Wider das Narrativ von der europäischen Integrationsteleologie. Kiran Klaus Patels Geschichte des Projekts Europa.

Kiran Klaus Patel, „Projekt Europa. Eine kritische Geschichte“, München 2018, Verlag C.H.Beck, 463 Seiten.

Von wem genau sich der Autor mit dem im Buchtitel anklingenden Kritikaspekt absetzen will, wird nicht ganz klar. Von anderen historischen Darstellungen zur europäischen Geschichte oder von den in den Hochglanzflyern präsentierten Selbstdarstellungen der EU – das wird nicht ganz klar. Der Bezug auf letztere wäre nicht der Mühe wert, geht es dort doch um vereinfachende politische Werbung. Ein expliziter Bezug auf andere historische Darstellungen wird im Buch nicht hergestellt.

Ansonsten muss man bei dem Label „Kritik an Europa“ ja mittlerweile auf der Hut sein. Für die Verlage scheint es sich zu rentieren, darunter schlicht dümmliche nationalistische Propaganda zu publizieren, nach dem aus anderen Wäldern bekannten Motto „Das muss man doch mal sagen dürfen“. Von dieser Machart ist das vorliegende Werk Patels, das sei ausdrücklich betont, nicht.

Der Historiker Kiran Klaus Patel greift eine Vorstellung von europäischer Geschichte auf, die – in der Art von Matroschkapuppen – eine Teleologie in den Anfängen sucht, die mit eherner Notwendigkeit zu der heutigen EU geführt habe. Der Samen, der mit der EGKS gesät, gut gedüngt und gewässert wurde, sei Jahrzehnte später als das kunstvolle Gebilde der Europäischen Union aufgegangen. Dem will Patel mit seiner material- und quellengestützten Historiographie bis zum Maastrichter Vertrag in acht Kapiteln, nicht in einer Chronologie, sondern gereiht nach acht Themen, entgegenarbeiten.

Im Kapitel „Europa und europäische Integration“ (1) steht im Mittelpunkt der Darstellung, dass es bis in die 70er Jahre hinein keineswegs ausgemacht war, dass es die EG war, die zum zentralen Bezugspunkt für westeuropäische Integration wurde. Im Gegenteil. Patel zählt auf, dass sich im Zeitraum zwischen 1945 und 1948 global rund hundert internationale Organisationen gründeten, die Zahl schwoll bis 1960 auf 1255 an (S. 24). In Europa gab es den Europarat und die OEEC, mit denen sich viele Hoffnungen verknüpften, es gab die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE), die EFTA, die EZU, die Europäische Produktivitäts-Agentur usw. Die Gründung der EGKS (1952) und der EWG (1957) waren keineswegs Einzelphänomene, sondern Organisationen in einem „Labyrinth“ (S. 28). Dass sich die EG schließlich durchsetzte, war eher „unwahrscheinlich“ (S. 50), so der Autor. Dass die EG das bedeutendste Forum für europäische Kooperation wurde, lag an drei Faktoren: 1.) dem speziellen Ansatz im Handel, der geeignet für spill overs war, 2.) dem Recht, das eine autonome Entwicklung nahm, und schließlich 3.) daran, dass die EG finanzielle Ressourcen zu verteilen hatte. Einen „Masterplan“ bzw. eine „Intentionalität“, wie dies häufig erzählt wird, gab es nicht.

Im Kapitel „Frieden und Sicherheit“ (2) berichtet der Autor – wenig überraschend –, dass die EG im untersuchten Zeitraum bis 1990 auf keiner der drei Ebenen der Friedensdimension (Welt, Inneres, Soziales) eine entscheidende Rolle gespielt hat. Zu sehr war die alles übergreifende NATO präsent und zu sehr sorgten sich die Nationalstaaten für die anderen Aspekte des Friedens. Selbst die als konkretes Friedensprojekt geplante Montanunion konnte nicht mit überzeugenden Ergebnissen dienen. Die Kohlekrise Ende der 50er Jahre vermochte die Hohe Behörde nicht im Ansatz zu regulieren, Historiker kamen später auf die Idee, sie als „supranationale Investitionsruine“ (S. 78) zu bezeichnen.

Das Kapitel über „Wirtschaftswachstum und Wohlstand“ (3) beschäftigt sich zunächst etwas länglich mit einer Frage, die empirisch nicht zu beantworten ist, nämlich der Frage, wie hoch der Beitrag des Einigungsprozesses zum Wirtschaftswachstum in der Betrachtungsperiode war. Letztlich lässt der Autor die Frage offen, vermutet aber, dass der Beitrag nicht allzu hoch anzusetzen ist. Der Autor hält weiter fest, dass der Stellenwert der Sozialpolitik in jener Zeit nie im Mittelpunkt stand. Am Ende folgt noch eine interessante Aussage: „Eine klare wirtschaftstheoretische Ausrichtung lässt sich nicht ausmachen. Die EG stand für Handelsliberalisierung, verschärften Wettbewerb und das Marktprinzip, aber auch für Protektionismus, Regulierung und teilweise sogar für zentralistische Planung unter kapitalistischen Vorzeichen… Einem eindeutigen Modell, etwa dem Neoliberalismus oder dem deutschen Ordoliberalismus, lässt sich die EG .. nicht zuschlagen“ (S. 146).

Im Kapitel „Werte und Normen“ (4) liest man, dass sich die EG lange schwer damit getan hat, diesen Politikbereich in sich aufzunehmen. Letztlich gelang dies ja erst mit dem Verfassungsvertrag (2005) bzw. dem Lissabon-Vertrag (2007). Eine Station bestand darin, dass sich die EG in den 60er Jahren dazu verhalten musste, dass sich 1967 in Griechenland eine Militärjunta an die Macht putschte, in einem Land also, mit dem sie ein Assoziationsabkommen hatte. Die EG entschloss sich dazu, die Beziehungen einzufrieren, während bspw. die Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland (auch die NATO) weiter Beziehungen mit dem Land pflegten. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung wertegebundener Positionen spielt auch der Europarat.

Im etwas missverständlich titulierten Kapitel „Partizipation und Technokratie“ (5) geht es um Akzeptanz und Ansehen der Gemeinschaft bei „ihren“ Bürgern zwischen zivilgesellschaftlicher Partizipation und Elitenpolitik. Die Darstellung bildet die Europapolitik der Nazis ab, die Initiativen Coudenhove-Kalergis und Denis de Rougemonts, auch Hannah Arndts, Churchills und der westeuropäischen Kommunisten. Warum gelang es nicht, zivilgesellschaftliches Engagement für Europa zu mobilisieren? Weil die Integrationsmaterie eben technokratisch ist, so der Autor. Auch weil die Akteure Europa für zu wichtig hielten, als dass sie es den Launen der Völker überantworten wollten. Alles in allem blieb Europa ein „Adiaphoron“, ein Ding, das weder angenehm noch unangenehm, weder lohnens- noch tadelnswert ist, mithin den Menschen gleichgültig oder, anders formuliert, das Ergebnis eines „permissiven Konsenses“.

Im – unnötig sensationistisch aufgemachten – Kapitel „Bürokratisches Monster oder nationales Instrument“ (6) erfährt der Leser, dass die EG/EU das Gegenteil eines „Bürokratischen Monsters“ – einen solchen Unsinn glauben nur rechtsradikale Idioten oder Enzensberger – ist. Der Verfasser wusste es natürlich auch schon vor seiner Untersuchung, dass „die EG erstaunlich klein und kompakt“ (S. 232) ist, dass sie mit einem kleinen, außerordentlich sachkundigen Beamtenapparat auskommt und „mausgrau, aber wirkungsvoll“ arbeitet, u.a. weil sie sich mit den nationalen Bürokratien verflochten hat. Das Cassis-de-Dijon-Urteil des EuGH von 1979 wird in seiner Bedeutung für den Integrationsfortschritt referiert (S. 242 ff.), es führte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, ebenso die Neue Konzeption (Festlegung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen) sowie die Einführung des Artikel 100a (Maßnahmen der Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften). Das früher außerordentlich europa- und integrationsfreundliche Italien wird erwähnt, das aber viele Beschlüsse wegen der fehlenden „administrativen Leistungskraft“ kaum umsetzen konnte (S. 259).

Im Kapitel „Desintegration und Dysfunktionalität“ (7) wird hervorgehoben, dass der Integrationsprozess nicht immer nur die eine Richtung kannte, also dem Narrativ des „immer engeren Zusammenschlusses“ folgte, sondern Algerien 1962, Grönland 1985 und die Insel Saint-Barthélemy in der Karibik 2012 die Gemeinschaft verließen, der Luxemburger Kompromiss 1966 schon eine Verabschiedung von dem supranationalen Integrationsprinzip brachte, die Montanunion Ende der 50er Jahre schon nicht mehr funktionierte und mit dem Lissabon-Vertrag die Austrittsmöglichkeit in den Vertrag rückte. Insgesamt gehören Desintegration und Dysfunktionalität, wie man am Beispiel der unsanktionierten rechtsstaatlichen Verstöße osteuropäischer Länder sieht, heutzutage zum Alltag der EU.

Im Kapitel über die „Gemeinschaft und ihre Welt“ (8) erfährt der Leser, dass die Kommission immer wieder versuchte, als Akteur nach außen in Erscheinung zu treten, ihr dies aber selten gelang. Sicherheitspolitisch blieb bspw. die NATO die bestimmende Größe. Zwar entwickelte sich eine gewisse Eigendynamik, mehr aber ließen die Mitgliedstaaten nicht zu.

Dass sich der Autor in der jüngeren europäischen Geschichte nach Maastricht noch nicht so gut auskennt, merkt man an folgender Einschätzung:

Wahrscheinlich hätte es selbst ohne das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Einheit einen Integrationsschritt in Form eines neuen Vertrags gegeben. Das gilt besonders für die Wirtschafts- und Währungsunion. So sei die in Deutschland lieb gewordene Legende, dass in Maastricht die Bundesregierung die solide Deutsche Mark als europäischen Preis für die nationale Einheit habe opfern müssen, ins Reich der Mythen verbannt. Tatsächlich waren die Verhandlungen über eine gemeinsame Währung seit den 1970er Jahren in Gang gekommen und hatten im Verlauf der 1980er Jahre Tempo aufgenommen; insofern war das Fundament der Währungsunion bereits Ende der 1980er Jahre gelegt. Ein Scheitern der Verhandlungen über eine europäische Währungsunion wäre in Maastricht nicht unmöglich, aber doch recht unwahrscheinlich gewesen. Für eine derartige Übereinkunft gab es genuin währungs- und wirtschaftspolitische Gründe – nichts zuletzt angesichts des Binnenmarktprojekts seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Der Umbruch von 1989/90 machte die Sache lediglich noch dringlicher“ (S. 343).

Es mag sein, dass dem Historiker Kohl 1990 mit der Hergabe der D-Mark vorschwebte, eine Opferzeremonie für die Nationenbildung zu inszenieren, etwa nach dem Motto: „Die gute Deutsche Mark musste für die noch viel wertvollere deutsche Einheit hergegeben werden.

Patel ist aber insofern zu widersprechen, als die Wahrscheinlichkeit eher für die Gegenthese spricht, dass nämlich ohne die Epochenwende keine Währungsunion gekommen wäre. Hier nur einige Argumente: 1.) Im Sommer 1989 lag ein unverbindlicher Plan vor, der Delors-Plan, der, wie der Werner-Plan rund zwei Jahrzehnte vorher auch im historischen Nichts hätte auslaufen können. 2.) Nur mit größtem Druck Mitterrands ließ sich Kohl Ende 1989 zu der Einberufung einer Regierungskonferenz zum Thema „Währungsunion“ bewegen. 3.) Die Bundesbank und ihr Präsident (Pöhl) hatten nur mit größtem Widerwillen bei der Arbeit im Delors-Ausschuss mitgemacht. Ihre Abneigung gegenüber der Währungsunion und – nach der totalen „Niederlage“ (deutsche und europäische Währungsunion) – ihre Rachegelüste und vielleicht auch Torpedierungsversuche in Hinblick auf den Übergangsprozess lassen sich an der Irrationalität ihrer Zinspolitik 1992/93 in etwa ermessen. 4.) Die klare Mehrheit der (West)Deutschen wollte keine europäische Währungsunion.

Insgesamt stellt das Werk Patels eine sehr lesenswerte EG-Geschichte zwischen 1952 und 1990 dar, die mit vielen wenig bekannten Details und Zusammenhängen sowie mit immer wieder neuen Perspektiven zu überzeugen weiß.

 

Emphatisches Plädoyer für mehr Europa

Emphatisches Plädoyer für mehr EuropaDer Verfasser, Christian D. Falkowski, hat viele Jahre seines beruflichen Lebens bei der Europäischen Kommission im Bereich der Außenbeziehungen gearbeitet und berichtet vor diesem Hintergrund, dass er im Ausland oftmals erklären musste, was das eigentlich ist – früher die EG heute die Europäische Union. So hat sich ein reicher Erfahrungsschatz gebildet, den er in ein Buch umsetzt, das nicht in den wissenschaftlichen Diskurs eingreift, sondern für die europapolitische Bildungsarbeit versucht zu erklären, wie wertvoll die EU für ihre Bürger ist – daher der Titel.

Die Ausgangslage für die europapolitische Bildungsarbeit ist immer höchst unbehaglich. Man muss die EU preisen, damit einem an sich wenig interessierten Publikum der Appetit entsteht. Das ist zwar sehr tapfer gedacht, die Frage aber bleibt, ob solch Unterfangen erfolgreich zu sein vermag und ob es nicht Alternativen gibt. Auf Anbiederung ist das europäische Projekt an sich nicht angewiesen.

Mit Blick auf die Eurokrise arbeitet der Verfasser gut heraus, dass an deren Anfang und in deren Verlauf ein neuer deutscher Nationalismus steht, das betraf die wirtschaftspolitische Krisenbearbeitung, den Atomausstieg und die Flüchtlingskrise (S. 260).

Richtig hält der Verfasser fest: „In der Euro-Krise hat nicht die Europäische Kommission, nicht der EU-Präsident, nicht der Ratspräsident, oder Italien, Spanien, Großbritannien bestimmt, wo es langgeht, sondern die deutsche Regierung im Schulterschluss mit Frankreich… Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Deutschland durch das Friedensprojekt EU, das es nach leidvollen Erfahrungen mit dem Nationalismus so eifrig verfolgt hat, jetzt als Hegemon des Kontinents gesehen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass die deutsche Politik sich einer Führungsrolle verweigert, auch wenn es manchmal den gegenteiligen Anschein hat. Sie schwankt zwischen kurzfristigem Krisenmanagement und Verdrängung, beschränkt sich ansonsten auf das Ausbremsen der Initiativen anderer Mitgliedstaaten und wirkt insgesamt orientierungslos“ (S. 259).

An diesen Thesen ist vieles richtig, nur nicht der Schluss. Deutschland hat in der Eurokrise weder „verdrängt“ noch hat es „orientierungslos“ agiert. Im Gegenteil. Die Krise wurde ohne Not vom Zaun gebrochen und Deutschland hat knallharte Interessen durchgesetzt. Die Krise wäre 2010 durch eine politische Beruhigung der Kapitalmärkte, durch entschiedenes Eingreifen der EZB oder durch Eurobonds eindämmbar gewesen. Stattdessen hat man eine bornierte Austeritätspolitik durchgesetzt und damit größtes Unheil angerichtet. In der Euro-Krise hat Deutschland den ordnungspolitischen Umbau der Währungsunion vorangetrieben. Das nennt man Europapolitik – und zwar ohne „Schulterschluss mit Frankreich“.

Dann folgt des Verfassers Hauptfehler. Eingeengt in das theoretische Duopol von Intergouvernementalismus und Gemeinschaftsmethode sieht der Autor – wie die ganz große Mehrheit der Europabeobachter und -wissenschaftler – als Alternative zum Intergouvernementalismus nur die Ausdehnung der Gemeinschaftsmethode.

Mit dem Intergouvernementalismus verfolgen die großen Mitgliedstaaten Eigeninteressen und eben nicht das Gemeinwohl aller, das, was den Mehrwert Europas ausmacht, mit der Folge von Fragmentierung und Schwächung der Solidargemeinschaft“ (S. 261). Der Autor empfiehlt daher eine Stärkung von Kommission und EU-Parlament. Damit manövriert er sich aber in eine Sackgasse, da die Zukunft der europäischen Integration, wenn man so will, intergouvernementalistisch geprägt sein wird.

Überraschend ist daher die Feststellung: „Der Vertrag von Lissabon bestärkt die Rolle der Europäischen Kommission“ (S. 265). Das Gegenteil ist der Fall. Mit der Einrichtung des Amts des Ratspräsidenten und der Zuständigkeitsbeschreibung des Europäische Rats, der jetzt für alle politischen Grundsatzentscheidungen Zuständigkeit reklamieren kann, ist der supranationale Integrationsweg endgültig ausgelaufen, wenn es ihn denn jemals gab. Die Kommission und damit die Gemeinschaftsmethode haben seit den Maastrichter Verhandlungen einen beispiellosen Abstieg hinter sich gebracht.

Dessen ungeachtet – das Buch lohnt der Lektüre. Eine gründlichere Durchsicht auf die verschiedenen Aspekte der Sprachrichtigkeit hin hätte ihm allerdings gutgetan.

25 Jahre Vertrag von Maastricht (Michael Anderheiden, Hrsg.) – Ein Tagungsband mit ungarischem Schwerpunkt

Aus dem Buchtitel geht nicht hervor, dass der Tagungsband (Oktober 2017) einen ungarischen Schwerpunkt hat. Die Tagung wurde von der Baden-Württemberg-Stiftung und der Andrássy-Universität (Budapest) durchgeführt. Sechs von fünfzehn Beiträgen des Symposiums beschäftigen sich mit ungarischen bzw. osteuropäischen Themen. Das Spektrum der Beiträge reicht von einer historischen Einordnung des Maastrichter Vertrags über den Binnenmarkt und die Subsidiaritätsfrage, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zur Sozialpolitik. Der Beitrag zur Maastrichter Währungsunion geht auf Auswirkungen auf das ungarische Wirtschaftsrechtssystem ein. Attila Vincze, der Verfasser des Beitrags, referiert zur Theorie der optimalen Währungsräume, was an sich mit der Maastrichter Währungsunion nichts zu tun hat, da sie nicht das Ergebnis einer Erwägung über die Effizienz und Tragfähigkeit einer Währungsunion war, sondern politischem Kalkül entsprang. Er geht auch, wie so viele Autoren, auf das angebliche Bail-out-Verbot ein, vergisst aber die Frage zu stellen, welche Strafe auf eine Verletzung des angeblichen Verbots vorgesehen ist. Die Antwort lautet: Keine, denn das Verbot existiert nicht. Schließlich streift der Autor – leider nur – die Frage, ob der anhaltend hohe Überschuss der deutschen Zahlungsbilanz das Funktionieren der Eurozone gefährdet. Auch die Frage, ob es sich bei der Unvollkommenheit und dem Konstruktionsfehler der Währungsunion – dem fehlenden Notmechanismus – um einen geplanten oder ungeplanten Konstruktionsfehler handelt, lässt er offen.

 

 

 

 

 

Miserabel: Eine EU-Geschichte aus niederländischer Sicht. Van Meurs u.a, „Die Unvollendete. Eine Geschichte der Europäischen Union“. Zu einer blamablen Veröffentlichung der Bundeszentrale für politische Bildung

Das Büchlein erhebt nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Analyse, sondern will lediglich einen „Überblick“ verschaffen, um als Lehrbuch an Universitäten eingesetzt zu werden. Die armen Studentinnen und Studenten. Das Büchlein ist, um es vorwegzunehmen, eine oberflächliche, sachlich mehr als oft falsche und peinliche Kompilation ohne jeden europäischen Bildungswert.

Hier eine Auswahl der Fehler: Das System von Bretton Woods habe, so die Autoren, den gegenseitigen grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr geregelt (S. 35), was Unsinn ist, es war, Ende der fünfziger Jahre, die EZU. Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Werner-Plan (1970) und der Maastrichter Währungsunion (1992/2002), wie ihn die Autoren unterstellen (S. 84 f.), gibt es nicht. Das eine hat mit dem anderen förmlich nichts zu tun. Den Unterschied zwischen Ökonomisten und Monetaristen haben die Autoren nicht verstanden (S. 85), was sie dazu schreiben ist Kauderwelsch. Über den Maastrichter Vertrag hat man schon viel gelesen, ihn als „Fehlversuch“ (S. 142) zu kennzeichnen, ohne jeden Hinweis auf die komplexe Verhandlungssituation von 1990, ist zwar sportlich, aber mehr als abwegig, noch schlimmer die Formulierung, er stelle „einen Mittelweg zwischen Union und sektoraler Integration“ (S. 145) dar. Was die „kommunitäre EU“ (S. 173) ist, werden nur die Autoren wissen. Nicht einmal einfach zu recherchierende Zahlen stimmen: dass der ESM 1 Billion Euro „zur Verfügung“ (S. 205) hat, lässt sich durch einfaches Nachschlagen bei Wikipedia korrigieren. Dass die Schweiz ein „potenzieller Kandidat“ (S. 214) für die EU-Erweiterung (Redaktionsschluss: Dezember 2017!) ist, wird nicht nur die Schweizer überraschen.

Von der Eurokrise haben die Autoren nachgerade nichts verstanden. Hier schlägt die angestrebte sachliche Darstellung in interessierte Parteinahme um.

Beispiel: „Die jüngste Eurokrise und der Transfer von Milliarden Euro von Nord- nach Südeuropa ist eine Zerreißprobe für das Ideal der europäischen Solidarität“ (S. 16). Richtig ist: Es hat in der Eurokrise bislang keine Transfers gegeben. Es gab immer nur Kreditverhältnisse, die letztlich dazu geführt haben, dass die nördlichen Gläubigerstaaten in Gestalt von Zinserträgen (z.B. aus Griechenland-Krediten) und Niedrigzinsen der EZB von der Krise profitiert haben. Das gilt unter Absehung von dem griechischen Haircut von 2012, der aber auch kein Nord-Süd-Transfer war.

Ganz und gar gedankenlos plappern die Autoren nach, was der nordeuropäische Neoliberalismus an Desinformationen über die Eurokrise in die Welt gesetzt hat: „Die ‚No-bail-out‘-Klausel des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beinhaltete ein Verbot, Mitgliedstaaten wegen Überschuldung zu retten“ (S. 205). Nichts davon steht in dem genannten Vertrag. Tatsächlich steht dort: „Die Union haftet nicht für Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein…“ Kein Wort von Verbot oder ähnlichem. Den Inhabern von Bonds wird in der Bestimmung lediglich signalisiert, dass sie im Falle von Finanzierungsschwierigkeiten eines Staates oder gar einer Insolvenz nicht damit rechnen können, dass die Union für den Ausfall aufkommt.

Weiter geht die haarsträubende Darstellung der Eurokrise mit der Behauptung, dass die EZB „gezwungen“ wurde, „den europäischen Banken günstige Kredite zu geben – eine indirekte Unterstützung für die Staaten in finanzieller Notlage“ (ebd.). Wer hat wann „gezwungen“? Wo ist der Beleg? Und wenn: Soll europäischen Staaten in Notlage nicht geholfen werden?

Die erste Gipfelhöhe an Unfug folgt auf dem Fuß: „Erst als Ende 2011 deutlich wurde, dass die beschlossenen Maßnahmen der EU das Vertrauen der Finanzmärkte und der Ratingagenturen nicht wieder herstellen konnten, endete der Europäische Rat von Brüssel im Dezember 2011 mit der feierlichen Verpflichtung von 26 Mitgliedstaaten, eine Fiskalunion zu schaffen, mit dem euroskeptischen Vereinigten Königreich als einzigem Verweigerer. Die Fiskalunion impliziert einen radikalen Eingriff in die nationale Souveränität bei Staatshaushalt und Fiskalpolitik. Alle Staaten würden einer strengen und umfassenden Kontrolle ihrer jährlichen Politik und Finanzen durch die Europäische Kommission unterliegen, und Sünder würden faktisch unter Brüsseler Kuratel gestellt werden. Ab dem 1. Januar 2013 wurde diese Fiskalunion eine Tatsache“ (S. 206). Nichts davon stimmt mit den Fakten überein. Was die Autoren meinen ist der sogenannte Fiskalpakt, der Begriff fällt allerdings nicht. Dieser Fiskalpakt – offiziell: „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ – begründet keine Fiskalunion, sondern enthält einige, den so genannten Stabilitätspakt ergänzende Haushaltsregeln. Von einer Fiskalunion ist das Regelwerk meilenweit entfernt. Reinen Blödsinn stellt die Behauptung dar, „Sünder“ würden „faktisch unter Brüsseler Kuratel gestellt“. Tatsächlich ist es so, dass die Sanktionsmöglichkeiten der Kommission sehr begrenzt sind. Und am Ende, im Falle von Strafzahlungen, entscheidet nicht die Kommission, sondern der Ministerrat. Ansonsten: den Fiskalpakt hat nicht nur Großbritannien nicht unterschrieben, sondern auch Tschechien.

Die zweite Gipfelhöhe an Unfug, eher schon Peinlichkeit: Die Bürger in den wohlhabenderen Ländern des Nordens waren, so die Autoren, „verblüfft über das schiere Volumen an Finanztransfers im Umfang von mehreren Billionen und Garantien für die südlichen Mitgliedstaaten“ (S. 228). Wahrscheinlich meinen die Autoren Billionen Euro. Verblüfft waren aber nur sie. Die Wahrheit ist, wie oben bereits angedeutet: kein einziger Euro ist in der Krise von Norden nach Süden geflossen, der Transfer hatte – wundersames Phänomen – die umgekehrte Richtung.

Dergleichen Gemisch von sachlichen Fehlern und ideologischen Einfärbungen findet sich noch viel mehr.

All das lässt nur einen Schluss zu: Die Autoren legen sich die Karten so zurecht, dass eine nordeuropäisch-neoliberale Krisendeutung herauskommt. Schlimm, dass mit einem solchen Werk ideologischer Voreingenommenheit niederländische Student/inn/en in der Ausbildung konfrontiert werden. Schlimmer noch, dass die Bundeszentrale für politische Bildung ein solch blamables Werk auf den deutschsprachigen Markt bringt. Wer hat da nur kontrollgelesen?

 

 

 

 

Zwischen Krisenanalyse und Krisenauswirkungen. Adam Toozes „Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben“

Die Geschichtswissenschaften interessieren sich für Zusammenhänge von Ereignissen, Akteuren und Staaten, das Vorher und Nachher, Reihen- und Abfolgen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Trends, suchen das Neue im Alten usw. Schon von ihrer Natur her sind sie daher deskriptiver als andere soziale Wissenschaften. Die ökonomische Wissenschaft interessiert sich demgegenüber mehr für Erklärungen und Kausalitäten, für das Warum, für Übereinstimmungen oder Diskrepanzen mit theoretischen Modellen usw. Toozes umfangreiches Werk liegt, wie in der Wirtschaftsgeschichte zwangsläufig, genau zwischen den beiden Mutterdisziplinen. Es breitet das Kontinuum der Ereignisse seit der Lehman-Insolvenz 2008 einschließlich der Vorgeschichte bis zur Gegenwart 2018 fast minutiös aus und offeriert an dieser und jener Stelle Erklärungen und Ursachenanalysen.

Das Buch präsentiert von der Materialverarbeitung her eine angelsächsische Perspektive. Dadurch werden manche Hintergründe und manche Vorgänge anders herausgearbeitet, es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man für die Hintergründe der Tagesereignisse auf die Financial Times, wie Tooze das tut, zurückgreift oder die Zeitung für Deutschland mit ihren massiven ideologischen Interventionen, die nicht mehr zwischen Berichterstattung und Beurteilung zu unterscheiden vermögen. Der britische Wissenschaftler hatte für seine Arbeit Kontakt zu wichtigen Akteuren der praktischen Krisenpolitik, z.B. Pierre Moscovici und Frans Timmermans, er führte Interviews u.a. mit Mario Monti und Giulio Tremonti, er konnte auf die Memoiren von Timothy Geithner und Ben Bernanki zurückgreifen. Sein „Doktorvater“ war Alan Milward, einer der Großen in der europäischen Integrationstheorie und -geschichte.

Das Buch besteht aus vier Teilen: Teil I behandelt die Vorgeschichte der Krise („Ein Sturm zieht auf“), Teil II thematisiert die Finanzkrise selbst mit dem Zentrum in den USA („Die globale Krise“), Teil III begibt sich nach Europa („Eurozone“) und Teil IV widmet sich der Nachgeschichte der Krise („Nachbeben“). Die folgende Besprechung konzentriert sich auf den europäischen Teil der Darstellung, einerseits weil es den Rahmen einer Rezension sprengen würde, wenn das Gesamtwerk Thema wäre, andererseits weil der zweite Teil, die Große Finanzkrise in den USA, relativ unumstritten darstellbar ist.

 

 

Eine inhaltsschwere Einleitung

Einleitungen werden häufig nach Abschluss des Werkes geschrieben, auch um Hauptergebnisse anzudeuten oder vorzubereiten oder Spannung aufzubauen. Das Werk muss dann nach Abschluss der Einleitung noch einmal in die Redaktion. Bei Tooze ist da leider etwas schief gegangen, weil er zentrale Ergebnisse in der Einleitung präsentiert, die eigentlich in den Schluss gehören und wenn sie schon in der Einleitung stehen, hätte das Resümee sie noch einmal aufgreifen müssen. Wie dem auch sei. Fest steht, dass allein die 25 Seiten umfassende Einleitung es verdient hätten, als Aufsatz publiziert zu werden, da ihre Lektüre außerordentlich lohnenswert ist, nicht unbedingt, weil man allen dort präsentierten Thesen zustimmen muss, sondern weil der richtige Rahmen aufgestellt und die richtigen Fragen aufgeworfen werden.

Zwei höchst instruktive Thesen stehen im Zentrum der Einleitung.

Die erste These betrifft den Charakter der Krise, die konventionelle Wirtschaftslehre und die Politik der Fed. Leider trennt Tooze diese Aspekte nicht und leider geht er im Verlauf seiner Darstellung und im Schlussteil nicht mehr auf dieses Thesenbündel ein. Es hätte sich gelohnt. Um das Bündel auseinanderzunehmen: a) Die herkömmliche Sichtweise auf die Weltwirtschaft, so lautet These 1 (S. 17-20), gehe von Nationalwirtschaften aus und argumentiere mit nationalen Größen wie Haushaltsdefiziten und Leistungsbilanzungleichgewichten. Diese volkswirtschaftliche (von Keynes theoretisierte) Sichtweise („Inselmodell“) gehöre der Vergangenheit an, die 2008er Krise habe ein neues Phänomen gezeigt, dass nämlich nicht mehr Volkswirtschaften die bestimmenden Größen der Globalisierung sind, sondern „ineinandergreifende Matrixen“ aus dem Finanzsektor stammender Konzerne und Konzernbilanzen, die keine nationalen Grenzen mehr kennen. Hier folgt Tooze in Begriff und These dem Chefökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), H.P. Shin. b) „Unter Fachleuten ist man sich weitgehend einig, dass die Swap-Linien, mit denen die amerikanische Notenbank Dollars in die Weltwirtschaft pumpte, womöglich die entscheidenden Neuerungen der Krise waren“ (S. 21). Dieses weit unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit gebliebene Phänomen wurde überdeckt von den Rettungsaktionen großer Institute und den neuen Zentralbankpolitiken. Mindestens die Hälfte der von der Fed zur Verfügung gestellten Mittel zur Aufrechterhaltung der Liquidität im Finanzsektor, so Tooze, gingen an nicht-amerikanische, meist europäische Banken (S. 23). Diese Art von Entschlossenheit, „Großzügigkeit“ und „Verantwortungsbewusstsein“, so ließe sich hinzufügen, hätte man der EZB in der Entstehungszeit der Eurokrise auch gewünscht

Der Vortrag von Shin, auf den sich Tooze beruft, findet sich hier:

https://www.bis.org/speeches/sp170625b_slides.pdf

Die zweite These betrifft den europäischen Teil der Krise bzw. das Verhältnis von 2008er Finanzkrise und Eurokrise 2010 ff. Tooze ist hier sehr prononciert und sehr eindeutig: „Entgegen der auf beiden Seiten des Atlantiks verbreiteten Version ist die Krise der Eurozone kein separates und eigenes Ereignis, sondern eine direkte Folge des Schocks von 2008“ (S. 16). Es handele sich um „zusammenhängende Krisen“ (S. 14). An anderer Stelle formuliert er: „Das Bindeglied zwischen der US-Subprime-Krise und der Eurozonen-Krise waren die unsoliden Bilanzen der europäischen Banken. Das Verschmelzen dieser beiden direkt aufeinanderfolgenden Krisen markierte einen der bedeutendsten Wendepunkte in der europäischen Wirtschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 371). In diesem Zusammenhang neigt Tooze auch zu maßlosen Übertreibungen und formuliert, das ganze europäische Projekt sei in jener Zeit in Gefahr gewesen (S. 24).

Beidem – dem Krisenzusammenhang wie auch der Einschätzung – kann man mit guten Argumenten widersprechen. An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass die so genannte Eurokrise oder Staatsschuldenkrise nichts, aber auch gar nichts mit der Großen Finanzkrise von 2008 zu tun hat. Kurz: Bei der europäischen Krise handelte es sich um eine gezielt von Deutschland herbeigeführte Ordnungskrise, in der das Modell der Währungsunion, wie es im ersten Jahrzehnt funktionierte, zunächst zerschossen und dann umgebaut wurde. Im Jahr 2010 war die Bankenrettung in der Eurozone – nach deutscher Vorgabe national – bewerkstelligt und die Realwirtschaft vor dem Abgrund gerettet. Der Einbruch nach 2010, insbesondere die Griechenlandkrise, hatte nichts mehr mit den internationalen Turbulenzen von 2008 zu tun. Die griechischen Banken – Tooze erwähnt das selbst – waren kleine Lichter und mussten auch nicht vom griechischen Staat gerettet werden. Einmal abgesehen von den unsäglichen Betrügereien der Griechen selbst, verhielt es sich so, dass Griechenland vorgeführt werden sollte, um in Europa fiskalpolitische Stabilität zu erzwingen. Die 2009 – mitten in der Krise (!) – ins Grundgesetz einbetonierte „Schuldenbremse“ sollte in Europa verallgemeinert werden, was 2012 mit dem Fiskalpakt dann ja auch tatsächlich geschah. Kurz und knapp: Die Deutschen inszenierten im großen Schatten der Finanzkrise in der Eurozone eine Ordnungskrise, um einen Systemwechsel herbeizuführen.

Zu Toozes haltlosen Übertreibungen: „Mindestens drei Mal – im Frühjahr 2010, im Herbst 2011 und noch einmal im Sommer 2012 – stand die Eurozone kurz vor einem ungeordneten Zerfall“ (S. 28). Umgekehrt entsteht der Schuh: Weil die so genannte Staatsschuldenkrise von den Akteuren gut beherrscht war – der Außenwert des Euro geriet zu keiner Zeit ins Trudeln, nur ein paar lächerliche Ratingagenturen spielten sich auf –, konnte man es sich leisten, die Krise in einem höchst dilettantischen gut zweijährigen Suchprozess anzugehen. Zu keinem Zeitpunkt war die Währungsunion oder gar das europäische Projekt in Gefahr. Es handelte sich die gesamte Zeit über um einen lokal begrenzten Buschbrand, keinen Waldbrand und schon gar keinen Flächenbrand.

Unabhängig von der Frage des Zusammenhangs von Finanzkrise und Eurokrise, über die sich, wie angedeutet, streiten lässt, kann Toozes Sichtweise auf die Bearbeitung der Krise durch die Europäer vorbehaltlos beigepflichtet werden. Was Tooze, der sich selbst als „linksliberalen Historiker“ (S. 32) vorstellt, korrekt schon in der Einleitung beschreibt, ist die Verantwortungslosigkeit und Irrationalität, mit der die Deutschen in der Krise ab 2010 vorgegangen sind. Die „globale Kernschmelze“ von 2008 sei, so Tooze, schnell und wirksam eingedämmt worden – sozial ungerecht, aber immerhin. Um so bedauerlicher dann die eskalierende, lange Eurokrise und ihre politische Einordnung als Staatsschuldenkrise. Nicht tragfähige Staatsschulden könnten zwar langfristig eine Belastung für ein Land sein, aber nie und nimmer kurzfristig eine Krise auslösen. „Aber überhöhte öffentliche Schulden waren nicht der gemeinsame Nenner der allgemeineren Krise der Eurozone. Der gemeinsame Nenner war die gefährliche Anfälligkeit eines aufgeblähten Finanzsystems, das allzu sehr auf kurzfristige, marktgestützt Finanzierung angewiesen war“ (S. 24). Auch hier lassen sich Einwände vorbringen. Die Bankenkrise wurde überall in Europa „gut“ gelöst in dem Sinne, dass sie nicht zu unkontrollierten Zusammenbrüchen in der Gesamtwirtschaft führte, selbst in Irland mit seinem überdimensionierten Finanzsektor konnte dies erreicht werden. Die These von der Staatsschuldenkrise sei, so Tooze, ohnehin ein „Ablenkungsmanöver“ (ebd.) gewesen.

Die Eurokrise sei eine „der schwersten selbst verschuldeten wirtschaftspolitischen Katstrophen der Geschichte“ (S. 25) gewesen. „Selbstverschuldet“ und „ohne vernünftigen Grund“ (ebd.). Eine besondere Rolle lässt Tooze in diesem Zusammenhang dem deutschen Finanzminister angedeihen, Wolfgang Schäuble. Das Ergebnis der Krisenbearbeitung sei eine „Katastrophe“ (S. 26) gewesen, mit unermesslichem sozialen und politischen Schaden. 2010 habe überall auf der Welt die Angst bestanden, dass Griechenland zum „zweiten Lehman“ mutieren könnte. Die Konservativen, so nennt der Brite die Neoliberalen, hätten „verantwortungslosen Widerstand“ (S. 28) gegen die naheliegenden Lösungen geleistet. Auf die Lösungen kommen wir später zurück. Die Lösung kam für Tooze von außen: „Erst im Juli 2012 stabilisierte sich Europa, auf hartnäckiges Drängen seitens Washingtons und der übrigen G20, und zwar mithilfe einer nachträglichen ‚Amerikanisierung‘ der EZB, wie man gemeinhin die Maßnahmen einschätzte“ (S. 28).

 

Die Große Finanzkrise in den USA

Als weitgehend unumstritten kann Toozes Analyse und Einordnung der US-Finanzkrise gelten (Teil II des Buches): Durch das entschiedene Agieren der Fed mit den Liquiditätsspritzen und des Staates, der auch vor Verstaatlichungen nicht zurückschreckte, konnte die Finanzkrise in Schach gehalten werden. Die Krisenlösung war unsozial, aber effektiv.

 

 

Griechenland

Die Griechenland-Krise war nicht nur der Anfangspunkt der europäischen Krise, sondern auch die „Mutter“ der Folgekrisen in Portugal, Irland, Zypern, Spanien und Italien, und sie lieferte auch den Prototyp für die Krisenbearbeitung, nämlich Brückenkredit gegen harte Austerity zum Zweck der Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit. Wäre die Krise in Griechenland (frühzeitig) gelöst worden, hätte es die nachfolgenden Krisen nicht gegeben, das Feuer wurde aber viel zu spät ausgetreten, möglicherweise absichtsvoll zu spät. Weil all das so ist, kommt der Analyse der Krise in Griechenland zentrale Bedeutung zu. Und das sieht auch Adam Tooze so. Er bleibt hier nicht nur beim historisch Darzustellenden, sondern versucht auch Erklärungen zu liefern, es findet sich viel Richtiges, aber auch einiges Problematisches.

Tooze betont zunächst zu Recht, dass Griechenland seine Mitgliedschaft in der Währungsunion nicht zu moral hazard ausgenutzt und sich im ersten Jahrzehnt der Währungsunion übermäßig verschuldet hat, so wie es die deutschen Neoliberalen landauf, landab herumposaunen. Der Schuldensockel stammte aus früheren Jahrzehnten, nicht zuletzt um den Übergang vom Faschismus in eine europäische Demokratie zu moderieren (S. 378). Nach dieser Feststellung fällt Tooze aber zurück in die Standardthesen zur Griechenland-Krise: „Die Verschuldung Griechenlands war zu hoch und stieg noch weiter an. Eine Restrukturierung war unvermeidbar“ (S. 380). Er wiederholt auch den Unsinn über Artikel 125 aus dem AEUV: „Der Maastrichter Vertrag verbot die wechselseitige Haftung“ (S. 385, 393). Unzählige Male Wiederholungen von Unsinn ergeben immer noch keinen Sinn.

Wiederum sehr plausibel arbeitet Tooze die Lösungsmöglichkeit für die Unruhen um Griechenland im Frühjahr 2010 heraus. Mit Sarkozy fragt er: „Warum sah die Europäische Zentralbank tatenlos zu, wie die Kreditwürdigkeit der europäischen Staaten ruiniert wurde“ (S. 399), selbst der damalige deutsche Kandidat für den Chefposten bei der EZB, Axel Weber, soll bei einem Diner gefordert haben, die EZB müsse Staatsanleihen kaufen (S. 398). Als sich die Trichet-EZB dann nur zu einem halbherzigen Kaufprogramm bequemte, war es schon zu spät. Immer wieder kommt Tooze dann auf die „nicht tragfähigen Schulden“ (S. 403) Griechenlands zu sprechen.

Der Leser rudert sich durch all die Details, was ohne Zweifel auch interessant ist, da der Autor auch Quellen und Personen hat, über die nicht jeder verfügt, der Leser droht aber ein ums andere Mal die Orientierung zu verlieren, zumal der Autor dazu neigt, das Paket der am Ende gefundenen Lösung als das vorzustellen, das von Anfang an nahelag und sich empfahl, womit er eine Art umgekehrte self-fulfilling prophecy aufstellt. Wenn er vom Herbst 2011 spricht, geht das so: „Am 23. Oktober trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs, um die Grundzüge eines weiteren Stabilisierungsplans zu umreißen. Dieser beinhaltete einen tief greifenden Schuldenschnitt, neue Kredite für Griechenland, eine Aufstockung der EFSF und eine Bankenkapitalisierung – endlich waren alle Elemente einer Lösung auf dem Tisch“ (S. 472, auch S. 474). Da die Krise nur vorübergehend gebändigt war, wird auch die EZB in die Denkfigur einbezogen: „Sie (die EZB, d.Verf.) war der ‚fehlende Faktor‘ in allen bisherigen europäischen Bemühungen zur Krisenbewältigung“ (S. 481). Auf die Idee, dass auch ganz andere Lösungen möglich gewesen wären, kommt Tooze nicht.

Akribisch erzählt Tooze die Ereignisse der Kernkrisenzeit (2010-2012) herunter, ohne sensationelle Neuigkeiten. Aufnahme in das Narrativ finden die Peinlichkeiten und Abstrusitäten der ökonomischen Theorie: die Reinhart-Rogoff-These von der wachstumshemmenden Verschuldung (S. 405), die lächerliche Target2-Diskussion (S. 442 f.), den Unfug der Bocconi Boys mit der „expansiven Austerität“ (S. 448), der blamable Rechenfehler von Standard & Poor’s, der die Verschuldung der USA zu hoch ansetzte (S. 457).

Er berichtet von dem Umschalten der Deutschen auf eisenharte Sparpolitik, zunächst im Inland (übrigens hauptsächlich auf Kosten des Verteidigungsministeriums, S. 413), dann den beginnenden Versuchen die Schuldenbremse, die man im eigenen Land 2009 in die Verfassung hinabließ, europäisch zu verallgemeinern (S. 416, 421), was nach und nach auch geschah.

Es fehlen nicht europäische Städte, in denen die Akteure zentrale Beschlüsse und Verabredungen trafen. Das Treffen von Deauville im Herbst 2010 (S. 419 ff.) findet Erwähnung, wo sich Sarkozy und Merkel auf eine deutsch-französische Melange von Institutionalisierungen, Schuldenbremse und Restrukturierung der griechischen Schulden einigten, ebenso die Zusammenkunft in Cannes (S. 475 ff.), wo Paris und Berlin die Entlassung Berlusconis einfädelten, was erst Jahre später bekannt wurde.

Die Aufnahme zuerst Irlands in die Rettungspolitik wird geschildert (S. 423 ff.), dann Portugals (S. 434 ff.). Die Politik der EZB unter Trichet wird immer wieder in all ihren Ambiguitäten gestreift. Von der absurden Zinserhöhung 2011 (S. 440), „eine der abwegigsten Entscheidungen in der Geschichte der Geldpolitik“, über die Wiederaufnahme des SMP-Programms (S. 463) bis zu den Abwehrversuchen gegen die Restrukturierung der Griechenland-Schulden. Dann wird erzählt von der Ablösung an der EZB-Spitze, den ersten Gehversuchen Draghis („Bazooka-Programme“ Ende 2011, S. 488) und der schrittweisen Bedeutungszunahme der EZB.

Das skandalöse Insistieren Deutschlands auf einem Schuldenschnitt bei Griechenland wird gewürdigt. Tooze: „Deutschland wollte gezielt Spannungen erzeugen und die Unsicherheit auf den Märkten anheizen, um den Rest der Eurozone gefügig zu machen“ (S. 439). Die EZB war entschieden dagegen, sie wollte ein „Ausfallereignis“ um jeden Preis verhindern (S. 447). Schließlich die Einigung auf den Schuldenschnitt (S. 472 ff.).

Und die zentralen Institutionalisierungen werden erwähnt: der Fiskalpakt (S. 483 ff.), die Gründung des EFSF, dann des ESM (S. 483), ebenso der deutsche Abwehrkampf gegen Eurobonds (S. 483).

Eine mehr geordnete wirtschaftsgeschichtliche Darstellung in diesem Teil hätte der Sache gutgetan. In einer solchen Ordnung ließen sich für die Analyse der europäischen Krise Toozes Argumentationsstränge folgendermaßen sortieren: verhängnisvoll war die Zentralbankpolitik Trichet, der sich als „Hardliner“ (S. 463) profilieren wollte und den Einflüsterungen der Deutschen genauestens zuhörte. Erst unter seinem Nachfolger erfolgte die amerikanische Lösung der Krise. Noch verhängnisvoller, wenn das überhaupt vergleichbar ist, war die deutsche Politik der Austerität. Die im eigenen Land konstitutionalisierte Sparpolitik (2009) wäre auf den normalen europäischen Wegen nicht umsetzbar gewesen. Dazu bedurfte es der europäischen Ordnungskrise. Großen Wert legt Tooze auch auf den Einfluss von außen (USA), von dem er glaubt, dass er entscheidend zur Krisenlösung beigetragen habe.

Unverständlich bleibt, warum er in diese an sich konsistente Analyse immer wieder seinen Horror vor den angeblich nicht tragbaren griechischen Schulden einbringt. Auch der in der Einleitung behauptete innere Konnex zwischen der großen amerikanischen Finanzkrise und der kleinen europäischen Krise wird in diesem Teil nicht mehr aufgegriffen, auch nicht das angeblich „aufgeblähte Finanzsystem“ in Europa (S. 24).

 

 

Draghis „Whatever it takes“

Zu den Höhepunkten des Buches zählen sicherlich die Ausführungen zur Draghi-Rede in London am 26. Juli 2012. Tooze hebt zunächst hervor, dass Draghis Äußerungen in den ersten Wochen auf „wackligen Füßen“ (S. 509) standen. Sie bedurften der Unterstützung von vielen Seiten. Tooze kann in diesem Zusammenhang auf die Memoiren des ehemaligen US-Finanzministers Timothy Geithner, der sich an ein Gespräch mit Draghi in Frankfurt erinnerte, heranziehen (S. 510 f.) und Draghis Äußerung vom „Whaterever it takes“ in ein bizarres Licht rücken. Geithners Bericht von dem Gespräch verdeutlicht, dass den Zauberworten kein Plan unterlag. Die Äußerungen erfolgten aus dem „Stehgreif“, waren „völlig spontan“ (S. 511). Erst gegen den „erbitterten Widerstand“ der neoliberalen deutschen Öffentlichkeit – Tooze tituliert sie immer mit konservativ – und gegen die Bundesbank, deren Präsident sich angeblich zum damaligen Zeitpunkt sogar ein Veto-Recht der Bundesbank verschaffen wollte, gelang es der EZB – zwei Wochen später mit der Rückendeckung Merkels und Schäubles – mit der Ankündigung des OMT-Programms die Euro-Krise zu beenden.

Daran schließen sich für Tooze zwei Deutungsmöglichkeiten von Draghis Rede an: 1.) Bei Draghis Botschaft habe es sich um eine „enorme Investition an politischem Kapital“ (S. 513) gehandelt, die den ernsthaften Willen der Europäer zum Ausdruck brachte, eine „immer engere Union“ zu werden, zwar im „Krebsgang“, aber immerhin. Dieser Deutung setzt Tooze eine zweite entgegen, die er im Widerspruch wähnt. 2.) Draghis Rede sei eine „Art Kapitulation“ gewesen. „Die Eurozone tat endlich das, was anglophone Wirtschaftskommentatoren von Anfang an gefordert hatten“ (S. 514). Die Draghi-Formel wurde gesprochen von einem „kosmopolitischen, urbanen Italiener, keinem provinziellen Deutschen“ (ebd.). Es war am Ende die „amerikanische Lösung“ des entschiedenen Zugriffs. Aber, das erwähnt Tooze nicht so deutlich, sie kam erst, nachdem eine der größten wirtschaftspolitischen Dummheiten der Wirtschaftsgeschichte in die europäische Politik, der Fiskalpakt mit dem konstitutionell verankerten Kreditaufnahmeverbot, Eingang gefunden hatte.

Tooze resümiert: „Was die internationale Wirtschaftspolitik anlangte, so haben Obamas Wahlsieg im November, Bernankes QE 3 und Draghis Rede gemeinsam das Narrativ besiegelt. Ein liberales Krisenmanagement zentristischer Politiker hatte sich als erfolgreich erwiesen“ (S. 516).

Aber Draghis Rede und das später im September angekündigte, nie umgesetzte OMT-Programm beruhigten nur die Märkte für europäische Staatsanleihen, einen Impuls für die Wirtschaft setzten sie 2012 nicht. Diesen Aspekt erwähnt Tooze zwar (S. 512), führt aber nicht weiter aus, dass die EZB in der Folgezeit die gesamte europäische Wirtschaftspolitik übernahm und mit dem Anleihekauf-Programm die aufgrund der Austeritätspolitik heraufdämmernde Deflation bekämpfte. Die Widrigkeiten, denen die EZB und Draghi in Deutschland ausgesetzt waren, hätten es verdient gehabt, ausführlich gewürdigt zu werden.

 

 

Das griechische Drama im Jahr 2015

Die Darstellung des zweiten Teils der Griechenland-Krise im Jahr 2015 (S. 591 ff.) bringt nichts grundsätzlich Neues. Tooze schildert die bekannten Vorgänge: Die Syriza kommt an die Macht, ihr Finanzminister, Yanis Varoufakis, versucht die Europäer zu einem Schuldenerlass zu bewegen, scheitert und wird entlassen. Tsipras ordnet erst das Referendum über die aufgezwungene Wirtschaftspolitik an, wird von den Europäern dann eines Besseren belehrt und ordnet sich schließlich unter. Das dritte „Rettungspaket“ für Griechenland wird beschlossen. Tooze hängt weiter am Verschuldungsproblem, auch für Griechenland im Jahr 2015: „Fünf Jahre nach 2010 waren die griechischen Schulden noch immer nicht tragfähig. Ein Schuldenschnitt war unabdingbar“ (S. 605). Das hängt aber in der Luft und dürfte aus seiner Perspektive wenig Gutes für die griechische Zukunft verheißen. Wenig verwunderlich ist, dass er sich auf die Seite von Varoufakis „rationalem Entschuldungsprogramm für Griechenland“ schlägt (S. 606). Er bilanziert: „Die europäischen Gläubiger hatten sich hartnäckig geweigert, die einzige wirklich relevante Frage zu diskutieren – den Schuldenschnitt. Es ging nicht darum, die Leistungsfähigkeit der griechischen Volkswirtschaft wiederherzustellen, sondern darum, ein widerspenstiges Mitglied der Eurozone zu disziplinieren“ (S. 616).

 

 

Der Schluss: „Nachbeben

Im Schlusskapitel, überschrieben mit „Blick in die Zukunft“ (S. 692 ff.), wird es dann recht luftig. „Die vom US-Finanzministerium und von der Fed zusammengeschusterte Krisenreaktion war, für sich genommen, als ein kapitalistisches Stabilisierungsprojekt bemerkenswert erfolgreich“ (S. 703). So lautet eine der zentralen Aussagen, der man auch vorbehaltlos zustimmen kann. Sehr viel kritischer fällt die Beurteilung Deutschlands aus. Das Land habe sich zu lange gegen die „notwendigen Maßnahmen“ (S. 704) widersetzt, und es blockiere weiter die Bankenunion und verweigere sich gegenüber Eurobonds.

Insgesamt habe die Krise gezeigt: Es geht um die „politische Steuerung des Kapitalismus unter demokratischen Bedingungen“ (S. 707), womit Tooze den Unterschied zwischen dem Versailler Vertrag und dem Marshall-Plan oder den zwischen Herbert Hoover und Franklin Delano Roosevelt meint. Es geht eben um das Politische in der „politischen Ökonomie“ (S. 707).

Was Tooze mit seiner voluminösen Monographie vorlegt, ist eine „historische Erzählung“ (S. 708), die zeigen soll, dass die Krise nicht in einer „entpolitisierten Weise“, als Aneinanderreihung von Sachnotwendigkeiten beschrieben werden kann, sondern es politische Entscheidungen, politische Ideologien und politische Maßnahmen sind, die entscheiden, wie die Fehlfunktionen der gigantischen Systeme, Maschinen und Apparate des „Financial Engineering“ bearbeitet werden.

 

Hier kann man einem Vortrag Toozes (“The 2008 Global Crisis: Approaches to a Future History”) vor der American Acadamy (27. März 2018) folgen:

https://www.youtube.com/watch?v=bDA9ldBuVJ8

 

Eine fundierte Analyse zur makroökonomischen Gesamtsituation in der Eurozone. Nicht zur Eurokrise. Jörg Bibow und Heiner Flassbeck, „Das Euro-Desaster. Wie die deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt“

Im Frühjahr des Jahres 2010 war die Eurozone im Grund schon über die durch die große Finanzkrise von 2007/08 ausgelöste Finanz- und Wirtschaftskrise hinweg. Auf einem absoluten Nebenschauplatz braute sich dann in einem kleinen Euroland doch noch ein kleines Unwetter zusammen. Ein lächerliches Liquiditätsproblem. Das hätte bei einer besonnenen, europafreundlichen, vorausschauenden Politik mit einigen wenigen politischen Gesten seitens der entscheidenden Akteure rasch aufgelöst werden können. Bekanntlich kam es anders. Das an dieser Stelle einsetzende Narrativ von „mächtigen Finanzmärkten“, die im Frühjahr 2010 unruhig wurden und einen Anstieg griechischer Zinsen auf Wucherniveau erzwangen, gehört eigentlich in das Panoptikum skurriler wirtschaftspolitischer Legenden. Die „mächtigen Finanzmärkte“ mit ihren Agenten und Finanzinstituten, von denen hier die Rede ist, waren wenig mehr als ein Jahr zuvor auf der Größe eines Fingerhuts, all überall versanken sie entweder im Abgrund oder sie durften Blicke in schwindlige Tiefen dorthin wagen. Wenn für 2010 also ein Narrativ erzählt werden soll, dann lautet es eher so, dass die Politik durch irgendwelche Aktionen den am Boden liegenden Finanzmärkten wieder auf die Beine helfen musste. Und genau dafür war die Griechenland-Krise in mehrfacher Hinsicht perfekt geeignet. Die Entscheider im deutschen Kanzleramt und im Finanzministerium hatten damals die Gunst der Stunde blitzschnell erkannt und fächelten die Krise an, um einen ordnungspolitischen Systemwechsel herbeizuzwingen. Zunächst mussten die griechischen Zustände der Schuldenberg, den sie verursacht hatten, skandalisiert werden. Der entscheidende Wind gelang ihnen dann durch die mehrere Monate dauernde Inszenierung des griechischen Staatsbankrotts. Erst mit dem Schuldenschnitt sprang der Funke auf die anderen späteren Programmländer über und der Öffentlichkeit konnte die Mär von einer Staatsschuldenkrise in der Eurozone verkauft werden. – Man wird sehen, was dieser Vorspann mit dem im Folgenden besprochenen Buch zu tun hat.

Wer das Buch von Jörg Bibow und Heiner Flassbeck, „Das Euro-Desaster. Wie die deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt“, zur Hand nimmt, erhält eine makroökonomisch fundierte Krisenanalyse der Eurozone, eine ganze Reihe von Länderanalysen und einen Vorschlag zur Überwindung der Krise. Wir beginnen mit letzterem.

In den beiden Schlusskapiteln unterbreiten die beiden Autoren einen Reformansatz für die Eurozone, der zwei Elemente beinhaltet:

  1. Gegründet werden soll ein „Euro-Schatzamt“ (S. 217 ff.), dem Steuererhebungs- und Kreditaufnahmekompetenz zukommen soll. Der Rat legt das Budget fest, bspw. drei Prozent des BIP, und die jährliche Wachstumsrate der öffentlichen Investitionen, bspw. fünf Prozent. Gedeckelt werden soll die Kreditaufnahme für die Infrastrukturinvestitionen in der Eurozone bei 60 Prozent des BIP Ende des Jahrhunderts. Für die Nationen bleibt alles beim Alten: SWP und Fiskalpakt bleiben in Kraft, die Nichthaftungsklausel aus dem AEUV bleibt unberührt. Abgesichert wird die Kreditaufnahme für das Investitionsbudget durch die EZB vermittels spezifischer Marktinterventionen. Mit dem Steuererhebungsrecht des Schatzamtes sollen die Zinszahlungen für die Kredite und die Stabilisierung der Schuldenquote finanziert werden.
  2. Eingehalten werden müsse in Zukunft, so die Autoren, die bislang sträflich verletzte „inhärente Stabilitätsregel einer Währungsunion“ (S. 22, 112, 222), dass nämlich Löhne und Haushalte um das von der EZB vorgegebene Wachstum der Inflationsrate wachsen sollten. Da aber infolge der jahrelangen deutschen Unterbietungen bei den Löhnen und Staatshaushalten ein massives Ungleichgewicht gegenüber dem Rest der Eurozone besteht und eine Anpassung des Rests nach unten in einer Lawine innerer Abwertungen und deflationären Konstellationen enden würde, müsste Deutschland für unabsehbare Zeit eine extraordinär expansive Fiskal- und Lohnpolitik betreiben.

Süffisant nehmen die Autoren folgende Selbsteinschätzung vor: „Dies ist kein wirklich radikaler Vorschlag“ (S. 222). Fast könnte man darüber lachen, wenn einem nicht doch noch einfiele, um wie viele Galaxien entfernt der Vorschlag der Autoren von der Realität der gegebenen Eurozone, ihrer Akteure und ihren Ideologien, die ihr Schicksal bestimmen, und den Konstellationen von Nationalstaat und ihrer Bereitschaft zur supranationalen Delegation liegt. Aber, es gilt der uralte Satz: Auch realitätsferne Vorschläge dürfen unterbreitet werden, sie müssen sogar unterbreitet werden, wenn sie gute und brauchbare Vorschläge sind. Und das sind die Vorschläge von Bibow/Flassbeck zweifellos. Wenn sie noch ein paar Ungereimtheiten und Nachlässigkeiten beseitigt hätten, wären sie noch besser.

Man muss kein Freund des Subsidiaritätsprinzips sein, um sich den Gedanken einfallen zu lassen, warum ausgerechnet die Investitionen auf Eurozonenebene vergemeinschaftet und zentralisiert werden sollen. Oder vielleicht sollen sie das auch gar nicht, denn die Gelder werden nach zentraler Sammlung an die Nationen anteilig zurückgegeben. Warum reicht nicht eine entsprechende Regel für die Nationalstaaten? Schön wäre auch eine Erklärung dafür, warum die supranationale Exekutive die Kompetenzkompetenz bei der Steuererhebung und Kreditaufnahme erhalten soll und nicht eine parlamentarische Versammlung oder das Europäische Parlament. Kennen die Autoren die zahlreichen Versuche der Kommission, sich autonome Finanzierungsquellen zu erschließen und die dazu passende Unerbittlichkeit in der Absage durch die Nationalstaaten? Bei dem institutionellen Vorschlag, dem Schatzamt und den Eurobonds, können die Autoren alles Mögliche für sich beanspruchen, nur nicht das Patentrecht, warum gehen sie dann nicht auf vorliegende Vorschläge ein? Z.B. auf den Macrons aus dem Sommer 2017, der ein Eurozonen-Budget von „mehreren BIP-Punkten“ forderte.

Zur Größenordnung – die von Macron ins Spiel gebrachte Quantität umfasste 300 Mrd. EUR pro Jahr – muss man sich vor Augen führen, dass die gegenwärtigen Haushaltsplanungen der EU (2021-2027) schon bei dem von der Kommission vorgelegten Vorschlag von etwas über einem Prozent des BIP (und darin sind bei weitem nicht nur Investitionsausgaben enthalten) in den Mitgliedstaaten schon für massive Verbunkerungen gesorgt haben. Woher kommt also die gute Laune der Autoren, wenn sie für das Eurobudget mehr als das Doppelte des bisherigen EU-Haushalts fordern?

In den beiden analytischen Teilen geht es den Autoren einerseits um die Politik der „Giftmischung aus Sparpolitik und Lohnsenkung“ (S. 200) in den Eurokrisenländern, die zu einem Zusammenbruch der Binnennachfrage geführt hat, andererseits um die Wirtschaftspolitik in den vier großen Eurostaaten, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien und ihren Resultaten. Beide Teile sind reichlich mit empirischem Material und profunden Länderanalysen unterlegt und kommen zu bedenkenswerten Thesen und Aussagen. Sehr gut geraten ist dabei der wirtschaftsgeschichtliche Abriss zur merkantilistischen Politik Deutschlands und ihren gedanklichen Grundlagen. Wie es den Autoren aber gelingt, die Politik der „inneren Disziplin“ (Ludwig Erhard 1950 in einem Brief an Wilhelm Vocke, S 127), also der Lohnzurückhaltung zum Zwecke der Eroberung von merkantilistischen Wettbewerbsvorteilen auszubreiten, ohne dass auch nur ein einziges Mal der Begriff „Gewerkschaft“ fällt, ist schon eine Meisterleistung. Alles nur Neoliberalismus? Wirtschaftspolitik als Emanation ökonomischer Glaubenssätze ohne irgendwelche Interessen?

Plausibel legen die Autoren im ersten Teil dar, dass das „Teufelsgebräu“ (S. 34) von Sparpolitik und Lohnsenkung die Krisenstaaten tiefer und tiefer in die Krise gerissen hat und dass die deutsche Politik der Lohnzurückhaltung zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen die großen Staaten zu inneren Abwertungen gezwungen hat, die zu nichts führten, außer schwachem Wachstum und Defizitpositionen gegenüber Deutschland. Das angebliche deutsche Modell für ganz Europa hat zwar mittlerweile zu Leistungsbilanzüberschüssen der Eurozone von vier Prozent des BIP geführt (S. 206), man hat sich also auf Kosten der Außennachfrage und der Einschränkung der Importnachfrage „saniert“. Ein wirklicher Wachstumsprozess sieht aber anders aus als die seit 2015 wehende laue Luft. Ein großer Währungsraum wie die Eurozone war von vorneherein falsch gepolt, wenn er auf Außenüberschüsse setzt. Entscheidend ist die Binnennachfrage (S. 162).

Zur Krisenanalyse: Treffend arbeiten die beiden Autoren heraus: „Die Prozesse und Fehlentwicklungen, die durch deutsche Lohnzurückhaltung in der Zeit ab Mitte der 1990er Jahre bis 2010 angetrieben wurden, bilden die Hauptursache für die bis heute ungelöste Eurokrise“ (S. 145). Und: „Kern der Krise ist die ‚Beggar-thy-neighbor‘-Politik Deutschlands. Deutschland hatte ab Mitte der 1990er Jahre ‚Lohnzurückhaltung‘ zur nationalen Agenda erklärt“ (S. 203). Versteht man richtig, es war eine bestimmte Art gesamtwirtschaftlicher Politik seitens Deutschlands, die problematisch in der Eurozone gewirkt hat. Im Grunde war das auch nichts Neues, wurde damit von dem größten Land der Eurozone, dem früheren Ankerland des EWS, doch jene Politik fortgesetzt, die man jahrzehntelang betrieben hatte, die Politik des „sedierten Wachstums“.

Danach begeben sich die Autoren aber auf einen Irrweg. Sie machen diese deutsche Politik verantwortlich für die Krise der Währungsunion 2010-12. Wo kein Zusammenhang ist, lässt sich auch keiner herstellen. Das lachhafte Liquiditätsproblem im Südosten der Eurozone hatte einen ganz anderen Hintergrund und konnte auch ganz anders gelöst werden.

Überflüssigerweise lassen sich die Autoren darauf ein, den mittlerweile rechtsradikal kontaminierten Satz von der „Währungsunion als Fehlkonstruktion“ ein ums andere Mal nachzubeten. Beim Wort vom Kern der Krise genommen: Hätte Deutschland nicht die fatale Politik des Lohndumpings betrieben, wäre die Währungsunion schlecht und recht, jedenfalls ohne die großen Probleme durch die Zeit gekommen. Währungsunion = Fehlkonstruktion? Hätten die Troika-Akteure in das Memorandum of Understanding für Griechenland eine satte Nachfragepolitik mit marshallplanähnlichen Schenkungen und Krediten diktiert und Griechenland wäre auferstanden wie, sagen wir, der Phönix aus der Asche und der Rest der Eurozone hätte sich so halbwegs durchgewurstelt, läge dann immer noch eine Fehlkonstruktion der Währungsunion vor? Oder: werfen die Autoren den Akteuren in Maastricht wirklich vor vergessen zu haben, die „inhärente Stabilitätsregel einer Währungsunion“ in den Vertrag zu schreiben? Erinnern sie noch, was das Hauptmotiv des Maastrichter Weges war? Haben sie eine vage Vorstellung von solchen Staatsverhandlungen?

Alles hängt davon ab, was man genau unter der Eurokrise versteht. Zur Krisenerklärung für das Liquiditätsproblem zwischen 2010-12 kann man die eingangs entworfene Skizze heranziehen. Versteht man unter der Eurokrise aber eine dauerhafte Verzerrung zwischen und innerhalb der Gesamtwirtschaften der Staaten der Eurozone – und das ist offensichtlich die Vostellung der Autoren – dann ergibt sich die Frage, ob dafür der Krisenbegriff geeignet ist. Die Autoren sprechen von „Divergenzen und Ungleichgewichten“ (S. 203, 220). Das, was das Buch erklärt, sind die makroökonomischen Fehlentwicklungen in der Eurozone mit den verschenkten Wachstumsmöglichkeiten und den mutwillig durch die deutsche Austeritätspolitik herbeigeführten wirtschaftlichen Schrumpfungsprozessen im Süden der Eurozone.

Bezogen auf die potentiell krisenhaften Auswirkungen der makroökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone kann, bis auf Weiteres und den Beweis des Gegenteils, konstatiert werden, dass der institutionelle Gesamtbestand der Währungsunion erstaunlich immun gegen krisenhafte Zuspitzungen ist.

Die Wirtschaftswissenschaft denkt, dass sie „physikalische“ Naturgesetze dingfest machen kann. Etwa derart: Gesamtwirtschaften funktionieren wie Dampfkessel, die immer nur bei mittlerer Temperatur erhitzt werden sollten (Gleichgewicht). Werden sie über die Maßen erhitzt, kommt es zur Explosion. Die reale Wirtschaft funktioniert danach nicht. Auch das von den Autoren formulierte „Gesetz“, eine Währungsunion mit dauerhaften Handelsüberschüssen führe zwangsläufig zu einer Transferunion (S. 36, 104, 146, 156), lässt sich in der Wirklichkeit der Realwirtschaft so nicht nachweisen, nicht einmal für den Föderalismus der Bundesrepublik, sind dort doch gesamtwirtschaftliche Stabilisatoren im Einsatz, die mit „Transfers“ im engeren Sinne nichts zu tun haben. Schon gar nicht stimmt das „Gesetz“ für Italien, das über Jahrzehnte eine Währungsunion betrieb, ohne dass es zu nennenswerten Transfers aus dem exportstarken Norden in den pauperisierenden Süden kam.

Der Untertitel des Buches, „Wie deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt“, trifft – einmal abgesehen von der alpinen Metapher – den dargestellten Inhalt voll und ganz. Der reißerisch dahergelaufene Haupttitel, „Das Euro-Desaster“, samt der im Buch latent immer am Anschlag formulierenden Untergangsweissagungen – kleine Auswahl: der Fortbestand des Euros ist infrage gestellt (S. 9), die Eurozone steht am Abgrund der Deflation (S. 11), der Euro ist gescheitert (S. 111) – passt nicht zu seinem analytischen Gehalt und Anspruch.

Abgrundtief peinlich gerät den Autoren der Titel noch aus einem anderen Grund. Das kindische Design des Eurozeichens auf dem Buchdeckel passt zu folgendem: Und zwar zu rechtsradikal-neoliberalen Untergangsschwätzern wie Max Otte, mit dem sich die Autoren –ungewollt – über den gleichnamigen Titel dessen Buches aus dem Jahr 2013 gemeinmachen. Peinlich, peinlich.

Von dem Recycling der Überschüsse. Yanis Varoufakis‘ Ideen zur internationalen Währungsgeschichte und zur europäischen Währungsunion

Für den Neoliberalismus reduzieren sich die Fragen und Probleme der Internationalen Wirtschaft auf die Ordnung des Handels, bestenfalls noch auf die Wettbewerbsfähigkeit. In ihrer Theorie begegnen sich zunächst Nationalwirtschaften auf internationalen Märkten und tauschen dort ihre Produkte. Wird Freihandel realisiert, also die Nationalwirtschaft geöffnet, entsteht eine Win-win-Situation, so die liberale Freihandelstheorie. Alle profitieren dann vom Welthandel. Das ist natürlich Unfug und ausschließlich interessegeleitet, also Ideologie. Jeder, der sich vernünftig mit internationaler Wirtschaft beschäftigt, geht von der Fragestellung aus, wie sich das Überschuss-Defizit-Problem behandeln lässt. Überschussländer sind die Gewinner, Defizitländer sind die Verlierer – als Dauerzustand ist das nicht hinnehmbar. Varoufakis geht in seinem Buch von dieser Problematik aus, ist also im Grundsatz schon mal auf der Seite der Guten, also der Seite der Wissenschaftler. Doch dazu später mehr.

Bei Romanen verrät der Titel selten etwas Aussagekräftiges über den Inhalt des Romans. Bei Sachbüchern sollte das anders sein, zumal solchen mit wissenschaftlichem Anspruch. In Varoufakis‘ Fall verrät der Titel buchstäblich nichts zum eigentlichen Inhalt. Das im Untertitel angekündigte Hauptthema „Wie eine andere Geldpolitik Europa wieder zusammenführen kann“ kommt im Haupttext nicht vor, sondern im Anhang, wo Auszüge aus einem älteren Text („Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“ abgedruckt sind (S. 321 ff.), inhaltlich dazu weiter unten. Das „Europaradox“ (Titel und S. 179) versucht der Autor in drei Paradoxien auseinanderzulegen: das erste Paradox hat etwas mit Austerität zu tun, das zweite mit Oligarchien in Südeuropa und das dritte, eigentliche, mit der überstaatlichen EZB. Was er damit genau meint, bleibt im Nebelhaften, jedenfalls ist es nur am Rande Thema des Haupttextes. Dieser ist im Wesentlichen eine historische Darstellung der internationalen und europäischen Währungsordnung nach 1945.

Leider unterlaufen bei dieser historischen Darstellung eine Menge Fehler, Ungenauigkeiten und abstruse Zusammenhangsbildungen. Beginnen wir mit den offensichtlichen Fehlern (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Ludwig Erhard war von 1949-1963 nicht Finanzminister (S. 344), sondern Wirtschaftsminister. Das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (1967) mit dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (1997) gleichzusetzen (S. 352), ist abwegig, ersteres ist gegen letzteres geradezu von keynesianischer Großartigkeit, während letzterer als reiner Austeritätspakt angelegt war. Dass Mitterrand und Kohl bei der Aushandlung des Maastricht-Vertrages beide eine politische Union anstrebten (S. 124), beruht schlicht auf Unkenntnis der Verhandlungspositionen der beiden, ersterer dachte daran nicht im Traum, letzterer dachte vielleicht im Traum daran, war aber weit davon entfernt, ihn umzusetzen. Geradezu grotesk ist die Behauptung, Mitterrand wollte mit der Währungsunion ein trojanisches Pferd für supranationale Strukturen zusammenzimmern (S. 134). Ziemlich ahnungslos ist Varoufakis in Hinblick auf europäische Gesetzgebung (S. 356). Für die Aussage, Bundeskanzler Helmut Schmid sei ein „überzeugter Europäer“ (S. 104) gewesen, muss man auch beide Augen ganz fest zudrücken. Das mag genügen, es gäbe noch mehr.

Zu den Zusammenhangsbildungen. Im Kontext der europäischen Währungsunion von einem „Dreieck Brüssel-Frankfurt-Berlin“ (S. 295) zu sprechen, ist, was alle drei Seiten angeht, mindestens fragwürdig. Die Kommission war bei der gesamten Eurokrise bestenfalls geduldeter Zuschauer. Die europäische Währungsunion mit dem Goldstandard zu vergleichen und den Euro als „Wiederbelebung des Goldstandards im Herzen Europas“ (S: 303) zu charakterisieren, ist, milde gesagt, abwegig. Die Aussage, das EWS habe einer umfänglichen „supranationalen Bürokratie bedurft“ und Brüssel hätte damit ein neues Steuerungsmittel, eine „Quelle der Macht“ bekommen“ (S. 102) wiederum, kann nur auf einer oberflächlichen Kenntnis der Funktionsweise des EWS beruhen. Auch das mag genügen.

Schließlich zu den Ungenauigkeiten. In seinen Fußnoten gibt Varoufakis zwar an, dass er zwecks Vereinfachung und Vereinheitlichung zu „großzügigen“ Bezeichnungen greife, an einen Satz wie den folgenden muss man sich aber erst heftig gewöhnen: „1950 trat die Europäische Union offiziell ins Leben in Form eines von Deutschland dominierten Kartells für Kohle und Stahl, das von einer französisch dominierten Verwaltung mit Sitz in Brüssel gelenkt wurde…“ (S. 79). Auch hier mag es genügen.

Das alles ist schon einmal ärgerlich, ändert aber nichts an dem Lesevergnügen des stilistisch recht fein verfassten Buches.

Yanis Varoufakis geht es wie vielen Ökonomen. Von Logik und Geschichte der europäischen Integration ist ihnen leider nur Bruchstückhaftes mitgegeben.

Er klagt darüber, dass sich die Europäer bei einer Wahl zwischen verschiedenen Integrationswegen aus Überzeugung für den (aus seiner Sicht falschen) Weg einer „unpolitischen“, „rein“ wirtschaftlichen Integration entschieden haben und rein bürokratische Interessen damit verbanden („Entpolitisierung politischer Entscheidungen“ und „Mega-Bürokratie“, S. 136 oder „demokratiefreie Zone, die in den 1950er Jahren entstanden war“, S. 221). Das stellt die tatsächliche Integrationsgeschichte auf den Kopf. Der neofunktionalistische Integrationsansatz war 1950 der einzige Ansatz vor dem Hintergrund erstarkter Nationalstaaten, die – bis zum heutigen Tag – peinliche darauf bedacht sind, nur keine supranationalen Strukturen entstehen zu lassen.

Eigentümlich realitätsblind ist dann folgende Aussage: „Die ernüchternde Realität ist, dass die DNA der Europäischen Union kein Gen für die Fortentwicklung zu einem Bundesstaat enthält“ (S. 280). Dass 1992 mit dem Maastricht Vertrag die spezifische Unionsstruktur mit einer EU entstanden ist, versteht er nicht im Ansatz, genauso wenig, dass die Akteure der „Mittelsphäre“ (Middelaar 2016) seither zwar keine bundesstaatliche, wohl aber, wenn man so will, als intergouvernementale Akteure, europäische Innenpolitik betreiben. Auch die zahlreichen Spill-over in der Vergangenheit weiß er nicht zu würdigen.

Zurück zu Varoufakis‘ Kernthese und Hauptargumentationsstrang. Großflächig äußert er sich zur internationalen Währungsordnung. Diese unterteilt er in drei Phasen: 1.) Von 1945-1971 habe das Bretton-Woods-System die internationalen Beziehungen mit den USA als Hegemonialmacht bestimmt. 2.) Von 1971-2008, mit einer ca. zehnjährigen Latenzphase habe eine zweite, gänzlich anders strukturierte US-Hegemonie begonnen. 3.) Seit 2008 zeige sich, dass die USA zu einer eigenständigen Gestaltung und Hegemonie der internationalen Wirtschafts- und Währungsbeziehungen nicht mehr in der Lage seien. Soweit zur Phaseneinteilung.

Die beiden ersten Phasen beruhten auf je spezifischen, sehr unterschiedlichen Mechanismen des Überschussrecycling. In der ersten Phase verfügten die USA, bis auf die Endzeit, über Handelsbilanzüberschüsse gegenüber Europa. Diese flossen dann in direkte Hilfen (Marshall-Plan, EZU, sonstige Kredite), mit denen die Europäer amerikanische Waren kaufen konnten, in die Finanzierung der die Hegemonialposition sichernden Militärbasen und den Eurodollar-Markt(vgl. S. 48). Die Dollars flossen zurück in die USA und stabilisierten so das Wechselkurssystem. Die Wende kam mit der einseitigen Aufkündigung der Bretton-Woods-Ordnung 1971, was eine instabile Übergangszeit einleitete.

Der eigentliche Übergang zu einer neuen Ordnung kam dann Ende der 70er Jahre, als die USA schon längst keine Handelsbilanzüberschüsse mehr hatten, im Gegenteil, sie gerieten in immer größere Defizitpositionen. Der neue Chef der Fed, Paul Volcker, sah für die 80er Jahre eine „kontrollierte Desintegration der Weltwirtschaft“ vor. Das ist zwar so nicht gekommen, im Gegenteil, der Kerngedanke der neuen Phase lief darauf hinaus, die Überschüsse der anderen Länder zu recyceln, da eigene Überschüsse nicht mehr vorhanden waren. Die Europäer, Japan und später China mussten dazu gebracht werden, ihre Überschüsse freiwillig der Wall Street auszuhändigen (S. 107 ff.). das funktionierte nur, wenn die Zinsen massiv in die Höhe getrieben und die Löhne deutlich gesenkt wurden. Damit war die Ära des Finanzkapitalismus, deren Deregulierung und der abgehängten US-amerikanischen Mittelschicht eingeleitet und die USA vermochten das Doppeldefizit (Außenhandel und Staat) zu finanzieren. Die Dominanz der USA blieb somit gewahrt.

All das – eine an manchen Stellen etwas vereinfachende Argumentation – soll hier nicht weiterverfolgt werden. Wohl aber der Transfer des Kerngedankens, des Überschussrecyclings, auf die europäische Währungsunion. Hier spricht Varoufakis von einem in der vorliegenden Währungsunion fehlenden „politischen Mechanismus zum Überschussrecycling“ (S. 181, 193, 265), im Falle der USA handelte es sich weder um etwas Politisches noch um einen Mechanismus, es war einfach diskretionäre Politik. Leider sind die Spezifikationen des Griechen zu dem Instrument mehr als spärlich. Man hört folgendes:

Ein politischer Mechanismus zum Überschussrecycling wird wirksam, wenn die Schönwetterrecycler, die Banken, mit fliegenden Fahnen davonlaufen und Ruinen und unbezahlbare Schulden hinterlassen. Ein politischer Mechanismus, während einer Wirtschaftskrise in solche Regionen zu investieren, ist die einzige Möglichkeit, um feste Wechselkurse aufrechtzuerhalten, ohne dass die Menschen aus dem Defizitland abwandern und es sich in einen gigantischen Golfplatz für anreisende Banker verwandelt“ (S. 362).

Warum macht sich der ehemalige griechische Finanzminister nicht die Mühe, in die Ebene hinabzusteigen und im Konkreten anzuknüpfen. Z.B. so: Die Kommission verfügt seit der Finanzkrise über einen neuen Ansatz, die makroprudentielle Überwachung. Regelmäßig in den vergangenen Jahren moniert sie in den einschlägigen Berichten den viel zu hohen Überschuss Deutschlands, über 8 Prozent in den vergangenen Jahren, die Grenze liegt bei 6 Prozent. Sie spricht Empfehlungen aus, um die Überschussposition abzubauen. Empfehlungen sind bekanntlich das Papier nicht wert, auf dem sie niedergeschrieben werden. Wie nun können aus Empfehlungen Handlungszwänge werden? Dazu äußert sich Varoufakis nicht bzw. lapidar:

Was sollte dieser Mechanismus sein? Die Antwort lautete: eine Reihe politischer Institutionen, die einspringen und Überschüsse recyceln, wenn das Schönwetter-Überschussrecycling nicht mehr funktioniert“ (S. 39).

Das ist schon verdächtig nahe an der Tautologie.

Die Recycling-Idee ist auch nur halbherzig gedacht und macht sich nicht an die Ursachen des Übels heran. In der Ökologie wie in der Ökonomie ist es so, dass Recycling zwar kein schlechter Ansatz ist, aber nicht die First-best-Solution. In Keynes‘ Konzept für die Bretton-Woods-Konferenz klang die Vorstellung an, dass sich Überschuss- und Defizitpositionen über den Zeitablauf hinweg abwechseln sollten. In Wechselkursordnungen, Währungssystemen und Währungsunionen mit Staaten von deutlich unterschiedlichem Entwicklungsniveau sollte es demgegenüber so sein, dass die entwickeltesten Regionen in dauerhaftem Defizit stehen, um den Entwicklungs- und Nachholländern über einen dauerhaften Handelsbilanzüberschuss Aufholprozesse zu ermöglichen. Wirtschaftliche Aufholprozesse vollziehen sich nur über diesen Weg.

Von einer solchen Sichtweise ist die Eurozone meilenweit entfernt, jedenfalls deren dominanter Teil. Die Überschussländer denken im Traum nicht an eine zonenübergreifende Sinngebung, sondern sind bestenfalls auf die eigenen (vermeintlichen) Interessen konzentriert. Hier wäre wahrscheinlich schon viel gewonnen, wenn es zu einem, wie immer im Detail gearteten, „Investivhaushalt“ (Macron, Koalitionsvertrag) käme, aus dem gezielt in den nachholendenden Osten und Süden Europas Entwicklungskredite vergeben werden könnten. Bleiben die Überschusspositionen in einem System, wie es Varoufakis vorschlägt, erhalten bleiben auch die grundsätzlichen Probleme ungelöst.

Der ehemalige griechische Finanzminister hat am Ende seines Textes wohl gemerkt, es könnte getrost etwas konkreter werden. Also hat er Auszüge aus einem alten Text (2013) angehängt, mit dem die Eurokrise bzw. ihre verschiedenen Teile (Bankenkrise, Schuldenkrise, Investitionskrise, Soziale Krise) ohne Vertragsänderung und mit Realitätssinn (Vorsicht: Ironie) gelöst werden könnten.

Der realistische Ausgangspunkt sei: es bleibt bei dem Verbot für die EZB, Staatsschuldtitel direkt aufzukaufen, ihr OMT- und QE-Programm ist ineffizient, Eurobonds werden von den Überschussländern weiter abgelehnt, man muss ohne Vertragsänderung, also ohne neue Institutionen auskommen.

Der institutionelle Ausgangspunkt sind die EZB, die Europäische Investitionsbank (EIB), der Europäische Investitionsfonds (EIF) und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Vor diesem Hintergrund sind vier Strategien denkbar (S. 324 ff.):

Strategie 1

Ins Straucheln geratende Banken sollen sich nicht mehr an ihre Staaten, sondern direkt an den ESM wenden. Mit der Umsetzung der Bankenunion wird dies gerade realisiert.

Strategie 2

Der Teil der staatlichen Schulden, der unter der Maastricht-Grenze von 60 Prozent liegt, wird in EZB-Bonds umgewandelt und mit niedrigen Zinsen weiter von den Mitgliedstaaten bedient. Das ist in der Nähe der Staatsfinanzierung durch die EZB, jedenfalls wie es die neoliberalen Deutschen sehen.

Strategie 3

Ein Investitionsprogramm in Höhe von 8 Prozent des BIP der Eurozone, kreditfinanziert durch die EIB (große Infrastrukturprojekte) und den EIF (kleine Projekte), soll gestartet werden. Die Hürde, dass, wie bisher, 50 Prozent von den Staaten finanziert werden muss, soll dabei beseitigt werden. Die EZB sichert durch Intervention am Sekundärmarkt niedrige Verzinsung. Davon haben die neoliberalen Deutschen schon immer geträumt.

Strategie 4

Auflage eines Nahrungsmittelprogramms und eines Programms für eine Grundversorgung mit Energie, finanziert durch Target2-Zinsen und die Finanztransaktionssteuer.

Das Buch schließt mit folgenden Sätzen:

Trotz des breiten Aufgabenfelds verlangt der Bescheidene Vorschlag keine neuen Institutionen und zielt auch nicht auf eine Umgestaltung der Eurozone. Er braucht keine neuen Regeln, Fiskalpakte oder Troikas. Eine Einigung auf Schritte in Richtung eines Bundesstaats ist nicht Voraussetzung, aber er ermöglicht Konsens durch vertiefte Kooperation statt durch erzwungene Sparpolitik.

In diesem Sinn ist der Vorschlag wirklich bescheiden“ (S. 331).

Bescheiden“ – ja, aber die deutschen Neoliberalen dächten nicht einmal darüber nach.

Das Buch hatte eine sehr kompetente Sprachbetreuung, eine ebenso kompetente fachliche Betreuung hätte man ihm auch gewünscht.

Beobachtungen zur geopolitischen Tektonik. Oder: Wenn das Orakel zu früh anschlägt. Joschka Fischer, „Der Abstieg des Westens. Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts“

Mit der größte Vorzug des Büchleins liegt darin, einen Begriff zu vermeiden, der in den vergangenen Jahren zum Modebegriff der politischen Zeitdiagnose geworden ist. Von dem Begriff des „Populismus“ ist die Rede. Fischer verwendet stattdessen den Begriff des „Neonationalismus“ – und das mit großem Recht. Tatsächlich ist das Phänomen (Parteien, Bewusstseinsformen, Einstellungen etc.), das mit dem Populismusbegriff bezeichnet werden soll, nichts weiter als konventioneller, ins Hier und Jetzt herübergewucherter Nationalismus, mit all seinen Schattierungen, vom Rassismus bis hin zur nationalen Mythenbildung. Der Begriff bildet mehr ein salonpolitologisches Sonderforschungsprogramm ab, als dass er neue Erkenntnismöglichkeiten in einer kompliziert gewordenen Welt eröffnet. Fischer jedenfalls verzichtet – kommentarlos – auf den Begriff.

Die Hauptthese Fischers kündigt sich im Titel an: Das Jahr 2016, nicht 1990, ist das Jahr, das die Epochenwende einläutet, das Viertel Jahrhundert dazwischen war nur ein Interludium. Das Ende des Kalten Krieges hat eben nicht das zunächst triumphalistisch ausgerufene „Ende der Geschichte“ gebracht, sondern bei denen, die vermeintlich triumphiert haben, im Jahr 2016 zwei Entscheidungen, die das Gegenteil des Triumphs auslösen, nämlich den Niedergang. Die Brexit-Entscheidung in Großbritannien und die Trump-Wahl in den USA haben den ehemaligen Außenminister offensichtlich dermaßen erschüttert, dass er sie gleich zum Signal für die These vom „Abstieg des Westens“ nimmt. Wir trennen das Jahr einmal von dem Berichteten.

Zum Berichteten: Bei der Titelgebung erfasste den Autor der Mut, und der Mut führte zur These vom „Abstieg des Westens“, bei der Textgestaltung verließ ihn wieder der Mut, und die These mäandert zwischen der „Wachablösung der USA“ (S. 56, 93), Chinas „Aufstieg zur globalen Führungsmacht“ (S. 105) einerseits und dem „Duopol“, „einer Art Doppelspitze“ (S. 106) mit den USA und China andererseits hin und her.

Die Just-in-time-Diagnose der Epochenwende ist ein schwieriges Geschäft, ein noch schwierigeres ist die Prognose. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass sich das Orakel zu früh meldet und Alarm schlägt. Nur scheinbar einfacher ist die Rekonstruktion des Vergangenen, das Geschäft der Zeitgeschichte. Ihre Diagnose ist schon gefestigt, weniger strittig und, je weiter entfernt der zurückliegende Gegenstand, nicht mehr durch interessierte Zeitgenossen verfälscht. In jedem Falle arbeitet die Zeitgeschichte mit Abbreviaturen in Gestalt von Begriffen. Ein solcher Begriff ist der der „Pax Americana“ bzw. der „globalen Vorherrschaft der USA“. Diese begrifflichen Abbreviaturen stellen Abstraktionen dar, die von mannigfaltigen konkreten Phänomen, Faktoren, Tatsachen usw. absehen. Wird das vergessen, besteht auch beim Referieren der Zeitgeschichte die Gefahr, dass man auf dem zeitgeschichtlichen Glacis ausrutscht.

Die Pax Americana – 1918–1990, dann deutlicher noch nach dem „Ende der Geschichte“ prolongiert in der Folge des Endes des Kalten Krieges – bestand zu keinem Zeitpunkt aus einer absoluten Hegemonie in dem Sinne, dass unilaterale singuläre Entscheidungen getroffen oder Fakten geschaffen werden konnten. Vom Beginn der Ära an suchten und benötigten die USA Bündnisse (als Alliierte im Zweiten Weltkrieg, in der NATO danach). Im Kalten Krieg waren die USA Supermacht und Vormacht, das eine, Supermacht, aber nur mit einem Gegenpol, der Sowjetunion, das andere, Vormacht, aber nur in der westlichen Hemisphäre. In jedem Falle waren sie Macht in einer Hierarchie und nicht Macht jenseits oder oberhalb einer Hierarchie. Die Kriege, die die USA führten, gewannen sie mit Bündnispartnern (Zweiter Weltkrieg), endeten „unentschieden“ (Korea 1950-53), gingen verloren (Vietnam, 1964-1975) oder mündeten in sozialen Desastern und Katastrophen (Afghanistan, seit 2001, Irak, seit 2003). Es ließe sich noch viel mehr anführen, alles läuft darauf hinaus, dass Fischers Redeweise von der beispiellosen amerikanischen Hegemonie (S. 57) in dieser Form problematisch ist.

Und diese Problematik pflanzt sich dann in die Epochendiagnose und Prognose fort. Fischer wird zwar nicht müde zu betonen, dass die amerikanische Vorherrschaft (machtpolitisch, wirtschaftlich, technologisch, militärisch) noch auf lange Zeit gelten wird, das hält ihn aber auf der anderen Seite nicht davon ab, schon das chinesische Zeitalter für das 21. Jahrhundert auszurufen. Was die US-amerikanische Überlegenheit angeht, kann am besten mit der Aussagekraft des Besitzes von Flugzeugträgern gearbeitet werden: Die USA verfügen über elf Flugzeugträger, China hat 1998 einen alten sowjetischen von der Ukraine gekauft, umgebaut und 2012 in Betrieb genommen. Das zum Thema des US-amerikanischen Hegemoniepotentials.

Wenn der eine absteigt – die USA, der Westen – steigt ein anderer, so will es die Gleichgewichtslehre, auf. Chinas historisch einzigartiger wirtschaftlicher Aufstiegsprozess vom Agrarland in ein Industrieland seit 1979 mit zunächst zweistelligen Zuwachsraten beim BIP, seit einigen Jahren nur mehr die Hälfte, basierend auf einer ebenso einmaligen ordnungspolitischen Basis, wird gerne als solches Indiz für den Aufstieg in die neue Rolle der Weltmacht genommen. Das unterstellt aber, dass sich das gigantische wirtschaftliche und soziale Experiment ohne größere Brüche und Krisen in die Zukunft verlängert und im politisch-kulturellen Sektor ebenso friktionslos bleiben wird wie bisher. Nicht erst die Weltfinanzkrise von 2008 hat aber gezeigt, dass China mittlerweile vollständig in den globalen Wirtschaftszyklus und -kreislauf eingebunden ist, dass insbesondere das Modell des exportgetriebenen Wachstums bald an ein Ende geraten könnte und dass noch längst nicht erprobt ist, wie die innerchinesischen Finanzmärkte und Finanzbeziehungen auf Dauer krisenfrei funktionieren.

Unverkennbar ist, das Jahr 2016 war für Fischer kein gutes Jahr. In der Psychologie nennt man das, was den Außenminister beschlichen hat, Katastrophendenken. Die Katastrophe wird förmlich herbeigedacht. Was aber, wenn das Jahr eine ganz andere Botschaft in den Geschichtsbüchern hinterlassen wird? Etwa – die nicht ganz neue – Botschaft, dass Demokratie zu merkwürdigen, desaströsen, dummen Ergebnissen führen kann. Oder die Botschaft, dass das große Rad der Globalisierung und Internationalisierung im vergangenen Vierteljahrhundert einen zu großen Schwung hatte. Freilich, diese Botschaften generieren keinen Buchtitel.

Auf dem „Abstieg des Westens“ sind nicht nur, so Fischer, die USA, sondern auch Europa als Teil des Westens. Und die Europäische Union trifft es im Grunde noch schlimmer, Europa stehe nicht nur ein relativer, sondern gar ein „absoluter ökonomischen und politischen Abstieg“ bevor (S. 115). Nachvollziehbar stellt Fischer fest, dass die „traditionelle europäische Erzählung … überwiegend von der Vergangenheit“ (S. 139) handelt, heutzutage reiche das aber bei weitem nicht mehr aus:

Das neue Narrativ muss von der europäischen Zukunft handeln, die nicht mehr von einzelnen souveränen europäischen Staaten bestimmt werden wird, sondern von einer gemeinsamen europäischen Souveränität, die auf den Mitgliedstaaten und der europäischen Demokratie und ihrem gemeinsamen Rechtsraum gründet“ (S. 120). Ansonsten drohe „Fremdbestimmung“ (ebd.).

Zu dieser neuen europäischen Erzählung und Praxis weiß der ehemalige Außenminister, aber nur wenig Substantielles vorzuerzählen. Realistischerweise sei von einem neuen supranationalen Schwung nicht auszugehen, fürs Erste könne nur auf den Intergouvernementalismus gehofft werden. Es bliebe nur eine „Avantgardelösung“ (S. 123), d.h. eine vertiefte Integration im Rahmen der Eurogruppe, in militärischen Fragen und in der Flüchtlingsfrage. Entscheidend komme es dabei auf Frankreich und Deutschland an (S. 126 ff.). Warum greift Fischer in diesem Zusammenhang nicht auf die in der Sorbonne-Rede entwickelten Gedanken und Ansätze Macrons zurück, um etwas konkreter zu werden?

Blass bleiben auch die Anmerkungen zu den Erfordernissen einer neuen deutschen Europapolitik. Kein Wort zur deutschen Hegemonialposition in der Eurogruppe, kein Wort zur inneren und äußeren Austeritätspolitik Deutschlands, kein Wort zu den Vorschlägen Macrons (Euro-Finanzminister, Euro-Haushalt, Fiskalkapazität). Stattdessen nur der kryptische Hinweis, dass Deutschland Frankreich „ein gehöriges Stück“ (S. 130) entgegenkommen müsse.

Interessant, aber auch hier ohne Konkretion und Schlussfolgerung, der Hinweis zu Deutschlands zukünftiger Rolle in Europa:

… und Deutschland ist gut beraten, Frankreich in strategischen Fragen die Führung zu überlassen, denn es mangelt ihm darin an Erfahrung, es ist für die Aufgabe weder geistig noch real vorbereitet. Die Erfahrungen der deutschen Geschichte sprächen eigentlich für ein deutsches Verbleiben im historischen Windschatten, aber die gegenwärtige Übergangsphase hin zu einer neuen, asienzentrierten Weltordnung erfordert die Europäische Union als globalen und regionalen Akteur, der sie ohne das große deutsch-französische Potential niemals werden kann“ (S. 222).

Wie nun für Deutschland – „Windschatten“ oder selbst Akteur werden? Französische Führerschaft in der Außenpolitik, deutsche Führerschaft in der Wirtschaftspolitik? Bleibt die Frage: Warum eigentlich gibt es in Deutschlands europapolitischer Diskurslandschaft die absolute Hegemonie des wirtschaftlich-neoliberalen Biedermeiers und – nicht einmal im Ansatz- einen geopolitischen Diskurs, wie ihn Fischer mit diesem Büchlein versucht hat.

 

 

 

 

Das Jahrbuch der Europäischen Integration 2017 – Die Dokumentation des europäischen Integrationsprozesses

Das Jahrbuch der Europäischen Integration 2017, herausgegeben von Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels, erscheint in diesem Jahr zum 37. Mal. Nebenbei: Eine Großzahl der Vorgänger sind mittlerweile digitalisiert und unter www.Wissen-Europa.de einzusehen (1980-2012). In neun Kapiteln und 105 Beiträgen (1. Die Bilanz, 2. Die Institutionen der Europäischen Union, 3. Die politische Infrastruktur, 4. Die Innenpolitik der Europäischen Union. 5. Die Außenpolitik der Europäischen Union, 6. Die Europäische Union und ihre Nachbarn, 7. Die Erweiterung der Europäischen Union, 8. Die Europäische Union und andere Organisationen, 9. Die Europapolitik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union) vermitteln die Autoren in der aktuellen Ausgabe eine fundierte Gesamtschau über den europäischen Integrationsprozess, die einschlägigen Themen und die dazugehörige Literatur (meist deutsch- und englischsprachige Literatur). Wer immer sich mit europäischen Fragen auseinandersetzt, erhält hier Überblicke zu den jeweiligen Thesen und den Einstieg in Vertiefungen.

 

Werner Weidenfelds Eingangsbeitrag („Die Bilanz der Europäischen Integration 2017“) fällt ungewöhnlich pessimistisch – er spricht von einer „zweiten Eurosklerose“ – aus, dabei listet er doch die Anzeichen für eine Wende zum Guten im Jahr 2017 selbst auf: 1.) Die Signale für eine Korrektur der deutschen Europa-Politik im Mai 2017 (Merkels Wahrnehmung einer Zeitenwende angesichts des neuen Präsidenten in den USA), 2.) Die Wahlen in den Niederlanden und Frankreich, die dem so genannten Populismus Niederlagen einbrachten. Die Sorbonne-Rede Macrons lag Weidenfeld zum Redaktionsschluss des Bandes wohl nicht vor, sonst wäre die folgende dunkelschwarze Feststellung so nicht formuliert worden: „Ganz offenbar hat das Ende des Kalten Krieges der Integration Europas wichtige Elemente der Sinnstiftung geraubt.“ Die atmosphärischen Notwendigkeiten der Zeit erkennend und die „Kunst der großen Deutung“ beherrschend, hat Macron einen großen Teil seiner Rede eben um die neue Sinnstiftung herum gebaut. Es ist das Europa des Schutzraumes – Macron benutzt dafür den Begriff der „Souveränität Europas“ – in einer wild sich globalisierenden Welt. Spätere Epochenkonstruktionen von Historikern werden das Europa als Friedensprojekt als Antwort auf die Nachkriegszeit und den Kalten Krieg modulieren. Am Beginn der neuen Epoche, als der Kalte Krieg auslief, stand nicht zufällig die Bildung der europäischen Währungsunion, die ursprünglich als große Schutzgemeinschaft gegen den internationalen Finanzkapitalismus konzipiert war.

 

Darius Ribbe und Wolfgang Wessels heben in ihrem breitangelegten Überblicksbeitrag zur „Europapolitik in der wissenschaftlichen Debatte“ hervor, dass der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses auf den vielfältigen Facetten des Brexits (englischsprachige Literatur: http://www.esrc.ac.uk/) gelegen habe. Auch andere Themen werden erwähnt, u.a. zum „Euroskeptizismus und Populismus“ sowie den „Kontroversen zur Euro-/Finanzkrise und zur Wirtschaftsunion“. Wer immer sich wissenschaftlich mit aktuellen Fragen der europäischen Integration auseinandersetzen will, findet in diesem Beitrag sicher seine Einstiegsliteratur.

 

Eine fundierte Übersicht über Thesen und Literatur zum Thema „Brexit“ („the known unknown“) erhält der Leser in dem gleichnamigen Beitrag von Julia Klein.

 

Etwas fremd in dem Jahrbuch wirkt der Beitrag von Gabriele Klein mit dem Titel „60 Jahre Römische Verträge“. Der 60. Jahrestag lag zwar in diesem Jahr, ihn ausgerechnet 2017 aber in Verbindung zu bringen mit der Frage der Finalität der europäischen Integration ist eine wenig plausible und wenig aktuelle Fragestellung.

 

Ihren Artikel „Die institutionelle Architektur der Europäischen Union“ bauen Johannes Müller Gómez und Wolfgang Wessels auf drei theoretischen Modellen auf: 1. dem intergouvernementalen Modell mit dem Europäischen Rat als zentralem Entscheidungsorgan und einer folgenden Prinzipal-Agenten-Kette, 2. der Gemeinschaftsmethode mit den europäischen Institutionen als den zentralen Akteuren und 3. dem Modell der Konkurrenz zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament. Fragen ließe sich, warum bei diesen Modellen Luuk van Middelaars Modell von der Außensphäre, der Zwischensphäre und der Innensphäre (vgl. ders., „Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa“, 2016) keine Berücksichtigung findet.

Die Autoren kommen zusammenfassend zu vier Tendenzen. 1. Der Europäische Rat bleibt in der Führungsrolle des „zentralen Krisenmanagers“, bindet aber horizontal supranationale Institutionen ein. 2. Es kommt zur zunehmenden Lagerbildung im Europäischen Rat. 3. Das Parlament „schwächelt“: 4. Das Verhältnis von Kommission und Mitgliedstaaten bleibt weiter von einer großen Ambivalenz geprägt. Der Schlussabsatz: „Wie in den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – insbesondere seit Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags – zu beobachten, lassen auch die aktuellen Veränderungen Trends innerhalb und zwischen den Institutionen in gleichzeitig mehrere Richtungen erkennen. Ein eindeutiges Gleichgewicht zeichnet sich nicht ab.“ Bleibt anzumerken, dass die politikwissenschaftliche Diskussion um die deutsche Hegemonie in Europa auf solche Befunde zu beziehen wäre. Auch der säkulare Macht- und Bedeutungsverlust der Kommission scheint in dem Beitrag als solcher nicht konstatiert zu werden.

 

Der zuletzt auf dem Brüsseler Personalkarussell kreisende Martin Selmayr weist sich in dem Band als versierter Währungsexperte aus, der die Politik der EZB in einer erfrischend nüchternen und nicht von dem hierzulande getriebenen Kleinsparerhass gegen Draghi und die EZB (eine der Keimzellen für Nationalismus und Populismus) Art darstellt. Der Leser erhält – trotz der gebotenen Kürze – in dem Beitrag („Europäische Zentralbank“) einen ebenso profunden wie detaillierten Überblick über die EZB-Politik des Jahres 2017. Insbesondere der im Schlussabsatz angerissene Gedanke, dass nach dem Brexit der Euroraum 83 Prozent des BIP der EU ausmacht und damit eigentlich spezielle für die Eurozone gedachte Institutionen, wie von Macron vorgeschlagen (Parlament, Haushalt, Finanzminister), tendenziell überflüssig sind und stattdessen an einer Komplettierung der Eurozone und darauf abgestimmte neue Institutionen gearbeitet werden sollte, verdient der weiteren Vertiefung.

 

 

 

Keine Scheu vor rechtsradikalen Schnittmengen. Die MMT-Kritik an der Währungsunion

William-Mitchell+Dystopie-Eurozone-Gruppendenken-und-Leugnung-im-großen-Stil[1]

Der Buchtitel klingt nach einem rechtsextremen Pamphlet. Dem ist aber nicht so.

William Mitchell, ein an der Universität von Newcastle lehrender australischer Wirtschaftswissenschaftler, hat es sich in dem umfänglichen Buch zur Aufgabe gemacht, seine theoretischen Überzeugung auf einen Anwendungsfall zu beziehen. Der Anwendungsfall besteht aus der europäischen Währungsgeschichte und der europäischen Währungsunion, ihrer Krise und möglichen Auswegen aus der Krise. Die theoretischen Überzeugungen, die den weitaus größeren Teil des Buches ausmachen, werden durch die Modern Monetary Theory (MMT) gestellt, ein theoretischer Ansatz, der zuweilen postkeynesianisch, zuweilen chartalistisch genannt wird und, theoriegeschichtlich, auf den deutschen Geldtheoretiker Georg Friedrich Knapp (1842-1926) mit seinem Werk „Staatliche Theorie des Geldes“ (1905) zurückgeführt wird. Von Bedeutung ist auch ein Aufsatz von Abba Lerner, der in den frühen vierziger Jahren in den USA erschienen ist („Functional Finance and the Federal Debt“, 1941). Bei der MMT – Mitchell ist selbst einer ihrer Hauptvertreter – handelt es sich um eine „progressive Darstellung der Makroökonomie“ (S. 435), die sich in den neunziger Jahren zu einer einheitlichen Theorie formte (S. 497) und im Fundamentalgegensatz zum Neoliberalismus, aber auch so ziemlich jeder anderen ökonomischen Denkschule steht und Vollbeschäftigung ansteuert.

 

***

 

Die Grundannahmen der MMT, hier nicht Gegenstand der Besprechung, lauten:

  1. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist das „Fiat-Geld“, das vom Staat geschaffene Geld, das die alten Metallwährungen und das System von Bretton Woods (1971) abgelöst hat. Der Staat schreibt seinen Bürgern dieses Geld vor, indem er die Steuerschuld in seiner Währung einfordert.
  2. Daraus folgt: Der Staat – als Geldmonopolist – verfügt immer über Geld, er braucht
  3. weder Kredit noch Steuern, er kann das Geld von seiner Zentralbank „einfach drucken“ lassen, um seine Ausgaben zu tätigen. Er eröffnet ein Konto bei seiner Bank. „Die Regierung kann stets mehr ausgeben als ihre Einkünfte betragen, da sie die Zahlungsmittel schafft“ (S. 391).
  4. Daraus wiederum ergibt sich wie von selbst, dass der Staat mit seiner Zentralbank nie pleitegehen kann, es gibt kein Solvenzrisiko. Die Regierung ist frei von Ausgabenbeschränkungen. Wenn sie sich solchen hingibt (Schuldenbremsen, Schuldenquoten usw.), dann geschieht dies aus niederträchtigen neoliberalen Erwägungen heraus (S. 392 ff.).
  5. Staat und Private hängen in der Weise miteinander zusammen, dass das Defizit des einen der Überschuss des anderen ist. Ein Haushaltsüberschuss, der Traum des Neoliberalismus, bedeutet Vernichtung von privatem Vermögen. Umgekehrt bedeutet ein Haushaltsdefizit ein Anstieg von Vermögen bei den Privaten.
  6. Beschränkungen beim Staat gibt es nur durch die realwirtschaftlichen Ressourcen. „Während Haushalte sparen … müssen, um in Zukunft mehr auszugeben, können Regierungen kaufen, was sie wollen, solange es Waren und Dienstleistungen in der von ihnen herausgegebenen Währung zu kaufen gibt“ (S. 391).
  7. Schuldenquoten u.ä. sind kontraproduktiv, der Staat sollte nur funktionale Ziele verfolgen, z.B. Vollbeschäftigung.
  8. Der Staat finanziert seine Ausgaben nicht mit Steuern oder Anleihen, sondern indem er seine Zentralbank anweist, ihm ein Konto zu eröffnen. „Zentralbanken schaffen Geld per Verordnung. Wie viel Geld eine von der Regierung gesteuerte Zentralbank auf diese Weise schaffen kann, ist unbegrenzt“ (S. 389). „Man beachte jedoch, dass die dem Fiat-Währungssystem zurgrundeliegende Logik ist, dass Steuern keine Staatsausgaben finanzieren, selbst wenn die Regierung Bilanzierungsstrukturen hat, die diesen Anschein erwecken“ (S. 399).
  9. Steuern haben nichts mit der Finanzierung von Staatsausgaben zutun, sie dienen allein Zwecken der Konsumlenkung, der Liquiditätsverringerung im Privatsektor und des staatlichen Abzugs vom Realprodukt.
  10. Massenarbeitslosigkeit entsteht, wenn das Staatsdefizit zu niedrig ist (S. 405 ff.).
  11. Banken schöpfen nicht Kredit aus bei ihnen hinterlegten Guthaben, sondern den Kredit, den die privaten bei ihnen nachfragen.

Um all diese Thesen der MMT gebührlich zu verbreiten, wird auch eine neue Sprachregelung vorgeschlagen. Statt dass man dem neoliberalen Schreckgespenst von der aus diesen Maßnahmen angeblich folgenden Inflation folgt, sollte hervorgehoben werden, dass ein Staatsdefizit privates Vermögen generiert: „Demnach sollten wir sagen: Das Staatsdefizit stieg und schuf höhere Vermögensniveaus für Haushalte und Unternehmen“ (S. 439).

 

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Bei der Anwendung der MMT-Theorie auf die Währungsunion hält Mitchell zunächst drei Tatbestände fest

  1. Da es in der Währungsunion keine Fiskalbehörde gibt, kann der „Staat Europa“ auch nicht intervenieren, weder im Normalablauf noch bei Krisen.
  2. Die Staaten der Währungsunion müssen sich in einer Fremdwährung, dem Euro, verschulden, da sie keine Macht über den Euro haben.
  3. Die EZB wiederum wird gefesselt. Im Artikel 123 des AEUV ist festgelegt, dass sie den Staaten keinen direkten Kredit geben bzw. die Staaten nicht finanzieren darf (Ankauf auf dem Primärmarkt für Staatsanleihen).

Grundsätzlich ergeben sich vor diesem Hintergrund für Mitchell drei Lösungsmöglichkeiten für die Krise der Währungsunion (vgl. S. 22):

  1. Errichtung einer Föderation mit einer echten Fiskalkapazität. Nach dieser Forderung folgt aber Kauderwelsch: „Zwar könnte die WWU funktionieren, wenn sie richtig organisiert wäre, aber aufgrund der großen Unterschiede zwischen den europäischen Nationen ist es sehr unwahrscheinlich, dass es dazu kommt“ (S. 22). Richtige Organisation bedeutet: Organisation der Währungsunion nach den Grundannahmen der MMT. Dann weicht Mitchell aus: weil die Nationen zu unterschiedlich (?) sind, deshalb gibt es keine Lösung auf der Ebene der Währungsunion. Das ist nicht einmal ein Zirkelschluss. Keiner der Teilnehmer der Währungsunion agiert auf der Basis der MMT-Theorie.
  2. Die OMF-Option. Die Finanzierungsmethode OMF (Overt Monetary Finance) bedeutet, dass die EZB die Staaten der Währungsunion direkt finanziert, d.h. Staatsanleihen der Teilnehmerstaaten direkt kauft (primärer Markt). Mitchell deklariert diese Methode für „fortschrittlich“ (ebd.). Es wäre Geldschöpfung, nicht Gelddrucken und könnte die Währungsunion funktionsfähig machen.
  3. Die dritte Option wäre die Exit-Option in ihren verschiedenen Varianten, wobei die Auflösung der gesamten Währungsunion ideal, allerdings unwahrscheinlich wäre. Daher empfiehlt der Autor, dass Staaten wie Griechenland und Italien diese Lösung wählen sollten, wobei Italien als Gründungsstaat und großer Staat vorweggehen sollte.

Die Reformvorschläge der MMT für die Währungsunion erörtert Mitchell in Kapitel 20, „Die Föderative Lösung“ (S. 455 ff.), und Kapitel 21, „Overt Monetary Financing“ (S. 483 ff.). Im Kapitel über die föderative Lösung fordert Mitchell die Gründung einer „Föderativen Steuerbehörde“ (FSB), die Abschaffung des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP), höhere Staatsdefizite und die Ausgabe von durch die EZB gedeckten Anleihen, was die Beseitigung des Artikels 123 AEUV bedeutete. Damit wäre die Staatsschuldenkrise sofort beseitigt. Dieses Paket erfordere einen „gründlichen Paradigmenwechsel“ (S. 461). Es folgt wieder ein Denkfehler:

„Ein europaweiter Paradigmenwechsel im Wirtschaftsdenken ist jedoch nicht zu erwarten, so fest hat der Neoliberalismus den Berufsstand der Wirtschaftswissenschaftler und die Politiker im Griff. In diesem Zusammenhang wird es einer einzelnen Nation leichter fallen, auszutreten und mit einem Neuansatz der Politikgestaltung eine neue Kultur des Wachstums aufzubauen“ (S. 461).

Diese Logik muss man verstehen, sie könnte so funktionieren: Was im Großen nicht möglich ist, gelingt besser im Kleinen. Weil der Neoliberalismus nur noch in Europa fliegt und sich in den Nationen zurückgezogen hat, um vernünftigen Kräften Platz zu machen? Das, was Mitchell aus seiner britisch-australischen Perspektive nicht erkennt, ist, dass die in einzelnen Staaten sich formierende Kritik an der Währungsunion nicht aus der Überzeugung von einer neuen Arbeitsmarktpolitik resultiert, sondern stinkiger nationalistischer Motive wegen. Seit an Seit mit dem nationalistischen Gesindel raus aus der Währungsunion, lautet offenbar seine Devise.

Die bestehenden Diskussionen um eine Wirtschaftsunion (Fiskalkapazität, Eurobonds, Finanzminister usw.) verwirft Mitchell allesamt, weil sie nicht anschlussfähig sind für die MMT und diese umgekehrt keine Anschlussflächen bieten kann. Die „Progressiven“ müssten einen „Angriff auf die gesamte Sparkultur“ führen, die „neoliberale Zwangsjacke“ müsse in einer „sofortigen politischen Reaktion“ abgelegt werden und – ganz im rechtsradikalen Duktus – das „Diktat ungewählter Intriganten in Brüssel, Frankfurt und Washington“ überwunden werden (S. 481).

Der zweite potentielle Lösungsansatz setzt bei der EZB an. Es geht um das Konzept der OMF, einem weiteren neoliberalen Schreckgespenst, das es nach Mitchell zu bekämpfen gilt. Nicht zu verwechseln ist dieses Konzept mit dem OMT-Programm der EZB, dem Outright Monetary Transactions Konzept (Ankauf von Staatspapieren auf dem Sekundärmarkt).). Das Programm der Quantitative Easing (QE, riesige zinsgünstige Kredite der EZB für die Geschäftsbanken), so Mitchell, sei keine vernünftige Antirezessionsstrategie, weil der private Sektor nicht bereit ist zu investieren. Die einzige Möglichkeit sei eine Erhöhung des Staatsdefizits.

An dieser Stelle setzt dann Mitchells Plädoyer für das OMF ein. Zunächst verweist er darauf, dass dies nicht zu verwechseln sei mit dem, was von den Neoliberalen meist als „Gelddrucken“ denunziert wird, dem Kauf von Staatspapieren durch die Zentralbank. Das sei ein „buchhaltungstechnisches Tarnmanöver“ (S. 494), denn: „Die Zentralbank benötigt die ausgleichenden Geldmittel (Staatsanleihen) nicht, da sie ja die Währung aus dem Nichts schafft“ (ebd.). Den an dieser Stelle durch den Neoliberalismus erhobenen Vorwurf, dadurch würden die Tore der Inflation geöffnet, versucht Mitchell zu widerlegen. Aber auch dieser Vorschlag hat in der Währungsunion keine Realisierungschance.

Wenn die Währungsunion also weder auf der fiskalischen noch auf der geldpolitischen Ebene reformierbar ist, bleibt nur noch der Exit. Ganz in der rechtsradikalen Tonlage beginnt das Kapitel 22 (S. 529 ff.): „Nichts an der Eurozone ist unwiderruflich“ (S. 530). Mit der Herstellung der Währungssouveränität sei ein entscheidender Schritt getan: „Eine Nation, die ihre eigene Währung wieder einführt, mehrt ihre Möglichkeiten und verändert das Machtgleichgewicht zwischen sich und den Finanzmärkten“ (S. 531).

Wenn Mitchell für Italien den Austritt empfiehlt, meint er immer mit, dass die Akteure hernach Wirtschaftspolitik mit den Annahmen der MMT betreiben. Bei den Trägern des Austritts – aktuell: die Cinque Stelle und die Lega Nord – schon eine mutige Annahme. Genauso mutig ist die Annahme, dass dieses Bündnis eine Finanzpolitik betriebe zur „Maximierung des Wohlergehens der Bürgerschaft“ (S. 536). Mit von der Banca d‘Italia gedeckten Schuldverschreibungen das Bürgergeld im Mezzogiorno finanzieren, das sich dann im Handumdrehen auf den Weg macht, den Status der abgehängten Region zu überwinden. Dazu braucht man schon reichlich Phantasie. Noch mehr Phantasie braucht man, wenn man das Folgende liest:

„Durch eine Abkehr von der Sparkultur und eine Wiederherstellung der Währungshoheit erhielte die austretende Regierung zahlreiche Gelegenheiten, um brachliegende Ressourcen, die arbeitslose Bevölkerung eingeschlossen, wieder produktiv zu nutzen. Der Anleihemarkt würde einer währungsemittierenden Nation gegenüber zum Bittsteller, weil die Zentralbank die Zinssätze steuern und Anleger jederzeit aus dem Markt verdrängen könnte. Es würde irrelevant, ob die Anleger die in der neuen Währung herausgegebenen Staatsanleihen erwerben wollen. Der neu ermächtigte Staat könnte weiterhin Ausgaben tätigen und alles kaufen, was in seiner eigenen Währung erhältlich ist“ (ebd.).

Dass die Finanzmärkte zum „Bittsteller“ beim Verkauf von Lira-Staatsanleihen, von der Zentralbank direkt herausgegeben, werden, ist schon eine ulkige Vorstellung. Die Bedingungen, unter denen die Finanzmärkte Italien Geld leihen, werden ja nicht von den Italienern definiert. Ob dazu eine Zentralbank, die permanent Geld emittiert, gehört, mag bezweifelt werden. Ob die inländischen Händler und Produzenten ihre Waren weiter gegen Lira verkaufen eine andere. Und wie soll die Außenrechnung beglichen werden, die Devisen verdient werden, um den Import zu finanzieren? Die wahrscheinliche Entwicklung wäre, dass Italien binnen kurzer Zeit aus der internationalen Arbeitsteilung verschwinden würde und vor einer erneuten Währungsreform stünde.

Etwas allgemeiner formuliert: Die Exitwährung könnte nicht unbedingt mit freundlichem Verhalten der EU rechnen. Die Staaten der Währungsunion bestünden auf der Rückzahlung der italienischen Staatsschuld, soweit es Auslandsschulden sind, in Euro. Das internationale Umfeld, in das die Exitwährung gestoßen würde, sind Finanzmärkte, auf denen Währungswettbewerb herrscht. So jedenfalls war es, bevor in Europa die Währungsunion eingeführt wurde. So ist es gegenwärtig auch um Großbritannien herum, das ja noch so etwas wie eine Anlagewährung hat. Die auf den Weltmarkt gerichtete norditalienische Industrie wird sich bedanken, wenn sie erneut in eine Ordnung flexibler Wechselkurse, von Mitchell über die Maßen gefeiert (S. 386 und S. 559), mit all den dazu gehörenden Unsicherheiten gestoßen wird. Und der Import dürfte bei einer permanent abwertenden Lira völlig zusammenbrechen. Völlig nebulös bleibt bei Mitchell, wie er zu den Thesen vom neuen „Machtgleichgewicht“ zwischen der Exitnation und den Finanzmärkten kommt.

 

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Weithin bekannt ist, dass angelsächsische Ökonomen wenig von dem politischen Charakter europäischer Integration, von europäischer Währungsgeschichte und Stellenwert und Ordnung der Währungsunion verstehen. Uneingeschränkt gilt das auch für William Mitchell. Er liest bspw. die Währungsgeschichte falsch. An mehreren Stellen seiner Arbeit (S. 10, 45 ff., 410, 532 f.) hebt er hervor, dass der in Maastricht beschlossene Plan für die Währungsunion einen fatalen Rückschritt gegenüber dem Werner-Plan von 1972 darstelle, weil nämlich auf eine fiskalische Komponente verzichtet worden sei. Dass der „monetaristische Ansatz“ sich durchgesetzt hat, nimmt er wortwörtlich und ordnet die Maastricht-Konstruktion als monetär-neoliberales Gebilde ein. Konzeptionell und in der historischen Einordnung stimmt daran nichts. Der Werner-Plan war ein am Reißbrett entworfenes Projekt, dass nicht in den Währungswirren der damaligen Zeit untergegangen ist, sondern von vorneherein zum Scheitern verurteilt war, weil es keiner der Beteiligten wirklich wollte. Und der Maastricht-Plan war nicht Ausfluss einer ideologischen Konzeption, sondern das Minimalergebnis einer politischen Verhandlung, die einzig und allein Integration auf monetärem Gebiet wollte und im Traum an keine politische, fiskalische oder supranationale Integration dachte.

Das nicht zu wissen, ist nicht weiter schlimm. Schlimm aber ist, auch für einen Australier in Großbritannien, die Ahnungslosigkeit von dem politischen Feld, auf dem seine Erwägungen und Vorschläge spielen. Wer die Auflösung der Währungsunion oder auch nur den Exit einzelner Staaten aus der Währungsunion fordert, legt die Axt an den mittlerweile gewachsenen europäischen Integrationsstamm. Die gesamte rechtsradikale Rattenfängerschaft in Europa denkt, dass sich die Völker außerhalb der Währungsunion besser nähren können. Es gibt keine Integration à la carte – europäische Rechtsstaatlichkeit, aber ohne Währungsunion, wie Mitchell es an einer Stelle erwähnt (S. 534). Seit 1990 geht es immer ums Ganze. Raus aus dem Euro, Exit für Griechenland, Exit für Italien sind rechtsradikale Forderungen, die durch nichts besser werden, wenn sie mit edlen gesellschaftspolitischen Zielen verknüpft werden. Verantwortungslos sind sie noch dazu, weil das Verhältnis von Exitwährung/Exitnation und neuem internationalen Umfeld – gerade wenn unterstellt wird, dass die MMT in die Verfassung geschrieben wurde – in einer unverständlich naiven Weise skizziert wird. Wenn schon MMT, dann auf der europäischen Ebene.