Der Neue Intergouvernementalismus

Uwe Puetter, The European Council & The Council. New Intergovernmentalism and institutional change, Oxford 2014. 265 Seiten.

 

Die Stichworte des Neuen Intergouvernementalismus (NIG) oder Deliberativen Intergouvernementalismus (DIG), nach eigenem Bekunden eine Integrationstheorie mittlerer Reichweite, sind: Post-Maastricht-Ära, Integrationsparadox, institutioneller Wandel, die neuen Gravitationszentren der Integration: Europäischer Rat (ER) und Ministerrat (MR), neue Themenfelder der Integration (Wirtschaft, Außenpolitik sowie Beschäftigungs- und Sozialpolitik), Integration außerhalb der Gemeinschaftsmethode, Koordinationsmethode, Deliberation, Zwang zur Konsensgenerierung.

Zusammengebaut zu einer These ergibt sich daraus: Mit dem Vertrag von Maastricht (1992) wurde die Integrationsdynamik, die bis dahin von der Gemeinschaftsmethode – die Kommission legt Rechtsakte vor, Rat und Parlament stimmen darüber ab – beherrscht wurde, abgelöst durch den NIG/DIG, in dessen Mittelpunkt der Europäische Rat (ER) und der Ministerrat (MR) als neue europäische Gravitationszentren stehen. Zu beobachten sei für diese Zeit ein Integrationsparadox, einerseits wende man sich mit der Infragestellung der Gemeinschaftsmethode in gewisser Weise von Europa ab, andererseits sei überhaupt keine Europamüdigkeit zu registrieren, im Gegenteil, das Interesse an europäischen Themen seitens der Nationalstaaten nehme zu, die Themen würden nur anders bearbeitet. Der Übergang zu der neuen Integrationsmethode sei eng verknüpft mit der nach Maastricht zu registrierenden Hinwendung zu neuen Politikfeldern (s.o.), die man nicht der Kommission überlassen wollte, sondern die die Nationalstaaten selbst gestalten wollten. Im Innern der beiden neuen spielbestimmenden Institutionen, ER und MR, einschließlich ihrer Satelliten (u.a. Eurogruppe, COREPER), bestehe ein Zwang zu Konsensbildung und Deliberation.

Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, ob es einen wesentlichen Ausgangspunkt für die neue Dynamik der Integration gibt und wie ein System in die neue Ordnung zu bringen ist, lässt der Autor weitgehend offen. Es gibt keinen Ausgangs- und keinen Endpunkt, keine Ursache und keine Wirkung, keine treibende Kraft und keine Erscheinungen, alles schwebt und mäandert auf einer Ebene und kann in beliebiger Reihenfolge zu einem Gesamtpaket zusammengeschnürt werden. Insgesamt vermitteln die Ausführungen eher den Eindruck einer verständigen Beschreibung der Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten als den Eindruck von Erklärung, Kausalität, Ursache und Wirkung. Auffällig ist auch, dass sich die Argumentation an keiner Stelle um das Inhaltliche der Integrationsthemen bekümmert, sondern ausschließlich auf der Ebene der Institutionen und der institutionellen Vorgänge verbleibt. Das kann nicht gutgehen.

Schon auf den ersten schnellen Blick mutet es verquer an, den Unterschied der Politikmuster vor und nach Maastricht an den in Anwendung gekommenen Integrationsmethoden festzumachen. Vor Maastricht = Gemeinschaftsmethode, nach Maastricht = (dezentrale) Koordination zwischen den Nationalstaaten. Dass mit den neu hinzugekommenen Politikfeldern – Wirtschaft, Äußeres, Soziales/Beschäftigung – die Gemeinschaftsmethode nicht mehr so oft in Erscheinung tritt, liegt ganz banal 1.) daran, dass für die Wirtschaft mit und nach der „Eurokrise“ diskretionäre Politik betrieben werden musste, für die man keine Rechtsakte benötigte, nicht nur, aber auch, 2.) für das Äußere daran, dass Außenpolitik selten mit Gesetzen praktiziert wird und 3.) daran, dass das Soziale/die Beschäftigung nahezu ausschließlich auf nationaler Ebene gehändelt werden. Dass der Autor das Letztere zu den neuen Betätigungsfeldern europäischer Politik rechnet, ist, nebenbei gesagt, eher eine Schnapsidee.

Dass sich nach Maastricht ein integrationspolitischer Wandel in jeder Hinsicht vollzogen hat, ist unbestritten. In das veränderte Integrationsgeschehen ließe sich relativ einfach Ordnung bringen. Ausgangspunkt der Überlegungen darf dabei nicht die institutionelle Ebene sein, sondern das politische Themengebiet, über das sich die Nationalstaaten zu verständigen beabsichtigen, also die Inhalte der Integration. Bis zum Maastrichter Vertrag war die Europäische Kommission in ihrem Kern eine Art europäisches Ordnungsamt für den Marktzugang. Die so genannte Gemeinschaftsmethode war auch ausschließlich darauf bezogen. Und wie das mit Ordnungsämtern so ist – sie sind keine autonomen Einheiten, die nach Gutdünken Politik betreiben können, sondern sehr nachgeordnete Behörden in der Exekutiven, die ihre Vorgaben von wo ganz anders her erhalten, jedenfalls nicht vom Chef des Ordnungsamtes. All das sollte sich dann mit dem Vertrag von Maastricht aus den hinlänglich bekannten historischen Gründen verändern.

An dem Übergang zwischen Einheitlicher Europäischer Akte und Maastrichter Vertrag, also in den frühen neunziger Jahren, hat sich nicht einfach Integration fortgesetzt, auch nicht mit einem qualitativen Sprung (spill over in die high politics), nein, es war ein Neubeginn der Integration. Alle Theoretisierungen und Historisierungen, die eine wie immer geartete Kontinuität zwischen dem Prä und dem Post von Maastricht unterstellen, sitzen – auch wenn sie sich heftig distanzieren – einer neofunktionalistischen Phantasmagorie auf, was zu abwegigen Ergebnissen führt.

Neuer Intergouvernementalismus klingt ganz danach, als habe es weiland auch einen Alten Intergouvernementalismus gegeben. Der Autor geht darauf nicht explizit ein, so dass man mutmaßen muss. Im Zusammenhang mit der europäischen Integration kann damit nur das Verhalten der Staaten im Ministerrat gemeint sein, wenn sie z.B. um Normen, Standards, Grenzwerte für den Marktzugang gefeilscht haben oder die heimische Wirtschaft gegen diesen oder jenen Zolltarif schützen wollten. Dieser Alte Intergouvernementalismus war eingebunden in die Gemeinschaftsmethode und strikt auf den Gemeinsamen Markt bzw. Binnenmarkt begrenzt.

Bei dem NIG/DIG, so hat man als Leser des Büchleins den Eindruck, habe sich insofern etwas geändert, als seien die Nationalstaaten vom Schachern und Feilschen abgekommen und hätten sich, geläutert, auf das Deliberieren, das Beraten und Diskutieren, verlegt. Es scheint, als schreibe der Autor diesen Läuterungsprozess dem durch die Verträge von Maastricht und Lissabon institutionell verankerten Einstimmigkeitsprinzip, das einen Zwang zur Konsensbildung („constant generation of consensus“, S. 34, „quest for consensus generation“, S. 4) hervorbringe, zu. Dieser Zwang zur Konsensbildung nimmt eine Schlüsselstellung in der Argumentation des Verfassers ein, wird aber leider nicht systematisch vertieft.

An dieser Stelle wird es brisant, schlägt um ins Groteske und stellt die Vorgänge der Krisenbearbeitung in Europa, insbesondere der Ordnungskrise in der Währungsunion, auf den Kopf. Es rächt sich, dass der Autor ohne jede Beachtung des Inhaltlichen der (Wirtschafts)Politik argumentiert. Die Austeritätspolitik, die in Europa nach dem Ausbruch der Ordnungskrise in der Währungsunion durchgesetzt wurde, war nicht das Ergebnis von Deliberation, sondern deren Gegenteils, der deutschen Hegemonialpolitik. Nicht Deliberation und Konsensbildung fand statt, sondern Verweigerung, sprich Vetopolitik – Merkel zu Eurobonds: „wird es nicht geben, solange ich lebe“ (2012) –, Gruppenbildung – Nordstaaten gegen Südstaaten in der Eurozone – und rücksichtslose, dumme, ideologische Wirtschaftspolitik gegenüber den Programmländern.

Ansonsten wurde die gesamte Wirtschaftspolitik, nicht zuletzt auf Druck Deutschlands, im Rahmen der Gemeinschaftsmethode zu Gesetzespapier gebracht – mit zwei Ausnahmen. Twopack, Sixpack, Europäisches Semester, Euro-Plus-Pakt, die beiden ersten Säulen zur Bankenunion – all dies ging auf dem Weg der Gemeinschaftsmethode in das europäische Recht ein. Die beiden Ausnahmen: 1.) der Fiskalpakt (2012) wurde außerhalb der Verträge abgemacht, aber nicht wegen des institutionellen Wandels, sondern weil zwei Länder (Großbritannien und Tschechien) nicht mitmachen wollten, und 2.) die Programmfinanzierung via EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) und ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), auch nicht wegen eines institutionellen Wandels, sondern weil man der Kommission misstraute, die hätte ja eine zu europäische Politik betreiben können. Apropos ESM: über kurz oder lang wird der als Europäischer Währungsfonds (EWF) in das Gemeinschaftsrecht übergehen – auf dem üblichen Weg der Gemeinschaftsmethode.

Auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, der „economic governance“, lässt sich der NIG/DIG also nicht nachweisen. Die Gemeinschaftsmethode kam in den beiden anderen Politikfeldern, die angeblich für die neue Phase der Integration stehen, die Außenpolitik und die Sozial- und Beschäftigungspolitik, deshalb nicht zur Anwendung, wie oben erwähnt, weil man im ersten Fall, der Außenpolitik, tendenziell wenig an Gesetzen benötigt, und im zweiten Fall, der Sozial- und Beschäftigungspolitik, überhaupt nicht europäisch integrieren will. Nebenbei: Die desaströse Außenpolitik der Union in den Jahren zwischen 1992 bis 2008 mit dem Label der Deliberation zu analysieren, ist ein sehr mutiges Unterfangen.

Die letztlich wichtigere Frage ist, ob man die Integrationsphase nach Maastricht, den Aufstieg des ER zum Zentralorgan der Europapolitik und die neuen Politikfelder der Integration noch mit dem Begriff des Intergouvernementalismus einfangen kann. Das konventionelle Begriffspaar „supranational“ und „intergouvernemental“ dichotomisiert das Integrationsgeschehen ausschließlich auf institutioneller Ebene, es gehört eigentlich einer längst untergegangenen Zeit an. Wählt man zum Ausgangspunkt aber das Politikergebnis, das die Institutionen anstreben, die Inhalte der Politik, dann betreiben beide Institutionen Europapolitik. Wie diese entstanden ist, ob auf supranationalem oder intergouvernementalem Weg, lässt sich am Politikergebnis nicht mehr ablesen. Dass die Begriffe ins Tanzen kommen, merkt der Autor selbst an, wenn er davor warnt, die Gemeinschaftsmethode als progressiv und die koordinierende intergouvernementalistische Methode als destruktiv zu bezeichnen (S. 241).

Der ER, so betont der Autor zu Recht, ist das Gravitationszentrum der europäischen Integration. Ihn aber „the new centre of political gravity“ (Kapitel 3) zu nennen, ist etwas unscharf. Wer genau hingeschaut hat, konnte auch für die Zeit vor Maastricht feststellen, dass der ER der „Herr der Integration“ war. Er war als solcher nur nicht zu erkennen, weil er sich im Hintergrund hielt und die Kommission machen ließ, da die Marktordnungspolitik nicht zu den sensiblen Kernsouveränitäten eines Staates zählt. Das ist das eine.

Das andere: Im ER sitzen spätestens seit Maastricht keine reinen Nationalpolitiker mehr, sondern Doppelcharaktere – in der einschlägigen Literatur tragen sie einen „Doppelhut“ –, Nationalpolitiker und Europapolitiker in einem. Als Kollektivorgan hat der ER spätestens seit der „Eurokrise“ die europäischen Regierungsgeschäfte übernommen, die „day-to-day“-Politik. Für das, was der ER dabei an Politik betreibt, benötigt man den Begriff des Intergouvernementalismus nicht mehr, auch nicht mit dem erneuernden Attribut der Deliberation.

 

Beim Blick in die Zukunft vernebelt sich die Erinnerung an die Vergangenheit. Politisch-ökonomische Kuriositäten aus dem Kabinett des Juristen Schäuble

Wolfgang Schäuble, Zur Zukunft von Deutschland in der Europäischen Union, Nomos, Baden-Baden 2019.

Er lässt sich gerne als einen der „scharfsinnigsten Köpfe unserer Zeit“, so das Handelsblatt, feiern und „liest“, wie die Zeitung für Deutschland berichtet, „der Wirtschaft die Leviten“. Der ehemalige deutsch-europäische Finanzminister.

Scheiden Politiker aus ihrem aktiven Berufsleben aus, gelingt es manchen, aus der Distanz und der veränderten Perspektive, zu Einsichten über ihr Tun zu gelangen, die sich ihnen vorher verschlossen hatten. Helmut Schmid z.B. hatte sein europa- und frankreichfeindliches Agieren aus der Entstehungszeit des EWS später – jedenfalls indirekt – bereut. Er wurde auf seine alten Tage zu einem glühenden Anhänger der europäischen Einigung und scharfen Kritiker der deutschen Europapolitik unter Merkel.

Diese Chance hat Wolfgang Schäuble in seiner Rede („Leipziger Vorträge zu Recht und Politik“) verpasst. Er hätte als quasi-europäischer Finanzminister die Verantwortung für die gelähmte Fiskalpolitik und die verheerenden Wachstumsraten in der EU und der Eurozone übernehmen können. Die deutsche Austeritätspolitik seit 2010 schob nicht nur die gesamte Zuständigkeit für Wirtschaftspolitik auf die EZB, sondern führte auch in die Rezession der Jahre 2012/13 und das gebremste Wachstum im Durchschnitt des Konjunkturzyklus. Es dürfte, nachdem sich das Ende jetzt abzeichnet, bei knapp über 1 Prozent liegen. Wirtschaftsgeschichtlich wird das vergangene Jahrzehnt als verschenktes Jahrzehnt verbucht werden, mit nicht überwundener Massenarbeitslosigkeit, insb. bei den Jugendlichen, brachliegenden sozialen Möglichkeiten und verschenkten Innovationspotentialen. Dafür übernimmt der ehemalige Finanzminister keine Verantwortung in seiner Rede.

Unter maßgeblicher Teilnahme von Schäuble hat Deutschland im Gefolge der Finanzkrise (2008) und insbesondere der Ordnungskrise der europäischen Währungsunion (2010) für eine europawissenschaftliche Neuerung gesorgt: Man hat dem Begriff der „Haftung“ in den Rang einer, wenn nicht der europäischen Schlüsselkategorie verholfen. Haftung ist nicht mehr als monetarisierte Verantwortung, Verantwortung aus dem Himmel der Moral heruntergeholt in die schnöde Welt von Egoismus, Nationalismus und Versicherungswesen. Dass man die Südeuropäer für etwas haften ließ, das erstens nicht sie allein zu verantworten hatten und das zweitens einen erheblichen Nutzen für das eigene deutsche Land brachte, war schon ein ökonomisch-politisches Meisterstück. Jetzt aber, am Ende des langen Zyklus, stellt sich die Frage, wer die Verantwortung, vulgo Haftung für die vergangenen zehn Jahre europäischer Wirtschaftspolitik übernimmt. Dass in den zehn Jahren in Europa deutsche Wirtschaftspolitik betrieben wurde, hatte man sich doch immer gerne angehört. Jetzt auch noch im Rückblick?

 WachstumEUEurozone2008-2018

Zu diesem Thema äußert sich Schäuble in seiner Rede also nicht. Stattdessen trägt er in einem beflissen strukturierten Text (Einleitung, Hauptteil, Schluss plus Fußnoten mit „ausgewogener“ Literatur) einige politisch-ökonomische Kuriositäten zusammen, die die Zuhörerschaft sicher ein ums andere Mal in Erstaunen versetzt haben.

Die Kritiker der EZB-Politik vergäßen, so beginnt Schäuble, „dass in der Staatsschuldenkrise Europas fiskalisches Krisenmanagement dringend erforderlich war, aber unterblieb. Die Regierungen zeigten sich zu lange zögerlich bis inaktiv. Sie machten ihre finanzpolitischen Hausaufgaben nicht, sodass der EZB gar nichts anderes übrig blieb, als einzuspringen, um einen wirtschaftlichen Kollaps der Euro-Zone zu vermeiden“ (S. 17). In Sachen Demagogie war der ehemalige Finanzminister schon immer ein Meister. Die EZB trug mit ihrer Zinspolitik auch schon Schuld am Aufstieg der Neonationalisten, ließ er einst wissen. Wie es gerade passt, die Karten legen sich schon zurecht. So, als sei es nicht Deutschland gewesen, das mit Schuldenbremse, Schwarzer Null und Schwäbischer Hausfrau für die Eliminierung der Fiskalpolitik aus der nationalen und europäischen Wirtschaftspolitik gesorgt hat. Das Geheimnis: Mit den nicht erledigten „finanzpolitischen Hausaufgaben“ meint er nicht aktive Ausgabenpolitik, sondern schlaue Wachstumspolitik durch Einsparungen, sozusagen Wachstum aus dem Nichts.

Mehr als wohlfeil ist auch Schäubles Forderung nach der Vollendung der Bankenunion in Europa, hat er doch während seiner Amtszeit an vorderster Front dazu beigetragen, die Bankenunion als Abwehr gegen die nächsten Stürme einer Finanzkrise zu verhindern. Am Anfang stand das Verweigerungsbündnis Merkel-Steinbrück, die im Oktober 2008 den Schritt in die Bankenunion in Gestalt einer gemeinsamen Rettungsaktion der wankenden Banken in Europa verhindert haben. Im Juni 2012, auf dem Höhepunkt der europäischen Ordnungskrise, wurde Merkel dann von einem französisch-italienisch-spanischen Bündnis im Europäischen Rat überrumpelt und der Einstieg in die Bankenunion war grundsätzlich eröffnet. Der Finanzminister spielte danach im Ministerrat die Rolle des Ausputzers: verhindern, wo verhindern geht.

Schäuble vergisst in seiner Rede einfach zu sagen, dass die gemeinsame Einlagensicherung mehrfach an Deutschland gescheitert ist, speziell an ihm (S. 18). Sein Nachfolger Scholz steht ihm diesbezüglich in nichts nach. Die gemeinsame Einlagensicherung (EDIS = European Deposit Insurance System) wird, da die Sparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken im Nacken sitzen, weiter blockiert. Sie, die EDIS, ist wichtig, nicht weil es darum geht, „deutsche Sparer“ für die Fehler liederlicher italienischer Banken bluten zu lassen, sondern weil sie verhindern kann, dass in kritischen Situationen Kapitalflucht aus bedrohten Ländern – in einer Währungsunion eigentlich ein Unding – verhindert werden kann.

Mit Blick auf das europäische Erzübel, die Staatsverschuldung, plädiert Schäuble, ganz getreu seiner Politik als Finanzminister für mehr Markt und weniger Staat. Den „Sündern“ in Südeuropa soll nicht mit Brückenkrediten aus dem Europäischen Stabilisierungsfonds (ESM) aus der Patsche geholfen werden, nein, man solle erstens mehr staatliche Insolvenzerklärungen durchführen – nichts gelernt aus dem Spaziergang von Deauville oder vielleicht gerade das Passende? – und zweitens kräftige Risikoaufschläge für Kredite oberhalb der Verschuldungskriterien verlangen. Der Jurist hält die Verschuldungskriterien, das ist bekannt, für naturgesetzliche Größen, eine Art Urmeter der Finanzwissenschaft.

Einen ganz seltenen Vogel schießt Schäuble mit seinen Einlassungen zu den Target-2-Konten ab. In der verworrenen Diskussion zu diesem Thema hat er unter Berufung auf einen Artikel in der Zeitung für Deutschland aus dem vergangenen Jahr die allgemeine Wirrnis um die allerletzt Schleife erweitert. Des Autors Idee, der sich Schäuble anschließt: Aus den Target-2-Salden der Bundesbank wird Geld gemacht und in einen „Europäische Solidaritäts-Fonds“ übergeführt, mit dem dann Investitionen in Südeuropa getätigt werden können. Diese Idee kann man gar nicht genug ausschmücken, handelt es sich doch um eine multiple Win-win-Situation: Sie kostet den Steuerzahler in Deutschland nichts, die Investitionsschwäche in Europa wird überwunden, und man hat ein monetäres perpetuum mobile gefunden.

Schon wer versucht die Target-2-Salden zu einem ernsthaften, diskussionswürdigen Thema zu stilisieren, setzt sich dem Verdacht aus, auf eine Einladung der Bundestagsfraktion der AfD für eine Fortbildungsveranstaltung zu spekulieren. Buchungsposten stellen keine Probleme dar, sie sind nur Buchungsposten. Das Interesse an dieser Diskussion speist sich einzig und allein aus dem herbeigesehnten Untergangsszenario einer sich auflösenden europäischen Währungsunion. Die Target-Salden üben als solche auch keine irgendwie geartete ökonomische Dynamik aus, etwa dass sie einen Druck auf irgendetwas bewirken oder dass das Überschreiten einer Grenze zu einer irgendwie gearteten Katstrophe führt.

Wer aber daran glaubt, dass es sich bei dem bei der Bundesbank angehäuften Traget-2-Konto 1.) um eine reale Größe, 2.) um eine operationalisierbare Größe handelt, macht sich zum Hofnarr und vollzieht den allerletzten Schritt in die Voodoo-Ökonomie. Es wäre ja nichts dagegen einzuwenden, käme die Bundesbank in einem Anflug europäischer Solidarität auf die Idee und schaffte mit dem bei ihr liegenden Konto „aus dem Nichts“ einen Kredit für Investitionen in Griechenland und Süditalien. Auch die MMT-Vertreter (Modern Monetary Theory) sehen ja keine ökonomischen Beschränkungen für staatliche Investitionstätigkeit. Wer aber noch über Reste eines Verständnisses von realen wirtschaftlichen Größen verfügt, wird diesen Schaffensprozessen aus dem Nichts eher skeptisch gegenüberstehen. Dass sich ein Jurist auf solche gedankliche Abenteuerchen einlässt, ist eher ungewöhnlich.

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Was enthält die Rede des „scharfsinnigen Kopfs“ jenseits dieser politisch-ökonomischen Kuriositäten sonst noch an europapolitischen Grundsatzgedanken?

Das Übliche, könnte man sagen, das Übliche der aktuellen konservativen Europapolitik. Da, wo es sich bequem auf dem Trittbrett fahren lässt, in der Verteidigungspolitik, fordert Schäuble mehr, viel mehr Europa, nämlich die Europäische Armee. Da, wo es um Moral geht, auf dem Gebiet der Migrationspolitik, fordert er – nicht die europäische Verteilung der Flüchtlinge, sondern ganz dem monetären Grundgedanken seines Denkens folgend – das Anreizsystem der Kürzung der Sozialleistungen für Migranten, um abzuschrecken.

Ansonsten entwickelt er noch einen höchst speziellen Gedanken zur Integrationsmethode. Dass Europa nicht vorankommt – und es soll ja nach Schäuble in den Bereichen Äußere Sicherheit, Migration, Ökonomie vorankommen („mehr Europa“, S. 12) –, rechnet er doch tatsächlich, man glaubt es kaum, dem Lissabon-Vertrag zu, der wenig Spielräume für Vertiefung zulasse. Er verkauft sein Publikum für dumm und verschweigt ihm, dass es Deutschland bzw. in vielen Dingen auch er selbst höchstpersönlich als Finanzminister es war, welche die Vertiefung intergouvernemental verzögert, blockiert und verhindert haben.

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Dankenswerter Weise veröffentlicht der Nomos-Verlag in dem Bändchen noch einmal das berühmte Schäuble-Lamers-Papier aus dem Jahr 1994. Damit hat man dann die europapolitischen Grundsatzäußerungen Schäubles schon komplett zusammen.

Er hätte sich auch hier ehrlich machen können, der „scharfsinnige Kopf“. Er hat es immer gerne gehört, dass er in dem Papier mit seinem Kollegen etwas Originelles zur Integrationstheorie und zur europäischen Einigung beigetragen habe. Das ist aber mitnichten der Fall. Die variable Geometrie, das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, das Kerneuropa, das vorangehen müsse – all das gab es schon längst (Schengen, Währungsunion), bevor die beiden CDU-Politiker es als Ausgangspunkt für Thesen und Prognosen zur zukünftigen Entwicklung Europas nach dem Maastricht-Vertrag machten und ihre Gedanken dazu aufschrieben. Das war wenig originell. Das andere, was in dem Papier stand, all die Prognosen und Thesen zur Integrationszukunft, die den eigentlichen Bestand des Papiers ausmachten, ist alles nicht eingetreten: dass die Währungsunion aus fünf Kernstaaten bestehen, dass die Währungsunion einen Kern für eine Politische Union bilden und dass der feste kleine Kern für eine immer engere Abstimmung in der Wirtschaftspolitik sorgen würde. Und was schon überhaupt nicht eingetreten ist, war die Prognose, dass „die Kommission Züge einer europäischen Regierung“ annehmen würde. Die Kommission wurde zu einem der größten Kontrahenten des vormaligen Finanzministers, wo es nur ging, hat er sie abgekanzelt. – Mit all dem haben sich die beiden Autoren mächtig vertan. Aber sie lassen sich gerne dafür rühmen.

 

 

 

 

Von der Hayekianisch konfigurierten europäischen Währungsunion und den beklagenswerten Souveränitätsverlusten .

Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, Zürich-Berlin 2015.

Zu den Standardargumenten der Linksnationalen gegen die Europäischen Union (EU) gehört, dass diese auf einer „neoliberalen DNS“ aufbaue, als wirtschaftlicher Zusammenschluss mit dem Nationenwettbewerb einer „Hayekianischen Grundanordnung“ entspreche und sich eine Zentralbank leiste, die der marktradikalen Utopie eines „entnationalisierten Geldes“ gleichkomme. Ein Argument ist dümmer als das andere, und die Dümmlichkeit legt die Vermutung nahe, dass die Linksnationalen im Hauptberuf Nationalisten sind und eher im Nebenberuf Sozialisten.

In der nicht mehr ganz so neuen Studie „Der Souveränitätseffekt“ (2015) schreibt der Berliner Hochschullehrer Joseph Vogl unter Bezugnahme auf die unabhängige und dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität verpflichtete Europäische Zentralbank (EZB): „Einerseits hat man damit die Grundlagen einer Geld- und Währungspolitik ohne Staat gelegt, die mehr oder weniger den Kriterien einer neoliberalen ‚Denationalisierung des Geldes‘ (Hayek) folgte. Andererseits wurden sogleich die Fragen nach Machttransfer, nach dem Ort und nach der eigentümlichen Figur dieser nichtstaatlichen Souveränitätsposten virulent …“ (S. 178).

Wo sind die Gewässer flacher? Bei den Kenntnissen zu Hayek oder bei den Kenntnissen zur Währungsunion? Beginnen wir mit Hayek.

Es ist nicht so, dass sich der Altmeister des marktradikalen Wirtschaftsliberalismus zum Thema nicht geäußert hat. Vor dem Hintergrund des Werner-Plans (1972) zur Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion hielt er in seiner Schrift „Entnationalisierung des Geldes. Eine Analyse der Theorie und Praxis konkurrierender Umlaufsmittel“ (1976) fest:

„Dieser Plan (einer radikalen Geldreform, d.Verf.) erscheint mir sowohl besser als auch praktikabler als der utopische Plan, eine neue offizielle europäische Währung einzuführen, die letztlich den Ursprung und die Wurzel allen monetären Übels – das Regierungsmonopol bei Emission und Kontrolle des Geldes – nur noch stärker verankern würde… Obwohl ich stark mit dem Wunsch sympathisiere, die ökonomische Einigung des westlichen Europa durch völlige Liberalisierung der in ihm fließenden monetären Ströme zu vervollständigen, habe ich ernste Bedenken, ob es wünschenswert ist, dies durch Schaffung einer neuen europäischen Währung zu erreichen, die dann von irgendeiner supra-nationalen Behörde gemanagt würde.“

Wer Hayek nur aus Vorworten, Überschriften und der Sekundärliteratur kennt, verpasst natürlich auch das tiefere Verständnis seiner radikalen Geldreform. Die besteht ihrem Wesen nach nämlich nicht aus der Entstaatlichung bzw. Entpolitisierung des Geldwesens, sondern aus dem Währungswettbewerb, der zwischen unterschiedlichen privat emittierten Geldern bestehen soll. Privates kompetitives Geld soll die Probleme der Marktwirtschaft lösen. Die radikale Geldreform, so Hayek, schließt die Abschaffung von Zentralbanken, herkömmlichen Zins- und Geldpolitiken und des zweistufigen Bankensystems mit ein. Der Altmeister hätte seine große Freude an Bitcoin, Etherum, Libra u.ä. gehabt, ganz und gar nicht an der EZB und dem Euro. Die EZB hätte ihm höchst missfallen, da sie erstens eingebunden in einen politischen Kontext ist und zweitens über das Geldmonopol verfügt. Wer, wie Hayek, Geld und Markt sozialphilosophisch in der Genese in einem Atemzug mit Sprache und Denken nennt, kommt im Traum nicht auf die Idee, eine Institution wie die EZB für eine begrüßenswerte Erscheinung zu halten, er schlägt sie vielmehr ohne Vorbehalt den weit verbreiteten „Irrtümern des Konstruktivismus“ zu.

So weit zu den „Hayekianischen Wurzeln der europäischen Währungsunion“.

Wie sieht es aus mit den Kenntnissen des Autors zur Währungsunion selbst und dem zu beklagenden Souveränitätsverlust („Machttransfer“) aus?

Weil es nicht passt, wird es nicht erwähnt. Der Autor erwähnt an keiner Stelle seiner Monographie, dass die Unabhängigkeit der Bank deutscher Länder zunächst (1948) der Nichtexistenz eines deutschen Staates geschuldet war, was durchaus eine Parallele zur Einführung der europäischen Währungsunion darstellt. Später, als das Bundesbankgesetz verabschiedet wurde (1957), hat es der deutsche Souverän nicht tief konstitutionell vergraben, sondern als einfaches Bundesgesetz platziert, das er, der deutsche Souverän, so er denn gewollt hätte, im Bundestag jederzeit hätte verändern können. Den Souveränitätstransfer tief in die Geschichte als langfristige Tendenz des Kapitalismus zu verlagern, wird der Sache also nicht gerecht.

Währungsunion und EZB sind zwar keine staatlichen Gebilde im konventionellen Sinne, sie sind aber auch keine unpolitischen, jeglicher Souveränität enthobenen Einrichtungen, die in einem nicht weiter definierten Orbit schweben. Die Währungsunion ist Teil der europäischen Verträge, die EZB ist eine europäische Institution, die an europäisches Recht gebunden ist. Die EU ist zwar kein Staat, aber eben auch keine politische Ätherinstitution, gleichgültig, wie sie beschrieben wird, ob in der reaktionären Bezeichnung des deutschen Verfassungsgerichts – „Staatenverbund“ – oder in der Selbstbezeichnung der Europäer als „Union“. Und als solches politisches Etwas emittiert sie ein Geld und trägt die Währungsunion. Schon das haben die Erfinder der „Hayekianisch konfigurierten Währungsunion“ nicht verstanden.

Es war kein Zufall, dass Mario Draghi in seiner Whatever-it-takes-Rede (2012) auf das politische Kapital verwiesen hat, das investiert wurde, um die Währungsunion herzustellen. Es ging um Disziplinierung der Kapitalmärkte, das Primat der Politik durchzusetzen und nicht um Unterwerfung der Politik unter die Interessen der Kapitalmärkte:

“When people talk about the fragility of the euro and the increasing fragility of the euro, and perhaps the crisis of the euro, very often non-euro area member states or leaders, underestimate the amount of political capital that is being invested in the euro. And so we view this, and I do not think we are unbiased observers, we think the euro is irreversible. And it’s not an empty word now, because I preceded saying exactly what actions have been made, are being made to make it irreversible.”

Und ein weiteres haben die Erfinder der „Hayekianisch konfigurierten Währungsunion“ nicht verstanden. Bei der europäischen Währungsunion handelt es sich nicht um eine unabhängige Zentralbank, wie es die Bundesbank war. Das wird zwar immer wieder behauptet, ist aber Unfug. Die Währungsunion ist, wie die Union insgesamt, eine nationalstaatlich basierte Einrichtung, man könnte auch sagen ein intergouvernemental strukturiertes Zentralbanksystem mit beachtlich starken nationalen Einheiten, eben nicht supra-national. Folgen dieser Struktur sind, dass es sich bei der EZB um eine vielfach gefesselte Zentralbank handelt, die zwar nach und mit Draghis Rede Schritte in Richtung eines Lenders of Last Resort unternahm, längst aber nicht dort angekommen ist. Das intergouvernementale ESZB zeigt sich in Phänomenen wie den Target-2-Salden, der Dauerobstruktion durch eines seiner Mitglieder (Bundesbankpräsident Weidmann) und die gerade wieder aktuellen rechtlichen Einhegungen durch das deutsche Verfassungsgericht als Hüter der nationalen Souveränität. Dieses Verfassungsgericht als Oberwächter deutscher Souveränität steht mit seinen Maastricht-bezogenen Urteilen für einen die Europäisierung (und damit die Überwindung nationaler Souveränität) einengenden Kurs: Im ersten Maastricht-Urteil (1993) wurde einem nicht kontrollierbaren Europäisierungsprozess – dem goldenen Hoffnungsfaden der der neofunktionalen Europäer – eine Absage erteilt, mit seinem OMT-Urteil (2016) hat es sich den Letztentscheid über einzelne geldpolitische Maßnahmen der EZB gesichert (es bräuchte nur den Mut, das auch umzusetzen), und mit dem in den nächsten Monaten anstehenden PSPP-Urteil steht es kurz davor, der Bundesbank eine Art Widerstandsrecht gegen geldpolitische Maßnahmen der EZB einzuräumen.

Gerade die EZB mit ihrer seit 2012 verfolgten Politik eignet sich ganz besonders schlecht dazu, sie als Beleg für einen Handlanger des modernen Finanzregimes anzuführen. Die Politik niedriger Leitzinsen, negativer Einlagezinsen für Banken, des OMT-Programms, des Quantitativ Easing (PPSM), aber auch die politischen Initiativen ihres Präsidenten (vgl. die Präsidentenberichte) mit dem klaren Eintreten für Eurobonds (2012) passen nicht in die Klage über eine Entdemokratisierung der Politik und einen Souveränitätstransfer in die Finanzsphäre. Das Übel, das nach 2010 über Europa gekommen ist, geht nicht zurück auf die Unterordnung der Politik unter die Interessen der „Vierten Gewalt“, den Kapitalmärkten, sondern darauf, dass sich ein Souverän, der deutsche, in allen seinen Schattierungen (Parlament, Medien, aufgewiegelte Volksmeinung) aufgemacht hat, Europa mit einer finsteren Wirtschaftspolitik zu beglücken.

Wer die Klage über den Souveränitätsverlust anstimmt, sollte nicht vergessen hinzuzufügen, dass es sich um nationale Souveränität und nicht die von freundlichen Stadtstaaten oder kommunitaristischen Gemeinden handelt. Nationale Souveränitäten gibt es in Europa viele. Und was im Namen deutscher Souveränität auf Kosten vieler anderer europäischer Souveränitäten an Politik in den Jahren der so genannten Eurokrise durchgesetzt wurde, sollte die umstandslose Vereinnahmung des Begriffs als politischen Schlüssel- und Ausgangsbegriff doch problematisch erscheinen lassen. Immerhin hatte der deutsche Souverän in den vergangenen Jahren einiges auf der Habenseite des Souveränitätskontos zu verbuchen, für gut acht Jahre hatte er sich griechische Souveränität angeeignet, indem er über jede griechische Spesenrechnung im Bundestag abstimmte, und er hat – mit seiner „Macht“ (von wegen „Machttransfer“) – dafür gesorgt, dass ein ganzer Währungsraum, die Eurozone, ökonomisch in die Enge getrieben wurde („Schuldenbremse“). In Europa geht es um die Überwindung von (nationaler) Souveränität und die Generierung einer neuen (europäischen) Souveränität (Macron), nicht um die Konservierung oder Revitalisierung eines romantischen Begriffs von nationaler Souveränität. Es sei denn, man meint mit Souveränität eigentlich gar nicht Souveränität, sondern Nation. Die Währungsunion bot und bietet die Chance, dass eine bestimmte Form von Souveränität – die deutsche – gebrochen wird.

4000 Seiten geballtes juristisches Europawissen – Der EU-Kommentar (Schwarze)

Becker, Ulrich/Hatje, Armin/Schoo, Johann/Schwarze, Jürgen (Hrsg.),
EU-Kommentar, Baden-Baden 2018. Nomos  (4. Auflage).

Im Vorwort zur 4. Auflage, das gerne etwas ausführlicher hätte ausfallen können, nicht zuletzt für juristische Laien, konstatieren die Herausgeber, dass sich der Integrationsprozess in einer „schwierigen Phase“ befände. Insbesondere drei Probleme machten die Schwierigkeiten aus: der Austritt Großbritanniens aus der EU, die in Schieflage gekommene Wirtschafts- und Währungsunion und der Umgang mit der Migrationsfrage.

Die Herausgeber verstehen sich als „Chronisten eines rechtlichen Diskurses“, vertreten also nicht eine im wissenschaftlichen Diskussionsprozess durchzusetzende Position, lassen aber keinen Zweifel daran, dass ihre Konzeption des Unionsrechts auf dessen „Eigenständigkeit“ beruhe. „Wer die Einheit des Unionsrechts und seine Wirksamkeit relativiert, stellt die gesamte Union in Frage.“

Der Kommentar der Herausgeber legt das gesamte geltende Primärrecht, also den Vertrag von Lissabon, einschließlich der Charta der Grundrechte aus. Darüber hinaus greift er relevante aktuelle Ergänzungen und Veränderungen sekundärrechtlicher Art auf, insbesondere in Hinblick auf die in der Ordnungskrise der Währungsunion hinzugekommenen Ergänzungen. Zum Service gehören reichliche bibliographische Angaben zu den jeweiligen Themen.

Mit Blick auf den im Lissabon-Vertrag erstmals als Organ der Union geführten Europäischen Rat, das seit Maastricht neue Entscheidungszentrum der Union, erfährt der Leser bspw., dass dieser mehr als die ursprünglich vorgesehenen zwei Male im Halbjahr tagt, dass er auf seine exklusive Zusammensetzung und Befugnis großen Wert legt und dass er grundsätzlich – von Ausnahmen abgesehen – im Wege des Konsenses entscheidet. Als höchstes politisches Organ trifft er die wesentlichen Leitentscheidungen, eignet sich aber auch spezifische Kompetenzen, insbesondere auf den Gebieten der Wirtschaftspolitik und der Außenpolitik an. In eng umgrenzten Fällen macht ihn der Vertrag auch zum verfassungsgebenden Organ. In der Praxis erteilt er z.T. präzise Arbeitsanweisungen für die ihm unterstehenden Fachräte. Insgesamt ist er mittlerweile das, was früher die Kommission war: „Motor des Integrationsprozesses“ (S. 211), so lautet fast beiläufig eine überaus wichtige Feststellung der Autoren, die grundsätzliche Verschiebungen in der Architektur der EU indiziert.

Über die neue Architektur könnte auch der Artikel 4 EUV („Stellung der Mitgliedstaaten“) und seine Deutung Aufschluss geben (S. 62 ff.). Der Artikel hält fünf grundlegende Prinzipien fest: (1) die begrenzte Einzelermächtigung, (2) die Gleichheit der Mitgliedstaaten, (3) den Schutz der nationalen Identität, (4) eine Staatsfunktionsklausel und (5) den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Die Autoren halten für das erste Prinzip zu Recht Redundanz fest, da es an anderer Stelle erneut formuliert wird (Artikel 5). Für das zweite Prinzip, die Staatengleichheit, wäre die Frage interessant gewesen, ob es nicht in der Krise der Währungsunion massiv verletzt wurde. Dass die europäische Integration nicht zur Überwindung der Nationalstaaten gedacht ist, sondern umgekehrt zu deren Stärkung wird im dritten Prinzip festgehalten. Die weit siedelnden idealistischen Europadiskutanten, aber auch die ängstlichen Nationalisten sollten hier noch einmal nachblättern: „Die Union achtet … die nationale Identität (der Mitgliedstaaten, d. Verf.)“. Die Aufgaben der Nationalstaaten werden mit dem vierten Prinzip besonders geschützt. Und bei dem fünften Prinzip, dem Loyalitätsgebot, fragt man sich, ob es nach den düsteren Erfahrungen auf dem Gebiet der Außenpolitik in den ersten beiden Jahrzehnten nach Maastricht in den Vertrag gekommen ist.

Ziel des Artikels sei es jedenfalls, so die Autoren, die „Souveränität der Mitgliedstaaten zu schützen“ und den bloßen „Verbundcharakter der Union“ also die „Negation der Staatlichkeit der EU“ deutlichen zu machen. Angesichts der realen Machtverhältnisse zwischen dem supranationalen Teil der EU und den Nationalstaaten fragt man sich natürlich, woher diese Paranoia kommt. Sollten die Nationalstaaten selbst, wie die Autoren meinen, etwa an das Märchen von einem „schleichenden Übergang in den europäischen Bundesstaat“ glauben?

Gefehlt hat die Neuauflage v.a. wegen der vielen rechtlichen Neuerungen im Gefolge der Krise der Währungsunion. Soweit das überschaubar ist, haben die Herausgeber so ziemlich alle Dokumente zusammengetragen. Bei der Interpretation stellen sich aber Probleme ein, wie es scheint, weil man sich dem neoliberalen Mainstream, der in Deutschland die Deutungshoheit genießt, ohne Vorbehalte anschließt. Die Autoren entschuldigend muss man allerdings hinzufügen, dass sie sich lediglich als Chronisten verstehen.

Deutlich wird dies bei der Interpretation des Artikel 125 AEUV (S. 2005 ff.). Statt sich auf die Stärke der Juristen, die Auslegung der Wörter und Sätze, zu verlassen, wird völlig unkritisch die Formulierung vom Haftungsverbot übernommen. Der Wortlaut: „Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten … von Mitgliedstaaten. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten … eines anderen Mitgliedstaates.“ Das ist eindeutig kein Verbot, sondern nur eine Botschaft an die Kapitalmärkte, sich bei der Kreditierung von Staaten nicht auf eine Bürgschaft durch die Union oder einen anderen Staat zu verlassen. Die Verfasser dieses Artikels haben sich 1991, als die Sätze zu Papier gebracht wurden, schon etwas gedacht. Sie haben ja eindeutig das Substantiv „Verbot“ und das Verb „verbieten“ gemieden. Ihnen wird bewusst gewesen sein, dass man Spielregeln nur dekretieren kann, wenn die Macht vorhanden ist, sie durchzusetzen. Die europäischen Verträge haben weder die Macht über die Finanzmärkte, differenzierte Risikoprämien zu vergeben, noch die Macht über ihre Mitgliedstaaten, um ihnen vorzuschreiben, wohin ihre finanziellen Mittel fließen sollen. Hätte der Deutsche Bundestag in einem Anflug von Großzügigkeit 2010 mehrheitlich beschlossen, eine Bürgschaft für griechische Bonds zu übernehmen, z.B. im Rahmen einer Verständigung über die Reparationsfrage, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, irgendwo unter Verweis auf Artikel 125 zu klagen. Die Kapitalmärkte selbst haben bis in das Jahr 2010 den Artikel 125 konsequent ignoriert und bei der Kreditvergabe für alle Staaten der Eurozone den gleichen Zins verlangt. Auch hier kam kein Mensch auf die Idee etwa die Finanzmärkte zu verklagen. – Es ist bedauerlich, dass die kommentierende Rechtswissenschaft diesen Sachverhalt nicht in ihre Deutung aufnimmt.

Dem Blick auf die Empirie, der eigentlich bei wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen naheliegt, verweigern sich die Herausgeber in einem anderen Aspekt der Reformierung der Währungsunion, dem so genannten Fiskalpakt (S. 1990 ff.). Faktisch stellt der 2012 verabschiedete Fiskalpakt eine erhebliche Verschärfung des Stabilitätspakts dar. Warum er aber in den Jahren nach seiner Verabschiedung überhaupt keine praktische Rolle gespielt hat, wird von den Autoren nicht angesprochen. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob die Schuldenbremse mittlerweile in allen Verfassungen der Staaten der Eurozone verankert ist oder warum die Kommission noch nicht aktiv geworden ist in Hinblick auf den im Fiskalpakt vorgeschriebenen Schuldenabbau von Staaten, die die Schuldenstandsgrenze von 60 Prozent überschreiten. Gibt es für das Phänomen, dass der Fiskalpakt eine unbeachtete Bretterbude darstellt, juristische Gründe oder hat man in der Politik eingesehen, ein wie absurdes Gesetz man da in die europäische Landschaft verabschiedet hat?

Etwas blass bleibt der Teil zur Rolle der EZB bei der Krisenbewältigung, obwohl gerade auf diesem Gebiet reichlich juristische Fragen aufgeworfen waren. Warum wurde nicht eindeutig zur Draghi-Rede Stellung bezogen, die faktisch einer Mandatserweiterung seitens der EZB gleichkam, da sie eine politische Garantieerklärung für die Währungsunion enthielt. Informativ wäre sicher auch gewesen, wie Juristen die Rolle des Bundesbankpräidenten interpretieren, der nicht nur eine Art Daueropposition in der EZB entfacht, sondern auch bei der einschlägigen Beschwerde vor dem BVerfG als Sachverständiger gegen seine eigene Behörde auftritt. Auch die inhaltliche Argumentation des Bundesbankpräsidenten gegen das OMT-Programm der EZB und die in diesem Zusammenhang präsentierten dubiosen Thesen, nicht zuletzt unter Gesichtspunkten der inneren Kohärenz des europäischen Vertragswerks, hätten eine juristische Beurteilung verdient.

Dennoch gilt: Die Autoren legen ein außerordentlich nützliches Werk vor, das nicht nur Europarechtlern bei der Beantwortung ihrer Fragen weiterhilft, sondern auch den auf angrenzenden Gebieten tätigen europäischen Wissenschaftlern.

Dunkeldüstere Bilanz. Das Jahrbuch der Europäischen Integration 2018

Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 2018, Baden-Baden 2018.

Wer sich über den state oft the art der Europäischen Integration sachkundig machen will, kommt am Jahrbuch nicht vorbei. Jeder, wirklich jeder Aspekt der Integration wird auf den 548 Seiten beleuchtet. Bilanzierende Jahrbücher pflegen an das jüngst Geschehene zu erinnern, fassen zusammen und bilden Schwerpunkte. Hier ein Auszug:

Eine dunkeldüstere allgemeinpolitische Bilanz für 2018 zieht der Herausgeber, Werner Weidenfeld. „Mit Legitimationskrise ist jener lähmende Mehltau zu beschreiben, der sich über den Kontinent gelegt hat.“ Und „Eine politische Elite bleibt sprachlos“ (S. 15). Nach Habermas versänken die politischen Eliten in einem „demoskopisch gesteuerten Opportunismus kurzfristiger Machterhaltung“. Weidenfeld berichtet auch von einem hierzulande wenig beachteten Vorschlag Junckers im Weißbuch zur institutionellen Reform, dass nämlich die Ämter des Kommissionspräsidenten und des Ratspräsidenten unter einem „Doppelhut“ zusammengefasst werden sollten (S. 19).

Darius Ribbe und Wolfgang Wessels geben einen Überblick über die jüngsten Entwicklungen in der Europawissenschaft und stellen dabei fest, dass in der Phase des Umbruchs und der Unruhe in Europa „neue Lösungswege“, „neue Ansätze“ und eine „Grundsatzdebatte“ anstünden (S. 25 ff.).

Johannes Müller und Wolfgang Wessels gehen in ihrem Beitrag zur „institutionellen Architektur der Europäischen Union“ auf die „Führungsrolle des Europäischen Rates“ (S. 55) ein und registrieren dortselbst eine „verstärkte Bildung von Lagern“ (S. 57). Sie erinnern an die Kontroversen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und supranationalen Organen, u.a. das von der Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen, die Tschechische Republik und Ungarn die Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen betreffend und den Haushaltsstreit zwischen Italien und der Kommission. Auch über die Debatte über die Zukunft der EU und die anstehende Europawahl wird berichtet. Ihre Zusammenfassung: 1.) Das legislative Tagesgeschäft zwischen EU-Parlament und kleinem Rat läuft routiniert. 2.) Es gibt eine klare Tendenz zur Renationalisierung. 3.) Kleine Schritte zu „mehr Europa“ sind zu registrieren. 4.) Auffällig waren die Konflikte zwischen supranationalen Organen und einigen Mitgliedstaaten (S. 67).

Vom Europäischen Rat wissen Alina Thiem und Wolfgang Wessels zu melden, dass sein Präsident, Donald Tusk, einen impliziten Führungsanspruch gegenüber der Kommission angemeldet hat (vgl. die „Agenda der EU-Führungsspitzen“ vom Oktober 2017) (S. 79). Den oben angesprochenen „Doppelhut“ lehnt der Europäische Rat ab (S. 84).

Nicolai von Ondarza weist auf weit auseinanderliegende Positionen im Ministerrat in den beiden zentralen Frage, der Migration und der Reform der Eurozone, hin.

Zur Kommission weiß Andreas Hofmann auszuführen, dass sie ihrer Aufgabe, konkrete Gesetzesinitiativen vorzuschlagen, nachgekommen ist. Weitreichende Reformen zur WWU seien „in naher Zukunft nicht in Sicht“ (S. 100).

Gabriel Glöckler stellt in wünschenswerter Weise für die Währungspolitik fest: „Diese oft großen Beträge (im Rahmen der Target-2-Salden, d.Verf.) sind vielmehr eine technische Buchungsfunktion. Da sie private Transaktionen widerspiegeln, sind die Beträge weder Kredite noch Schulden von Ländern des Euroraums untereinander. Die Funktionsweise des Target-2-Systems per se ist daher mitnichten eine Umverteilung zwischen den Ländern des Euro-Währungsgebiets. Die Target-Salden wären nur dann ein Problem, wenn der Euroraum auseinanderbräche“ (S. 267). Der Verfasser nennt dies ein „Katastrophenszenario“, man könnte dies unter Bezugnahme auf die bekannten deutschen Diskutanten auch als „hemmungslose nationalistische Demagogie“ charakterisieren.

In ihrem Beitrag zur Wirtschaftspolitik berichten Roland Döhrn und Wim Kösters u.a. zum Eurozonenbudget, das mit der Meseberger Erklärung grundsätzlich als beschlossen gelten kann.

Im Länderbericht „Italien“ stellen Alexander Grasse und Jan Labitzke in Hinblick auf den Haushaltsstreit mit der Kommission klar: „Der italienische Staatspräsident wie auch der italienische Botschafter in Berlin sahen sich als Reaktion auf journalistisch zweifelhafte Pressebeiträge, in denen den Italienern unter anderem ‚aggressives Schnorren‘ unterstellt wurde – dabei unterschlagend, dass Italien Nettozahler in der Europäischen Union ist und maßgeblich zu allen Euro-Rettungsprogrammen beigetragen hat, ohne je selbst davon gebrauch gemacht zu haben – zu ungewohnt deutlichen öffentlichen Stellungnahmen gezwungen“ (S. 473). Der „Spiegel“ ist eben ein nationalistisches Presseorgan.

Überraschendes Ergebnis. Eine empirische Studie zur Rolle der Kommission in der Eurokrise (2010-2016)

Stefan Becker, „Die Europäische Kommission der Eurokrise. Einfluss und Wandel in der wirtschaftspolitischen Steuerung 2010-2016“, Springer VS, Wiesbaden 2019, 186 Seiten.

 

Stefan Beckers politikwissenschaftliche Studie mit dem etwas unglücklichen Titel geht der Frage nach, ob die Europäische Kommission in der so genannten Eurokrise an Einfluss im Integrationsprojekt gewonnen hat. Dem Autor geht es dabei um die wirtschaftspolitische Steuerung bzw. die „economic governance“. Im Einzelnen handelt die Studie von der Haushaltspolitik der EU, dem reformierten Stabilitätspakt, dem Fiskalvertrag, den Finanzstabilitätshilfen (EFSM, EFSF, ESM), dem Euro-Plus-Pakt, der makroökonomischen Überwachung (Europäisches Semester, Six-Pack, Two-Pack) und der Bankenregulierung.

In Kapitel 2 referiert der Autor die älteren und neueren Integrationstheorien: den Intergouvernementalismus, den Neofunktionalismus, die neuen Institutionalismen, den Postfunktionalismus, den Mehrebenenansatz und organisationstheoretische Ansätze. Kapitel 3 klärt sein methodisches Vorgehen. In Kapitel 4 werden Veränderungen in der Kommission während der Krisenjahre thematisiert, z.B. ihre „Präsidentialisierung“, der Anspruch Junckers, eine „politische Kommission“ zu kreieren, sowie ihren inneren Umbau unter Juncker. Kapitel 5 untersucht dann die Finanzstabilitätshilfen (EFSM, EFSF, ESM), Kapitel 6 die makroökonomische und haushaltspolitische Überwachung (Stabilitätspakt, makroökonomisches Ungleichgewichtsverfahren, Six-Pack, Two-Pack, Fiskalpakt und SWP-Mitteilung), Kapitel 7 die wirtschafts- und sozialpolitische Koordinierung (Grundzüge der Wirtschaftspolitik, Europäische Beschäftigungsstrategie, Lissabon-Strategie, Europa 2020, Euro-Plus-Pakt), Kapitel 8 die Haushaltpolitik (mehrjähriger Haushalt, Juncker-Fonds).

Für die einzelnen Politikfelder der wirtschaftspolitischen Steuerung konstatiert Stefan Becker das Folgende: Der Fiskalvertrag und der Euro-Plus-Pakt haben seit ihrer Verabschiedung keine Rolle gespielt, sie verschwanden in der Bedeutungslosigkeit. Bei der Bankenregulierung („Bankenunion“) war die Kommission nur Beobachter, sie lieferte die Gesetzestexte. Auch im Zusammenhang der Stabilitätshilfen, zuletzt dem ESM, blieb die Rolle der Kommission eher begrenzt, sie war das Ausführungsorgan oder der Auftragnehmer ihrer intergouvernementalen „Vorgesetzten“, der Räte. Auch im Bereich der Haushaltspolitik blieb der Einfluss begrenzt: der Haushaltsrahmen liegt ohnehin langjährig fest, das Additiv, der Juncker-Fonds (EFSI), war mehr symbolisch und konnte faktisch keine fiskalische Wirkung erzeugen. Auch die wirtschafts- und sozialpolitische Koordinierung ist mehr Papier als Realität. Den weitgehendsten Einfluss erlangte die Kommission bei der makroökonomischen und haushaltspolitischen Überwachung (vgl. S. 186).

Das schließende Kapitel 9 trägt die Ergebnisse zusammen. Das zusammenfassende Ergebnis überrascht: „Insgesamt übte die Kommission wesentlichen Einfluss auf das Management der Eurokrise aus“ (S. 178). „Zusammengenommen beeinflusste die Kommission damit wesentliche Entscheidungen in der wirtschaftspolitischen Steuerung während der Eurokrise“ (S. 186).

Wahrscheinlich geht es dem Autor so wie vielen Europaforschern, man möchte den europäischen Fortschritt unbedingt in den Entwicklungen lesen können. Und man liest ihn nur, wenn man eine gesteigerte Aktivität bei den supranationalen Organen, hier der Kommission, ausmacht.

Die Frage ist, was man unter „wesentlich“ versteht. Versteht man darunter, dass die Eurokrise, deren Charakter der Autor leider nicht näher qualifiziert, 1.) inhaltlich eine durchgreifende Austeritätspolitik in Europa erbracht hat, sowohl in den Programmländern wie auch den anderen Ländern („Schuldenbremse“) und 2.) formal eine Verstärkung der intergouvernementalen Politikmechanismen zum Ergebnis hatte, v.a. beim ESM, dann ging all dies nicht von der Kommission aus und brachte ihr auch keinen Bedeutungsgewinn, eher das Gegenteil.

Die Kommission wurde von den „Machthabern“ in der EU, den beiden Räten, durchgehend – gerade auch während der Eurokrise – in die Schranken verwiesen. Im ESM ist sie Ausführungsorgan, in der makroökonomischen Steuerung bereitet sie Tischvorlagen vor und im Stabilitätspakt ist sie Berichterstatter. Wen in Deutschland interessiert es bspw., dass die Kommission seit Jahren die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse beanstandet? Auftraggeber und Entscheider sind immer die Räte. Eigentlich wäre zu Beginn der Eurokrise zu erwarten gewesen, dass die Kommission als das wirtschaftspolitische Zentrum der EU maßgeblich in die Antikrisenpolitik einbezogen wird. Das Gegenteil war der Fall. Was im Maastrichter Vertrag angelegt war, entfaltete sich in den Krisenjahren, die Krisenbearbeitung durch die Räte. Dieses Phänomen konstatiert auch der „neue Intergouvernementalismus“, der es aber nicht richtig zu deuten weiß.

Das Containment der Kommission in den Krisenjahren fügt sich in die langfristige Entwicklung: Bis zum Maastrichter Vertrag war die Kommission die Behörde für die Marktordnungspolitik, den Binnen- und den Außenhandel, die Agrarpolitik. Viel mehr auch nicht. Als Delors im Maastricht-Prozess versuchte, mehr Kompetenzen für die Kommission zu ergattern, wurde er von den Nationalstaaten strikt in die Schranken verwiesen. Auch in den Folgeverträgen (Amsterdam, Nizza, Lissabon) blieb die Kommission stets in der subordinierten, fast subalternen Position. Inhalt, Richtung und Entscheidung in der Wirtschaftspolitik war Sache der Räte, der Kommission waren Hilfsdienste zugedacht, Berichterstattung, Erstellung von Tischvorlagen, Aufsicht usw. Wesentliches und Unwesentliches sind hier klar verteilt.

Selbst bescheidene Versuche der Kommission, gegen die Räte an Profil zu gewinnen, wurden abgeschmettert. Junckers EFSI-Programm ließen die Räte ins Leere laufen, indem sie keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung stellten, der Gemeinschaftsmethode wurde kühl die Unionsmethode (2011) entgegengesetzt, und als Juncker im Sommer 2015 einen moderaten Ton mit Griechenland anzuschlagen versuchte, drohte ihm Schäuble dreist mit Entmachtung der Kommission.

Das Büchlein von Stefan Becker ist in der abschließenden Gewichtung („wesentlich“) nicht überzeugend, mindestens missverständlich bzw. undeutlich. Es lohnt dennoch sehr der Lektüre, da es sehr materialreich ist und einen guten methodischen und inhaltlichen Überblick über die empirische Rolle der Kommission in den Krisenjahren 2010-2016 vermittelt. Lektüre unbedingt empfohlen!

 

Außenpolitik bleibt auch in der Krise Angelegenheit der Räte. Der Fall der Ukraine

Rainer Bühling, „Die EU und die Ukraine. Das Dilemma des strategischen Defizits“, Baden-Baden 2018, Nomos, 393 Seiten.

Der Politikwissenschaftler Rainer Bühling untersucht auf der Basis der Theorie des „New Intergovernmentalism“ (Bickerton, Hodson, Puetter) den „Integrationskonflikt“ um die Ukraine zwischen der EU und Russland und möchte herausfinden, warum die EU in dem Konflikt wirtschaftlich und nicht sicherheitspolitisch antwortete. Mit dem unscharfen und nicht austheoretisierten Begriff des „Neuen Intergouvernementalismus“ versuchen seine Begründer der Tatsache Rechnung zu tragen, dass in der Eurokrise die Methode des Intergouvernementalismus einen enormen Aufschwung genommen hat, aber nicht, wie vor dem Hintergrund der alten Begrifflichkeiten zu erwarten gewesen wäre, zu weniger, sondern zu mehr Europa geführt hat.

Seit die Außenpolitik Eingang in die Verträge gefunden hat, also mit Maastricht, ist sie Veto-Bereich und wird – trotz ambitionierter Institutionalisierungen „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ (im Verfassungsvertrag sogar „Außenminister“ genannt) – als Politikbereich der Mitgliedstaaten intergouvernemental strukturiert.

Der Autor kommt zu folgenden Ergebnissen: Auch in der Ukraine-Krise konnte kein supranationales Krisenmanagement entwickelt werden. Die EU ist kein eigenständiger Akteur, mehr eine „Plattform“, auf der die Nationalstaaten ihre Politik koordinieren („transnationales Netzwerk-Regieren“). Die Politik wird von den Räten gemacht. Mehr Staatlichkeit der EU wäre erforderlich. Durch ihr Selbstverständnis als „soft power“ hat die EU auch keine Machtbasis. Als EU beschränkt sich die Gemeinschaft auf wirtschaftliche und diplomatische Handlungsoptionen. Auch über ein strategisches Konzept verfügt die EU nicht.

Als politische Alternative empfiehlt der Autor, dass die EU eine allgemeingültige Strategie mit intergouvernementalen Steuerungsmechanismus entwickelt. Auch sollten die Nationalstaaten den supranationalen Organen mehr vertrauen. Obwohl eine Verlagerung auf die supranationale Ebene wünschenswert wäre, kommt der Autor zu einem pessimistischen Ergebnis: „Ein rein durch EU-Organe durchgeführtes, ganzheitliches Krisenmanagement unter Einbeziehung aller Dimensionen und unter Rückgriff auf alle potentiell möglichen Instrumente des Handlungssystems wird es auf absehbare Zeit deshalb – außer vielleicht im Verteidigungsfall nach Artikel 42, da dort auch mit großer Wahrscheinlichkeit die NATO involviert wäre … – nicht geben“ (S. 360).

Wider das Narrativ von der europäischen Integrationsteleologie. Kiran Klaus Patels Geschichte des Projekts Europa.

Kiran Klaus Patel, „Projekt Europa. Eine kritische Geschichte“, München 2018, Verlag C.H.Beck, 463 Seiten.

Von wem genau sich der Autor mit dem im Buchtitel anklingenden Kritikaspekt absetzen will, wird nicht ganz klar. Von anderen historischen Darstellungen zur europäischen Geschichte oder von den in den Hochglanzflyern präsentierten Selbstdarstellungen der EU – das wird nicht ganz klar. Der Bezug auf letztere wäre nicht der Mühe wert, geht es dort doch um vereinfachende politische Werbung. Ein expliziter Bezug auf andere historische Darstellungen wird im Buch nicht hergestellt.

Ansonsten muss man bei dem Label „Kritik an Europa“ ja mittlerweile auf der Hut sein. Für die Verlage scheint es sich zu rentieren, darunter schlicht dümmliche nationalistische Propaganda zu publizieren, nach dem aus anderen Wäldern bekannten Motto „Das muss man doch mal sagen dürfen“. Von dieser Machart ist das vorliegende Werk Patels, das sei ausdrücklich betont, nicht.

Der Historiker Kiran Klaus Patel greift eine Vorstellung von europäischer Geschichte auf, die – in der Art von Matroschkapuppen – eine Teleologie in den Anfängen sucht, die mit eherner Notwendigkeit zu der heutigen EU geführt habe. Der Samen, der mit der EGKS gesät, gut gedüngt und gewässert wurde, sei Jahrzehnte später als das kunstvolle Gebilde der Europäischen Union aufgegangen. Dem will Patel mit seiner material- und quellengestützten Historiographie bis zum Maastrichter Vertrag in acht Kapiteln, nicht in einer Chronologie, sondern gereiht nach acht Themen, entgegenarbeiten.

Im Kapitel „Europa und europäische Integration“ (1) steht im Mittelpunkt der Darstellung, dass es bis in die 70er Jahre hinein keineswegs ausgemacht war, dass es die EG war, die zum zentralen Bezugspunkt für westeuropäische Integration wurde. Im Gegenteil. Patel zählt auf, dass sich im Zeitraum zwischen 1945 und 1948 global rund hundert internationale Organisationen gründeten, die Zahl schwoll bis 1960 auf 1255 an (S. 24). In Europa gab es den Europarat und die OEEC, mit denen sich viele Hoffnungen verknüpften, es gab die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE), die EFTA, die EZU, die Europäische Produktivitäts-Agentur usw. Die Gründung der EGKS (1952) und der EWG (1957) waren keineswegs Einzelphänomene, sondern Organisationen in einem „Labyrinth“ (S. 28). Dass sich die EG schließlich durchsetzte, war eher „unwahrscheinlich“ (S. 50), so der Autor. Dass die EG das bedeutendste Forum für europäische Kooperation wurde, lag an drei Faktoren: 1.) dem speziellen Ansatz im Handel, der geeignet für spill overs war, 2.) dem Recht, das eine autonome Entwicklung nahm, und schließlich 3.) daran, dass die EG finanzielle Ressourcen zu verteilen hatte. Einen „Masterplan“ bzw. eine „Intentionalität“, wie dies häufig erzählt wird, gab es nicht.

Im Kapitel „Frieden und Sicherheit“ (2) berichtet der Autor – wenig überraschend –, dass die EG im untersuchten Zeitraum bis 1990 auf keiner der drei Ebenen der Friedensdimension (Welt, Inneres, Soziales) eine entscheidende Rolle gespielt hat. Zu sehr war die alles übergreifende NATO präsent und zu sehr sorgten sich die Nationalstaaten für die anderen Aspekte des Friedens. Selbst die als konkretes Friedensprojekt geplante Montanunion konnte nicht mit überzeugenden Ergebnissen dienen. Die Kohlekrise Ende der 50er Jahre vermochte die Hohe Behörde nicht im Ansatz zu regulieren, Historiker kamen später auf die Idee, sie als „supranationale Investitionsruine“ (S. 78) zu bezeichnen.

Das Kapitel über „Wirtschaftswachstum und Wohlstand“ (3) beschäftigt sich zunächst etwas länglich mit einer Frage, die empirisch nicht zu beantworten ist, nämlich der Frage, wie hoch der Beitrag des Einigungsprozesses zum Wirtschaftswachstum in der Betrachtungsperiode war. Letztlich lässt der Autor die Frage offen, vermutet aber, dass der Beitrag nicht allzu hoch anzusetzen ist. Der Autor hält weiter fest, dass der Stellenwert der Sozialpolitik in jener Zeit nie im Mittelpunkt stand. Am Ende folgt noch eine interessante Aussage: „Eine klare wirtschaftstheoretische Ausrichtung lässt sich nicht ausmachen. Die EG stand für Handelsliberalisierung, verschärften Wettbewerb und das Marktprinzip, aber auch für Protektionismus, Regulierung und teilweise sogar für zentralistische Planung unter kapitalistischen Vorzeichen… Einem eindeutigen Modell, etwa dem Neoliberalismus oder dem deutschen Ordoliberalismus, lässt sich die EG .. nicht zuschlagen“ (S. 146).

Im Kapitel „Werte und Normen“ (4) liest man, dass sich die EG lange schwer damit getan hat, diesen Politikbereich in sich aufzunehmen. Letztlich gelang dies ja erst mit dem Verfassungsvertrag (2005) bzw. dem Lissabon-Vertrag (2007). Eine Station bestand darin, dass sich die EG in den 60er Jahren dazu verhalten musste, dass sich 1967 in Griechenland eine Militärjunta an die Macht putschte, in einem Land also, mit dem sie ein Assoziationsabkommen hatte. Die EG entschloss sich dazu, die Beziehungen einzufrieren, während bspw. die Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland (auch die NATO) weiter Beziehungen mit dem Land pflegten. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung wertegebundener Positionen spielt auch der Europarat.

Im etwas missverständlich titulierten Kapitel „Partizipation und Technokratie“ (5) geht es um Akzeptanz und Ansehen der Gemeinschaft bei „ihren“ Bürgern zwischen zivilgesellschaftlicher Partizipation und Elitenpolitik. Die Darstellung bildet die Europapolitik der Nazis ab, die Initiativen Coudenhove-Kalergis und Denis de Rougemonts, auch Hannah Arndts, Churchills und der westeuropäischen Kommunisten. Warum gelang es nicht, zivilgesellschaftliches Engagement für Europa zu mobilisieren? Weil die Integrationsmaterie eben technokratisch ist, so der Autor. Auch weil die Akteure Europa für zu wichtig hielten, als dass sie es den Launen der Völker überantworten wollten. Alles in allem blieb Europa ein „Adiaphoron“, ein Ding, das weder angenehm noch unangenehm, weder lohnens- noch tadelnswert ist, mithin den Menschen gleichgültig oder, anders formuliert, das Ergebnis eines „permissiven Konsenses“.

Im – unnötig sensationistisch aufgemachten – Kapitel „Bürokratisches Monster oder nationales Instrument“ (6) erfährt der Leser, dass die EG/EU das Gegenteil eines „Bürokratischen Monsters“ – einen solchen Unsinn glauben nur rechtsradikale Idioten oder Enzensberger – ist. Der Verfasser wusste es natürlich auch schon vor seiner Untersuchung, dass „die EG erstaunlich klein und kompakt“ (S. 232) ist, dass sie mit einem kleinen, außerordentlich sachkundigen Beamtenapparat auskommt und „mausgrau, aber wirkungsvoll“ arbeitet, u.a. weil sie sich mit den nationalen Bürokratien verflochten hat. Das Cassis-de-Dijon-Urteil des EuGH von 1979 wird in seiner Bedeutung für den Integrationsfortschritt referiert (S. 242 ff.), es führte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, ebenso die Neue Konzeption (Festlegung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen) sowie die Einführung des Artikel 100a (Maßnahmen der Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften). Das früher außerordentlich europa- und integrationsfreundliche Italien wird erwähnt, das aber viele Beschlüsse wegen der fehlenden „administrativen Leistungskraft“ kaum umsetzen konnte (S. 259).

Im Kapitel „Desintegration und Dysfunktionalität“ (7) wird hervorgehoben, dass der Integrationsprozess nicht immer nur die eine Richtung kannte, also dem Narrativ des „immer engeren Zusammenschlusses“ folgte, sondern Algerien 1962, Grönland 1985 und die Insel Saint-Barthélemy in der Karibik 2012 die Gemeinschaft verließen, der Luxemburger Kompromiss 1966 schon eine Verabschiedung von dem supranationalen Integrationsprinzip brachte, die Montanunion Ende der 50er Jahre schon nicht mehr funktionierte und mit dem Lissabon-Vertrag die Austrittsmöglichkeit in den Vertrag rückte. Insgesamt gehören Desintegration und Dysfunktionalität, wie man am Beispiel der unsanktionierten rechtsstaatlichen Verstöße osteuropäischer Länder sieht, heutzutage zum Alltag der EU.

Im Kapitel über die „Gemeinschaft und ihre Welt“ (8) erfährt der Leser, dass die Kommission immer wieder versuchte, als Akteur nach außen in Erscheinung zu treten, ihr dies aber selten gelang. Sicherheitspolitisch blieb bspw. die NATO die bestimmende Größe. Zwar entwickelte sich eine gewisse Eigendynamik, mehr aber ließen die Mitgliedstaaten nicht zu.

Dass sich der Autor in der jüngeren europäischen Geschichte nach Maastricht noch nicht so gut auskennt, merkt man an folgender Einschätzung:

Wahrscheinlich hätte es selbst ohne das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Einheit einen Integrationsschritt in Form eines neuen Vertrags gegeben. Das gilt besonders für die Wirtschafts- und Währungsunion. So sei die in Deutschland lieb gewordene Legende, dass in Maastricht die Bundesregierung die solide Deutsche Mark als europäischen Preis für die nationale Einheit habe opfern müssen, ins Reich der Mythen verbannt. Tatsächlich waren die Verhandlungen über eine gemeinsame Währung seit den 1970er Jahren in Gang gekommen und hatten im Verlauf der 1980er Jahre Tempo aufgenommen; insofern war das Fundament der Währungsunion bereits Ende der 1980er Jahre gelegt. Ein Scheitern der Verhandlungen über eine europäische Währungsunion wäre in Maastricht nicht unmöglich, aber doch recht unwahrscheinlich gewesen. Für eine derartige Übereinkunft gab es genuin währungs- und wirtschaftspolitische Gründe – nichts zuletzt angesichts des Binnenmarktprojekts seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Der Umbruch von 1989/90 machte die Sache lediglich noch dringlicher“ (S. 343).

Es mag sein, dass dem Historiker Kohl 1990 mit der Hergabe der D-Mark vorschwebte, eine Opferzeremonie für die Nationenbildung zu inszenieren, etwa nach dem Motto: „Die gute Deutsche Mark musste für die noch viel wertvollere deutsche Einheit hergegeben werden.

Patel ist aber insofern zu widersprechen, als die Wahrscheinlichkeit eher für die Gegenthese spricht, dass nämlich ohne die Epochenwende keine Währungsunion gekommen wäre. Hier nur einige Argumente: 1.) Im Sommer 1989 lag ein unverbindlicher Plan vor, der Delors-Plan, der, wie der Werner-Plan rund zwei Jahrzehnte vorher auch im historischen Nichts hätte auslaufen können. 2.) Nur mit größtem Druck Mitterrands ließ sich Kohl Ende 1989 zu der Einberufung einer Regierungskonferenz zum Thema „Währungsunion“ bewegen. 3.) Die Bundesbank und ihr Präsident (Pöhl) hatten nur mit größtem Widerwillen bei der Arbeit im Delors-Ausschuss mitgemacht. Ihre Abneigung gegenüber der Währungsunion und – nach der totalen „Niederlage“ (deutsche und europäische Währungsunion) – ihre Rachegelüste und vielleicht auch Torpedierungsversuche in Hinblick auf den Übergangsprozess lassen sich an der Irrationalität ihrer Zinspolitik 1992/93 in etwa ermessen. 4.) Die klare Mehrheit der (West)Deutschen wollte keine europäische Währungsunion.

Insgesamt stellt das Werk Patels eine sehr lesenswerte EG-Geschichte zwischen 1952 und 1990 dar, die mit vielen wenig bekannten Details und Zusammenhängen sowie mit immer wieder neuen Perspektiven zu überzeugen weiß.

 

Emphatisches Plädoyer für mehr Europa

Emphatisches Plädoyer für mehr EuropaDer Verfasser, Christian D. Falkowski, hat viele Jahre seines beruflichen Lebens bei der Europäischen Kommission im Bereich der Außenbeziehungen gearbeitet und berichtet vor diesem Hintergrund, dass er im Ausland oftmals erklären musste, was das eigentlich ist – früher die EG heute die Europäische Union. So hat sich ein reicher Erfahrungsschatz gebildet, den er in ein Buch umsetzt, das nicht in den wissenschaftlichen Diskurs eingreift, sondern für die europapolitische Bildungsarbeit versucht zu erklären, wie wertvoll die EU für ihre Bürger ist – daher der Titel.

Die Ausgangslage für die europapolitische Bildungsarbeit ist immer höchst unbehaglich. Man muss die EU preisen, damit einem an sich wenig interessierten Publikum der Appetit entsteht. Das ist zwar sehr tapfer gedacht, die Frage aber bleibt, ob solch Unterfangen erfolgreich zu sein vermag und ob es nicht Alternativen gibt. Auf Anbiederung ist das europäische Projekt an sich nicht angewiesen.

Mit Blick auf die Eurokrise arbeitet der Verfasser gut heraus, dass an deren Anfang und in deren Verlauf ein neuer deutscher Nationalismus steht, das betraf die wirtschaftspolitische Krisenbearbeitung, den Atomausstieg und die Flüchtlingskrise (S. 260).

Richtig hält der Verfasser fest: „In der Euro-Krise hat nicht die Europäische Kommission, nicht der EU-Präsident, nicht der Ratspräsident, oder Italien, Spanien, Großbritannien bestimmt, wo es langgeht, sondern die deutsche Regierung im Schulterschluss mit Frankreich… Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Deutschland durch das Friedensprojekt EU, das es nach leidvollen Erfahrungen mit dem Nationalismus so eifrig verfolgt hat, jetzt als Hegemon des Kontinents gesehen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass die deutsche Politik sich einer Führungsrolle verweigert, auch wenn es manchmal den gegenteiligen Anschein hat. Sie schwankt zwischen kurzfristigem Krisenmanagement und Verdrängung, beschränkt sich ansonsten auf das Ausbremsen der Initiativen anderer Mitgliedstaaten und wirkt insgesamt orientierungslos“ (S. 259).

An diesen Thesen ist vieles richtig, nur nicht der Schluss. Deutschland hat in der Eurokrise weder „verdrängt“ noch hat es „orientierungslos“ agiert. Im Gegenteil. Die Krise wurde ohne Not vom Zaun gebrochen und Deutschland hat knallharte Interessen durchgesetzt. Die Krise wäre 2010 durch eine politische Beruhigung der Kapitalmärkte, durch entschiedenes Eingreifen der EZB oder durch Eurobonds eindämmbar gewesen. Stattdessen hat man eine bornierte Austeritätspolitik durchgesetzt und damit größtes Unheil angerichtet. In der Euro-Krise hat Deutschland den ordnungspolitischen Umbau der Währungsunion vorangetrieben. Das nennt man Europapolitik – und zwar ohne „Schulterschluss mit Frankreich“.

Dann folgt des Verfassers Hauptfehler. Eingeengt in das theoretische Duopol von Intergouvernementalismus und Gemeinschaftsmethode sieht der Autor – wie die ganz große Mehrheit der Europabeobachter und -wissenschaftler – als Alternative zum Intergouvernementalismus nur die Ausdehnung der Gemeinschaftsmethode.

Mit dem Intergouvernementalismus verfolgen die großen Mitgliedstaaten Eigeninteressen und eben nicht das Gemeinwohl aller, das, was den Mehrwert Europas ausmacht, mit der Folge von Fragmentierung und Schwächung der Solidargemeinschaft“ (S. 261). Der Autor empfiehlt daher eine Stärkung von Kommission und EU-Parlament. Damit manövriert er sich aber in eine Sackgasse, da die Zukunft der europäischen Integration, wenn man so will, intergouvernementalistisch geprägt sein wird.

Überraschend ist daher die Feststellung: „Der Vertrag von Lissabon bestärkt die Rolle der Europäischen Kommission“ (S. 265). Das Gegenteil ist der Fall. Mit der Einrichtung des Amts des Ratspräsidenten und der Zuständigkeitsbeschreibung des Europäische Rats, der jetzt für alle politischen Grundsatzentscheidungen Zuständigkeit reklamieren kann, ist der supranationale Integrationsweg endgültig ausgelaufen, wenn es ihn denn jemals gab. Die Kommission und damit die Gemeinschaftsmethode haben seit den Maastrichter Verhandlungen einen beispiellosen Abstieg hinter sich gebracht.

Dessen ungeachtet – das Buch lohnt der Lektüre. Eine gründlichere Durchsicht auf die verschiedenen Aspekte der Sprachrichtigkeit hin hätte ihm allerdings gutgetan.

25 Jahre Vertrag von Maastricht (Michael Anderheiden, Hrsg.) – Ein Tagungsband mit ungarischem Schwerpunkt

Aus dem Buchtitel geht nicht hervor, dass der Tagungsband (Oktober 2017) einen ungarischen Schwerpunkt hat. Die Tagung wurde von der Baden-Württemberg-Stiftung und der Andrássy-Universität (Budapest) durchgeführt. Sechs von fünfzehn Beiträgen des Symposiums beschäftigen sich mit ungarischen bzw. osteuropäischen Themen. Das Spektrum der Beiträge reicht von einer historischen Einordnung des Maastrichter Vertrags über den Binnenmarkt und die Subsidiaritätsfrage, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zur Sozialpolitik. Der Beitrag zur Maastrichter Währungsunion geht auf Auswirkungen auf das ungarische Wirtschaftsrechtssystem ein. Attila Vincze, der Verfasser des Beitrags, referiert zur Theorie der optimalen Währungsräume, was an sich mit der Maastrichter Währungsunion nichts zu tun hat, da sie nicht das Ergebnis einer Erwägung über die Effizienz und Tragfähigkeit einer Währungsunion war, sondern politischem Kalkül entsprang. Er geht auch, wie so viele Autoren, auf das angebliche Bail-out-Verbot ein, vergisst aber die Frage zu stellen, welche Strafe auf eine Verletzung des angeblichen Verbots vorgesehen ist. Die Antwort lautet: Keine, denn das Verbot existiert nicht. Schließlich streift der Autor – leider nur – die Frage, ob der anhaltend hohe Überschuss der deutschen Zahlungsbilanz das Funktionieren der Eurozone gefährdet. Auch die Frage, ob es sich bei der Unvollkommenheit und dem Konstruktionsfehler der Währungsunion – dem fehlenden Notmechanismus – um einen geplanten oder ungeplanten Konstruktionsfehler handelt, lässt er offen.