Für den Neoliberalismus reduzieren sich die Fragen und Probleme der Internationalen Wirtschaft auf die Ordnung des Handels, bestenfalls noch auf die Wettbewerbsfähigkeit. In ihrer Theorie begegnen sich zunächst Nationalwirtschaften auf internationalen Märkten und tauschen dort ihre Produkte. Wird Freihandel realisiert, also die Nationalwirtschaft geöffnet, entsteht eine Win-win-Situation, so die liberale Freihandelstheorie. Alle profitieren dann vom Welthandel. Das ist natürlich Unfug und ausschließlich interessegeleitet, also Ideologie. Jeder, der sich vernünftig mit internationaler Wirtschaft beschäftigt, geht von der Fragestellung aus, wie sich das Überschuss-Defizit-Problem behandeln lässt. Überschussländer sind die Gewinner, Defizitländer sind die Verlierer – als Dauerzustand ist das nicht hinnehmbar. Varoufakis geht in seinem Buch von dieser Problematik aus, ist also im Grundsatz schon mal auf der Seite der Guten, also der Seite der Wissenschaftler. Doch dazu später mehr.
Bei Romanen verrät der Titel selten etwas Aussagekräftiges über den Inhalt des Romans. Bei Sachbüchern sollte das anders sein, zumal solchen mit wissenschaftlichem Anspruch. In Varoufakis‘ Fall verrät der Titel buchstäblich nichts zum eigentlichen Inhalt. Das im Untertitel angekündigte Hauptthema „Wie eine andere Geldpolitik Europa wieder zusammenführen kann“ kommt im Haupttext nicht vor, sondern im Anhang, wo Auszüge aus einem älteren Text („Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“ abgedruckt sind (S. 321 ff.), inhaltlich dazu weiter unten. Das „Europaradox“ (Titel und S. 179) versucht der Autor in drei Paradoxien auseinanderzulegen: das erste Paradox hat etwas mit Austerität zu tun, das zweite mit Oligarchien in Südeuropa und das dritte, eigentliche, mit der überstaatlichen EZB. Was er damit genau meint, bleibt im Nebelhaften, jedenfalls ist es nur am Rande Thema des Haupttextes. Dieser ist im Wesentlichen eine historische Darstellung der internationalen und europäischen Währungsordnung nach 1945.
Leider unterlaufen bei dieser historischen Darstellung eine Menge Fehler, Ungenauigkeiten und abstruse Zusammenhangsbildungen. Beginnen wir mit den offensichtlichen Fehlern (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Ludwig Erhard war von 1949-1963 nicht Finanzminister (S. 344), sondern Wirtschaftsminister. Das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (1967) mit dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (1997) gleichzusetzen (S. 352), ist abwegig, ersteres ist gegen letzteres geradezu von keynesianischer Großartigkeit, während letzterer als reiner Austeritätspakt angelegt war. Dass Mitterrand und Kohl bei der Aushandlung des Maastricht-Vertrages beide eine politische Union anstrebten (S. 124), beruht schlicht auf Unkenntnis der Verhandlungspositionen der beiden, ersterer dachte daran nicht im Traum, letzterer dachte vielleicht im Traum daran, war aber weit davon entfernt, ihn umzusetzen. Geradezu grotesk ist die Behauptung, Mitterrand wollte mit der Währungsunion ein trojanisches Pferd für supranationale Strukturen zusammenzimmern (S. 134). Ziemlich ahnungslos ist Varoufakis in Hinblick auf europäische Gesetzgebung (S. 356). Für die Aussage, Bundeskanzler Helmut Schmid sei ein „überzeugter Europäer“ (S. 104) gewesen, muss man auch beide Augen ganz fest zudrücken. Das mag genügen, es gäbe noch mehr.
Zu den Zusammenhangsbildungen. Im Kontext der europäischen Währungsunion von einem „Dreieck Brüssel-Frankfurt-Berlin“ (S. 295) zu sprechen, ist, was alle drei Seiten angeht, mindestens fragwürdig. Die Kommission war bei der gesamten Eurokrise bestenfalls geduldeter Zuschauer. Die europäische Währungsunion mit dem Goldstandard zu vergleichen und den Euro als „Wiederbelebung des Goldstandards im Herzen Europas“ (S: 303) zu charakterisieren, ist, milde gesagt, abwegig. Die Aussage, das EWS habe einer umfänglichen „supranationalen Bürokratie bedurft“ und Brüssel hätte damit ein neues Steuerungsmittel, eine „Quelle der Macht“ bekommen“ (S. 102) wiederum, kann nur auf einer oberflächlichen Kenntnis der Funktionsweise des EWS beruhen. Auch das mag genügen.
Schließlich zu den Ungenauigkeiten. In seinen Fußnoten gibt Varoufakis zwar an, dass er zwecks Vereinfachung und Vereinheitlichung zu „großzügigen“ Bezeichnungen greife, an einen Satz wie den folgenden muss man sich aber erst heftig gewöhnen: „1950 trat die Europäische Union offiziell ins Leben in Form eines von Deutschland dominierten Kartells für Kohle und Stahl, das von einer französisch dominierten Verwaltung mit Sitz in Brüssel gelenkt wurde…“ (S. 79). Auch hier mag es genügen.
Das alles ist schon einmal ärgerlich, ändert aber nichts an dem Lesevergnügen des stilistisch recht fein verfassten Buches.
Yanis Varoufakis geht es wie vielen Ökonomen. Von Logik und Geschichte der europäischen Integration ist ihnen leider nur Bruchstückhaftes mitgegeben.
Er klagt darüber, dass sich die Europäer bei einer Wahl zwischen verschiedenen Integrationswegen aus Überzeugung für den (aus seiner Sicht falschen) Weg einer „unpolitischen“, „rein“ wirtschaftlichen Integration entschieden haben und rein bürokratische Interessen damit verbanden („Entpolitisierung politischer Entscheidungen“ und „Mega-Bürokratie“, S. 136 oder „demokratiefreie Zone, die in den 1950er Jahren entstanden war“, S. 221). Das stellt die tatsächliche Integrationsgeschichte auf den Kopf. Der neofunktionalistische Integrationsansatz war 1950 der einzige Ansatz vor dem Hintergrund erstarkter Nationalstaaten, die – bis zum heutigen Tag – peinliche darauf bedacht sind, nur keine supranationalen Strukturen entstehen zu lassen.
Eigentümlich realitätsblind ist dann folgende Aussage: „Die ernüchternde Realität ist, dass die DNA der Europäischen Union kein Gen für die Fortentwicklung zu einem Bundesstaat enthält“ (S. 280). Dass 1992 mit dem Maastricht Vertrag die spezifische Unionsstruktur mit einer EU entstanden ist, versteht er nicht im Ansatz, genauso wenig, dass die Akteure der „Mittelsphäre“ (Middelaar 2016) seither zwar keine bundesstaatliche, wohl aber, wenn man so will, als intergouvernementale Akteure, europäische Innenpolitik betreiben. Auch die zahlreichen Spill-over in der Vergangenheit weiß er nicht zu würdigen.
Zurück zu Varoufakis‘ Kernthese und Hauptargumentationsstrang. Großflächig äußert er sich zur internationalen Währungsordnung. Diese unterteilt er in drei Phasen: 1.) Von 1945-1971 habe das Bretton-Woods-System die internationalen Beziehungen mit den USA als Hegemonialmacht bestimmt. 2.) Von 1971-2008, mit einer ca. zehnjährigen Latenzphase habe eine zweite, gänzlich anders strukturierte US-Hegemonie begonnen. 3.) Seit 2008 zeige sich, dass die USA zu einer eigenständigen Gestaltung und Hegemonie der internationalen Wirtschafts- und Währungsbeziehungen nicht mehr in der Lage seien. Soweit zur Phaseneinteilung.
Die beiden ersten Phasen beruhten auf je spezifischen, sehr unterschiedlichen Mechanismen des Überschussrecycling. In der ersten Phase verfügten die USA, bis auf die Endzeit, über Handelsbilanzüberschüsse gegenüber Europa. Diese flossen dann in direkte Hilfen (Marshall-Plan, EZU, sonstige Kredite), mit denen die Europäer amerikanische Waren kaufen konnten, in die Finanzierung der die Hegemonialposition sichernden Militärbasen und den Eurodollar-Markt(vgl. S. 48). Die Dollars flossen zurück in die USA und stabilisierten so das Wechselkurssystem. Die Wende kam mit der einseitigen Aufkündigung der Bretton-Woods-Ordnung 1971, was eine instabile Übergangszeit einleitete.
Der eigentliche Übergang zu einer neuen Ordnung kam dann Ende der 70er Jahre, als die USA schon längst keine Handelsbilanzüberschüsse mehr hatten, im Gegenteil, sie gerieten in immer größere Defizitpositionen. Der neue Chef der Fed, Paul Volcker, sah für die 80er Jahre eine „kontrollierte Desintegration der Weltwirtschaft“ vor. Das ist zwar so nicht gekommen, im Gegenteil, der Kerngedanke der neuen Phase lief darauf hinaus, die Überschüsse der anderen Länder zu recyceln, da eigene Überschüsse nicht mehr vorhanden waren. Die Europäer, Japan und später China mussten dazu gebracht werden, ihre Überschüsse freiwillig der Wall Street auszuhändigen (S. 107 ff.). das funktionierte nur, wenn die Zinsen massiv in die Höhe getrieben und die Löhne deutlich gesenkt wurden. Damit war die Ära des Finanzkapitalismus, deren Deregulierung und der abgehängten US-amerikanischen Mittelschicht eingeleitet und die USA vermochten das Doppeldefizit (Außenhandel und Staat) zu finanzieren. Die Dominanz der USA blieb somit gewahrt.
All das – eine an manchen Stellen etwas vereinfachende Argumentation – soll hier nicht weiterverfolgt werden. Wohl aber der Transfer des Kerngedankens, des Überschussrecyclings, auf die europäische Währungsunion. Hier spricht Varoufakis von einem in der vorliegenden Währungsunion fehlenden „politischen Mechanismus zum Überschussrecycling“ (S. 181, 193, 265), im Falle der USA handelte es sich weder um etwas Politisches noch um einen Mechanismus, es war einfach diskretionäre Politik. Leider sind die Spezifikationen des Griechen zu dem Instrument mehr als spärlich. Man hört folgendes:
„Ein politischer Mechanismus zum Überschussrecycling wird wirksam, wenn die Schönwetterrecycler, die Banken, mit fliegenden Fahnen davonlaufen und Ruinen und unbezahlbare Schulden hinterlassen. Ein politischer Mechanismus, während einer Wirtschaftskrise in solche Regionen zu investieren, ist die einzige Möglichkeit, um feste Wechselkurse aufrechtzuerhalten, ohne dass die Menschen aus dem Defizitland abwandern und es sich in einen gigantischen Golfplatz für anreisende Banker verwandelt“ (S. 362).
Warum macht sich der ehemalige griechische Finanzminister nicht die Mühe, in die Ebene hinabzusteigen und im Konkreten anzuknüpfen. Z.B. so: Die Kommission verfügt seit der Finanzkrise über einen neuen Ansatz, die makroprudentielle Überwachung. Regelmäßig in den vergangenen Jahren moniert sie in den einschlägigen Berichten den viel zu hohen Überschuss Deutschlands, über 8 Prozent in den vergangenen Jahren, die Grenze liegt bei 6 Prozent. Sie spricht Empfehlungen aus, um die Überschussposition abzubauen. Empfehlungen sind bekanntlich das Papier nicht wert, auf dem sie niedergeschrieben werden. Wie nun können aus Empfehlungen Handlungszwänge werden? Dazu äußert sich Varoufakis nicht bzw. lapidar:
„Was sollte dieser Mechanismus sein? Die Antwort lautete: eine Reihe politischer Institutionen, die einspringen und Überschüsse recyceln, wenn das Schönwetter-Überschussrecycling nicht mehr funktioniert“ (S. 39).
Das ist schon verdächtig nahe an der Tautologie.
Die Recycling-Idee ist auch nur halbherzig gedacht und macht sich nicht an die Ursachen des Übels heran. In der Ökologie wie in der Ökonomie ist es so, dass Recycling zwar kein schlechter Ansatz ist, aber nicht die First-best-Solution. In Keynes‘ Konzept für die Bretton-Woods-Konferenz klang die Vorstellung an, dass sich Überschuss- und Defizitpositionen über den Zeitablauf hinweg abwechseln sollten. In Wechselkursordnungen, Währungssystemen und Währungsunionen mit Staaten von deutlich unterschiedlichem Entwicklungsniveau sollte es demgegenüber so sein, dass die entwickeltesten Regionen in dauerhaftem Defizit stehen, um den Entwicklungs- und Nachholländern über einen dauerhaften Handelsbilanzüberschuss Aufholprozesse zu ermöglichen. Wirtschaftliche Aufholprozesse vollziehen sich nur über diesen Weg.
Von einer solchen Sichtweise ist die Eurozone meilenweit entfernt, jedenfalls deren dominanter Teil. Die Überschussländer denken im Traum nicht an eine zonenübergreifende Sinngebung, sondern sind bestenfalls auf die eigenen (vermeintlichen) Interessen konzentriert. Hier wäre wahrscheinlich schon viel gewonnen, wenn es zu einem, wie immer im Detail gearteten, „Investivhaushalt“ (Macron, Koalitionsvertrag) käme, aus dem gezielt in den nachholendenden Osten und Süden Europas Entwicklungskredite vergeben werden könnten. Bleiben die Überschusspositionen in einem System, wie es Varoufakis vorschlägt, erhalten bleiben auch die grundsätzlichen Probleme ungelöst.
Der ehemalige griechische Finanzminister hat am Ende seines Textes wohl gemerkt, es könnte getrost etwas konkreter werden. Also hat er Auszüge aus einem alten Text (2013) angehängt, mit dem die Eurokrise bzw. ihre verschiedenen Teile (Bankenkrise, Schuldenkrise, Investitionskrise, Soziale Krise) ohne Vertragsänderung und mit Realitätssinn (Vorsicht: Ironie) gelöst werden könnten.
Der realistische Ausgangspunkt sei: es bleibt bei dem Verbot für die EZB, Staatsschuldtitel direkt aufzukaufen, ihr OMT- und QE-Programm ist ineffizient, Eurobonds werden von den Überschussländern weiter abgelehnt, man muss ohne Vertragsänderung, also ohne neue Institutionen auskommen.
Der institutionelle Ausgangspunkt sind die EZB, die Europäische Investitionsbank (EIB), der Europäische Investitionsfonds (EIF) und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Vor diesem Hintergrund sind vier Strategien denkbar (S. 324 ff.):
Strategie 1
Ins Straucheln geratende Banken sollen sich nicht mehr an ihre Staaten, sondern direkt an den ESM wenden. Mit der Umsetzung der Bankenunion wird dies gerade realisiert.
Strategie 2
Der Teil der staatlichen Schulden, der unter der Maastricht-Grenze von 60 Prozent liegt, wird in EZB-Bonds umgewandelt und mit niedrigen Zinsen weiter von den Mitgliedstaaten bedient. Das ist in der Nähe der Staatsfinanzierung durch die EZB, jedenfalls wie es die neoliberalen Deutschen sehen.
Strategie 3
Ein Investitionsprogramm in Höhe von 8 Prozent des BIP der Eurozone, kreditfinanziert durch die EIB (große Infrastrukturprojekte) und den EIF (kleine Projekte), soll gestartet werden. Die Hürde, dass, wie bisher, 50 Prozent von den Staaten finanziert werden muss, soll dabei beseitigt werden. Die EZB sichert durch Intervention am Sekundärmarkt niedrige Verzinsung. Davon haben die neoliberalen Deutschen schon immer geträumt.
Strategie 4
Auflage eines Nahrungsmittelprogramms und eines Programms für eine Grundversorgung mit Energie, finanziert durch Target2-Zinsen und die Finanztransaktionssteuer.
Das Buch schließt mit folgenden Sätzen:
„Trotz des breiten Aufgabenfelds verlangt der Bescheidene Vorschlag keine neuen Institutionen und zielt auch nicht auf eine Umgestaltung der Eurozone. Er braucht keine neuen Regeln, Fiskalpakte oder Troikas. Eine Einigung auf Schritte in Richtung eines Bundesstaats ist nicht Voraussetzung, aber er ermöglicht Konsens durch vertiefte Kooperation statt durch erzwungene Sparpolitik.
In diesem Sinn ist der Vorschlag wirklich bescheiden“ (S. 331).
„Bescheiden“ – ja, aber die deutschen Neoliberalen dächten nicht einmal darüber nach.
Das Buch hatte eine sehr kompetente Sprachbetreuung, eine ebenso kompetente fachliche Betreuung hätte man ihm auch gewünscht.