vor dem Problem, wo denn der Westen – also in erster Linie Frankreich – einzuordnen ist.

In der Tat bietet es sich an, von drei Blöcken auszugehen. Die folgende Übersicht nimmt eine so geartete Einteilung nach der Kapitalzeichnung im ESM, die wiederum der Zeichnung des EZB-Kapitals folgt, vor. Der Einfachheit halber werden die Bezeichnungen Norden und Süden beibehalten, weil sich dies weitgehend mit der Geographie deckt. Die dritte Position wird „mittlere Position“ genannt, weil sie nicht eindeutig einem wirtschaftspolitischen Dogma folgt.

Screenshot (10)

 

 

 

 

 

Die Machtverteilung in der Eurozone

Veröffentlicht in Varia

Zur Epistemologie des Populismusbegriffs. Was man weiß, was man wissen sollte

  1. Demokratie = Populismus oder: Populismus = Demokratie
    Populistische Parteien sind demokratische Parteien, die sich in Wahlen um die Gunst des Volkes bemühen. Nicht nur so gesehen, sondern ganz allgemein sind Populismus und Demokratismus Synonyme. Demokratische Parteien können gar nicht anders als populistisch sein, da sie allesamt die Vorstellung haben, dass ihr politisches Angebot dem Volk am besten bekommt. Demokratische Parteien halten sich grundsätzlich für mehrheitsfähig. Demokratische Parteien, die unpopuläre Maßnahmen predigen, sind Sekten.
  2. Die Politologen haben’s erfunden
    Vor diesem Hintergrund wird schlagartig klar, dass der Begriff „Populismus“ nur eine Erfindung von Politikwissenschaftlern sein kann, um im Multiplikatorverfahren für mehr Stellen an den Hochschulen zu sorgen. Mittlerweile ist das Ziel auch erreicht: Es gibt eine ganze Reihe von Populismus-Lehrstühlen, einschlägige Experten und Bücher dazu inbegriffen.
  3. Der Spießgeselle
    Wahrscheinlich hat der politische Mainstream irgendein Center for Political Science – oder war es doch ein Policy Centre? – beauftragt, den Begriff „Populismus“ zu erfinden, aufzublasen und in Form von vielen Luftballons um die Welt zu schicken. Alles ist ganz wundersam gelungen. Bleibt die Frage, warum erging der Auftrag. Um sich die lästige Konkurrenz vom Hals zu schaffen? Die Konkurrenz, die auch einmal etwas ganz anderes will? Jedenfalls gab es da noch einen willfährigen Spießgesellen, den Journalismus, insbesondere jenen deutscher Ausprägung. Dieser Journalismus hat für die geradezu inflationäre Verbreitung des Begriffs gesorgt, a) weil er ohnehin denkt, besser Politik betreiben zu können als die Politiker und b) weil er sich die Arbeit erleichtern wollte (vgl. die Produktivität des Begriffs, s.u.).
  4. Der Kampfbegriff
    Reale politische Parteien haben all das sorgsam beobachtet und für eine eigene Verwendung des Begriffs Populismus gesorgt. Populismus wurde ihnen zum Kampfbegriff für unliebsame Forderungen der jeweils anderen Parteien. Insofern neigt der Begriff zum Universellen. Er ist ein Universalbegriff. Tendenziell alle politischen Forderungen sind populistische Forderungen, da immer jeder gegen jeden oder jedes irgendetwas zu meckern oder einzuwenden hat. Ehedem, als es das Attribut „populistisch“ noch nicht gab, nannte man politische Forderungen, die heute dafür in Frage kämen, utopisch, unbezahlbar oder realitätsfern. Nebenbei: diese Attribute waren alle präziser als „populistisch“.
  5. Die Verkreisung des Quadrats
  6. Der Nachweis, dass eine bestimmte politische Forderung populistisch ist, lässt sich ernsthaft nicht führen. Viele renommierte Wissenschaftler haben sich daran versucht, es ist schier unmöglich. Der Ausstieg aus der Kernenergie, beispielsweise, galt über Jahrzehnte hinweg als utopisch, unbezahlbar oder realitätsfern. Vielleicht auch in anderer Reihenfolge. 2011 fiel die Entscheidung zum Ausstieg innerhalb weniger Stunden, sozusagen über Nacht, vielleicht sogar innerhalb von Minuten. Man weiß es nicht. Das Beispiel ist vielleicht ungeeignet, da es damals den Begriff „Populismus“ noch nicht gab. Hätte es den Begriff schon gegeben, vielleicht wäre dann der Ausstieg nicht gekommen. Wie dem auch sei. „Populistisch“ ist im Kern denunziatorisch gedacht. Wer solche Forderungen wie den Ausstieg aus der Kernenergie aufstellt, hat nicht nachgedacht und/oder ist dumm. Wer will das im politischen Wettstreit schon sein?
  7. Die Produktivität
    Wer das Wort „populistisch“ rüstig und flüssig aussprechen kann, hat den politischen Wettstreit eigentlich schon gewonnen. Er muss nicht weiter nachdenken, kann sich die Analyse sparen, das Publikum muss auch nicht weiter nachdenken, kann sich die Analyse sparen. Insofern hat die Entdeckung des Begriffs für eine große politische Produktivität gesorgt. Die politischen Debatten werden kürzer und man hat mehr Zeit für anderes, z.B. das Unpolitische oder Talkshows.
  8. Das Chamäleon
    „Populismus“ ist nicht nur ein Wort ohne Inhalt, nein, das Wort ist auch und sogar ein Chamäleon. Was in dem einen Land „populistisch“ ist, ist in dem anderen „volksnah“; im Summton der politischen Kaste hört sich das an wie „Wir haben verstanden“. Jedenfalls besteht zwischen Bezeichnetem und Zeichen, um es semiotisch auszudrücken, kein fester oder ein anderer Zusammenhang. Das Zeichen – „Populismus“ – kann sich der Tendenz nach an alle politischen Inhalte heften, je nachdem, wie die politische Großwetterlage gerade zusammengesetzt ist und/oder auf welchem Kontinent oder in welchem Land man sich gerade aufhält. In Finnland kann das Garantierte Grundeinkommen im Feldversuch getestet werden, die Schweiz kann es zur Volksabstimmung stellen, der Bürgermeister von Berlin erhält Beifall, wenn er gedankenschwer darüber sinnieren will – wenn die Cinque Stelle es für Süditalien einführen wollen, ist es – Überraschung – populistisch. Kann eine per Plebiszit angenommene Forderung noch populistisch sein?
  9. Der Patenbegriff
    Der Patenbegriff von Populismus ist der Elitarismus, gleichfalls ein politologischer Marshmallow-Begriff. So wie demokratische Politik schon immer – ob subjektiv oder objektiv – auf das Volk ausgerichtet ist, so war es schon immer eine Elite – früher oder leninistisch: Avantgarde –, die Politik gemacht hat. Die Elite und die Populisten lösen sich mit der Zeit aus dem politischen Diskurs und finden irgendwann als Paten zueinander zurück, werden zu Gegnern und Antipoden. Die einen machen Politik gegen die anderen, die anderen verachten die einen. Fragt sich nur, warum den einen Begriff das Odium des Kosmopolitischen umweht und der andere (provinzielle) Brechreize verursacht oder verursachen soll.
  10. Die Fertilität
    Der Begriff „Populismus“ ist auch außerordentlich – man hat es vermutet – fertil, denn er ist anschlussfähig. Kaum, dass er geboren war, der Begriff, hatte er auch schon Partner gefunden. Die Differenzierung schritt nämlich voran, Ausweis des Wissenschaftlichen, und der Rechtspopulismus und der Linkspopulismus kamen auf die Welt. Woher nur? Erklärt wurde von sinisteren Geistern der Ironie damit, warum die eigentlich unversöhnlichen Antagonisten, Linke und Rechte, plötzlich Koalitionen eingehen konnten (Griechenland) oder wollten (Italien) oder müssen (Spanien). Aber wiederum warfen sich Fragen auf: a) Was ist der Unterschied zwischen einer normalrechten Position und einer rechtspopulistischen Position? Ist das eine degoutanter als das andere? b) Wann würden sich liberalpopulistische, konservativpopulistische und sozialpopulistische Parteien und Strömungen gründen? Möglicherweise auch grünpopulistische, europapopulistische oder sogar demokratischpopulistische? c) Können Populisten mit Demokraten Koalitionen eingehen? Verlieren Populisten ihre Unschuld, wenn sie mit Demokraten koalieren, und wenn ja, wie geht das? Und was ist, wenn Populisten mit Populisten koalieren (Italien), exponiert sich dann die Inzucht?
  11. Das Patentamt
    Wer ist die Instanz, gleichsam das Patentamt, die bzw. das entscheidet, was eine populistische und was eine rationale politische Forderung ist. Wer in diesem Augenblick an das Bundesverfassungsgericht denkt, ist auf der falschen Spur. Auch das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) mit Sitz in München ist nicht zuständig. Die richtige Spur führt zurück. Wohin? Zur Politologie und zum Journalismus oder auch zu den Hohepriestern des deutschen Ordo- und Neoliberalismus. Woraus sich weitere Fragen ergeben: Kann und darf es populistische Wissenschaftler geben, also Wissenschaft für das Volk? Oder sind Wissenschaft und Populismus eine contradictio in adjecto? Oder auch: Wenn der Bannspruch „Populismus“ einmal gefallen ist, kann er auch rückgängig gemacht werden? Wenn die Forderung nach dem Ausstieg aus der Atomenergie vormals als „populistisch“ diagnostiziert wurde, ist sie das heute nicht mehr?
  12. Der Unterschied zwischen Rechtspopulismus und Linkspopulismus
    Was macht die Kritik am Begriff „Populismus“ so pikant? Es ist der so genannte Rechtspopulismus, der political correct eigentlich Nationalismus bzw. Rechtsradikalismus bzw. Rassismus zu nennen wäre. Diese Sorte von Politik und Politikern wird unerträglich verharmlost mit dem Begriff. Ganz anders liegen die Dinge auf der anderen Seite des Spektrums. Linkspopulismus bedeutet, an den sakralen Modellen und Mustern des Neoliberalismus zu rütteln, aktuell gerade an der Frage der Finanzierbarkeit alternativer Politik in Europa. Was ist schlimmer – die Verharmlosung in dem einen Fall oder die Immunisierung in dem anderen Fall?
  13. Die Zukunft
    Fazit: wer den Begriff des Populismus als sinnstiftende Einheit in seinem politischen Vokabular abgespeichert und weiter in den Verwendungsapparat delegiert hat, hat die politische Analyse schon aufgegeben. Er weiß es nur noch nicht. Das liegt unter anderem daran, dass der Begriff des Populismus über die alten Lager hinweg ein kuscheliges Heimatgefühl vermittelt. Man kann sich einig fühlen gegen eine widerwärtige Welt der politischen Orks, egal woher sie stürmen. Dabei gäbe es noch so viele Fragen zu klären, z.B.: Was ist, wenn die Populisten die Macht übernehmen, also mehrheitlich gewählt werden? Ist dann das Volk an der Macht? Gibt es das überhaupt, regierende Populisten? Was machen die Populisten dann mit ihren Feinden, der Elite? Oder was machen die Populisten mit den vielen Populismusforschern? Können die Populisten den Begriff wieder aus der Welt schaffen? Genug der Fragen, sie sollen von den Experten, den Populismusforschern, geklärt werden, ihretwegen ist schließlich auch der Begriff in das politische Hier und Jetzt getreten.

 

 

 

Zur Epistemologie des Populismusbegriffs. Was man weiß, was man wissen sollte

Veröffentlicht in Varia

154 Wirtschaftsprofessoren sind bekümmert: „Nein zur europäischen Haftungsunion – Germany first“. Zur neuerlichen Symbiose von Nationalismus und Neoliberalismus

Dass Nationalismus und Neoliberalismus überaus enge Verwandtschaftsbeziehungen unterhalten, ist keine so neue Erkenntnis. Wenn Geistesströmungen oder Weltanschauungen in den grundsätzlichen Prämissen und Annahmen – dem Vorrang der eigenen Identität –, und dem Menschenbild dicht beieinander liegen, ist es wenig verwunderlich, dass sich die konkreten Ausprägungen des Weltbildes, die konkreten Schlussfolgerungen und die konkreten politischen Ziele in großen Teilen überlappen. Die Abzweigungen und Verästelungen zwischen Nationalismus und Neoliberalismus beginnen erst sehr spät, und sie sind dann auch nicht so, dass man sich von den verschiedenen Ufern aus, an die man geschwemmt wurde, nicht wiedererkennt.

Der Aufruf der 154 Wirtschaftsprofessoren mit fünf Kümmernissen, einer Zuspitzung und einem wirtschaftsliberalen Nachklapp ist an gedanklicher Armut, an Konfusion und nationalistischem Vorurteil kaum zu übertreffen.

In Punkt eins der Kümmernisse wird die im ESM noch nicht aktivierte, aber vorgesehene finanzielle Absicherung des Abwicklungsausschusses für die Bankenunion, die zweite Säule derselben, abgelehnt, weil, so die wenig überraschende Begründung, damit falsche Anreize gesetzt würden. Gemeint ist wohl in der üblichen marktradikalen Manier, dass man die potentielle Bank ohne Rücksicht auf Verluste besser in den Orkus der Insolvenz stürzen lässt.

In Punkt zwei tragen die Professoren vor, bei der Umwandlung des ESM in einen EWF rückten Nichtmitglieder der Eurozone in den EWF ein und könnten eventuell Gläubigerländer überstimmen, so dass der Bundestag sein Kontrollrecht verlöre. Nichts davon hat auch nur irgendetwas mit der Realität zu tun. Wer sich an Fakten halten will, sei auf den Verordnungsentwurf der Kommission verwiesen, in dem die Umwandlung des ESM in einen EWF vorgeschlagen wird (Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Einrichtung des Europäischen Währungsfonds). Weder in der Begründung noch in der Verordnung noch in dem vorgeschlagenen Text zum EWF (weitgehend identisch mit dem ESM-Text) steht auch nur die Spur davon, was sich die Herrschaften hier zusammenphantasiert haben.

Im dritten Punkt werden, kaum überraschend, die Interessen der deutschen Geldkapitalisten, die ihr Erspartes auf die Stadtsparkassen tragen, vertreten. Die dritte Säule der Bankenunion erfährt eine Abfuhr. Nicht dass da Kunden von maroden italienischen und spanischen Banken mit gutem deutschen Sparkassengeld im Insolvenzfall über eine europäische Versicherung bedient werden. Gut, dass deutsche Banken wie die HSH Nordbank und die Deutsche Bank so prima aufgestellt sind und im einen Fall nicht gerettet wurden und im anderen Fall auch in Zukunft nicht gerettet werden müssen.

Im vierten Punkt werden die Herrschaften nebulös. Gesprochen wird von „geplanten europäischen Investitionsfonds“, die zu weiteren Krediten und Transfers an Euro-Länder führen „dürften“. Wo immer der arme beauftragte Assistent abgeschrieben hat, reale Bezüge hat das nicht. Was es gibt, ist das „Programm zur Unterstützung von Strukturreformen“, das erstens nicht geplant ist, sondern bereits läuft (2017-2020), und zweitens außerordentlich bescheidenen Volumens ist (142,8 Mio. €). Ansonsten gibt es noch den „Europäischen Investitionsfonds (EIF)“, der seit 1994 besteht und in der Risikofinanzierung für kleine und mittlere Unternehmen engagiert ist, ebenfalls auf bescheidenem Niveau. Dann wäre da noch der sogenannte Juncker-Fonds, offiziell: „Europäischer Fonds für strategische Investitionen (EFSI)“, den gibt es aber auch schon, und er führt eher das Leben eines Papiertigers. Ansonsten ist nichts weiter konkret geplant oder in der europäischen Bürokratie. Was es tatsächlich gibt sind vage Denkmodelle im Rahmen des nächsten EU-Haushalts flexibel einsetzbare Fonds unterzubringen, also den so genannten EU-Haushalt wenigstens in Teilen zu einem richtigen Haushalt zu machen. – Originell ist auch, dass in diesem Zusammenhang, im gleichen Absatz, die Target-2-Salden genannt werden, bekanntlich ein reines Buchungssystem, auf das die Herrschaften aber gerne Zinsen für Deutschland hätten. Die nationaldemagogische Machart des Aufrufs – alles, was sich an antieuropäisch Aufgeladenem sammeln lässt, irgendwie in einen Zusammenhang zu bringen – springt gerade hier ins Auge. Fast schon könnte man das Kitsch nennen.

Der Abstrusitäten nicht genug. Das Namedropping wird fortgesetzt mit dem „Europäischen Finanzminister mit Fiskalkapazität“, gegen den man natürlich auch etwas hat, es aber vergessen hat zu sagen. Er wird als schädlicher Gesprächspartner der EZB ins Spiel gebracht, was noch nirgends in einschlägigen Papieren erwähnt wurde. Dann wird die Wassersuppe weiter gerührt und – ohne jeden Zusammenhang – werden die Anleihekäufe der EZB beanstandet. Kein Wettbüro in Europa nimmt noch Wetten für den Europäischen Finanzminister an, aber die professoralen Herrschaften haben etwas dagegen.

Das Pamphlet nähert sich seinem Höhepunkt: „Das Haftungsprinzip ist ein Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft.“ Soll wahrscheinlich heißen: auch der europäischen Integration. Und die Bundesregierung soll sich darauf „zurückbesinnen“, so als hätte sie es jemals verlassen.

Das Haftungsprinzip ist alles Mögliche. Es ist eine Kategorie aus der Betriebswirtschaftslehre, speziell der Versicherungswirtschaft, es ist eine Kategorie aus der Moralphilosophie, speziell der Erziehungstheorie, und es ist die neue Schlüsselkategorie des deutschen Neoliberalismus, mit der sich kongenial die Brücke zum Nationalismus schlagen lässt. Entgegen anderer Verlautbarungen: Das Haftungsprinzip ist keine Kategorie der Politik und schon gar keine der Europapolitik. Was es aber dann doch ist: Es ist die Übersetzung ins Deutsche von – „America first“. Endlich sind die deutschen Wirtschaftsprofessoren auf der Höhe der Zeit, der Zeit der Orange, angekommen.

Die alten Kümmernisse und Aufrufe der Professoren sind konsequenterweise eingeflossen in eine neonationalistische Partei im Bundestag. Mit dem Aufruf „Der Euro darf nicht in die Haftungsunion führen“ ist eine weitere Symbiose von Nationalismus und Neoliberalismus gelungen, allerdings auf einem erbärmlichen Niveau. Sogar den nahen Verwandten aus dem internationalen Quartier des Neoliberalismus ist dieser stinkige Nationalismus unerträglich geworden.

1968-2018: Ungeheuerliches aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Für all die Vergesslichen, Somnambulen und Dummköpfe, die nicht wissen, was man gegen festgefressene Exportüberschüsse machen kann

Wie sich die Zeiten doch ähneln und auch wieder unterscheiden.

1968, in der Endphase der Bretton-Woods-Ordnung (und so mancher anderer Ordnung), wurde über eine Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar und weiteren Währungen spekuliert, national und international. Im Herbst des Jahres nahm der Druck auf die Bundesrepublik rasch zu. Der Exportüberschuss von zuletzt 15 Milliarden D-Mark jährlich – heute wäre das die Größenordnung von nicht einmal zwei Wochen (2016) – machte die Westdeutschen im Ausland immer unbeliebter. Der sich nach und nach liberalisierende Kapitalverkehr sorgte für reichlich Zustrom an Spekulationsgeldern. Der Bundeskanzler der seinerzeitigen Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, ein Alt-Nazi, trachtete danach, eine Aufwertung mit allen Mitteln zu verhindern, er wolle lieber zurücktreten, als der Kanzler einer aufwertenden D-Mark sein. Wie heute wurden die Exportüberschüsse also mit Zähnen und Klauen verteidigt.

Als für den November des Jahres 1968 eine Währungskonferenz in Bonn anstand, mussten die Bonner Verantwortlichen etwas anbieten. Das ist der Unterschied zu heute: Damals musste man etwas anbieten, die langen Schatten der Geschichte trübten noch das wirtschaftliche Erfolgsmodell der Deutschen, heute reichen dummes Herumgequatsche, Rechtfertigungstiraden und absurde Behauptungen zum Thema „Überschüsse“. Was dachte man sich 1968 aus, gewissermaßen als kleineres Übel statt der Aufwertung?

Auf der Währungskonferenz (20.-22. November 1968) reüssierte man mit einem Kommuniqué, das

  • eine vierprozentige Exportsteuer und
  • eine vierprozentige Steuererleichterung auf Importe

verkündete. Die „Ersatzaufwertung“, so nannte es die Bundesbank damals, war befristet auf den 31. März 1970. Den Druck auf die Aufwertung der D-Mark konnte sie längerfristig jedoch nicht ableiten: Am 24. Oktober 1969, etwa ein Jahr später, verfügte die neue sozialliberale Koalition eine Aufwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar von 8,5 Prozent.

Was vermittelt uns dieser Rückblick in das unruhige Jahr 1968?

Die klandestine Allianz von neoliberaler Wissenschaft, Gewerkschaften und Fast-Allparteien, die sich zum Fürsprecher des deutschen Wirtschaftsmodells der strotzenden Exporte und der ärmlichen Importe macht, muss heute keine Verteidigungsbarrikaden mehr gegen eine Aufwertung hochziehen. Im Euro und der Währungsunion profitiert die deutsche Exportwirtschaft von einer systemisch bedingten, dauerhaften Unterbewertung. Wie sonst auch sollte erklärt werden, dass gerade mit dem Beginn der Währungsunion die Explosion der deutschen Überschüsse eingesetzt hat?

Obwohl die deutschen Überschüsse fünfzig Jahre nach 1968 geradezu in absurde Höhen geschossen sind, gelingt es dem Ausland, auch dem EU- oder Eurozonen-Ausland nicht mehr, wirksamen Druck auf Deutschland aufzubauen. Die Kommission kann im Rahmen ihrer makroprudenziellen Überwachung Jahr für Jahr die deutschen Überschüsse inkriminieren – im Endeffekt verpuffen ihre Hinweise auf eine Stärkung der Binnennachfrage, höhere Investitionsausgaben und vernünftige Tarifabschlüsse.

Falls es ein wirkliches Interesse – sei es in der EU, sei es in der Eurozone – gibt, das deutsche Modell wirksam in eine andere Richtung zu bewegen – nicht nur in Reden (Macron), Beiträgen (Wissenschaft) und Empfehlungen (Kommission, IWF, OECD) –, dann wird den europäischen Partnern nichts anderes übrigbleiben, als die Grundlagen des deutschen Modells, das Modell des Staatenwettbewerbs, als solches rabiat zum Thema zu machen. Dass Integration im Handelsbereich ihren Ausgangspunkt genommen hat, lag daran, dass man sich auf diesem Gebiet verhältnismäßig schnell einigen konnte. Es bedeutete nicht, dass damit auch das Ende der Integration erreicht war und sich der gesamtwirtschaftliche Großraum Europa in einzelne nationale Parzellen auseinanderlegt, die über Lohnkonkurrenz und Sozialdumping in Wettbewerb zueinander stehen.

Vielleicht sollte angelegentlich des Jubiläumsjahres 1968 über all die schönen kulturellen Phänomene hinaus auch einmal an Exportsteuern und Importsubventionen erinnert werden.

Leistungsbilanz