Becker, Ulrich/Hatje, Armin/Schoo, Johann/Schwarze, Jürgen (Hrsg.),
EU-Kommentar, Baden-Baden 2018. Nomos (4. Auflage).
Im Vorwort zur 4. Auflage, das gerne etwas ausführlicher hätte ausfallen können, nicht zuletzt für juristische Laien, konstatieren die Herausgeber, dass sich der Integrationsprozess in einer „schwierigen Phase“ befände. Insbesondere drei Probleme machten die Schwierigkeiten aus: der Austritt Großbritanniens aus der EU, die in Schieflage gekommene Wirtschafts- und Währungsunion und der Umgang mit der Migrationsfrage.
Die Herausgeber verstehen sich als „Chronisten eines rechtlichen Diskurses“, vertreten also nicht eine im wissenschaftlichen Diskussionsprozess durchzusetzende Position, lassen aber keinen Zweifel daran, dass ihre Konzeption des Unionsrechts auf dessen „Eigenständigkeit“ beruhe. „Wer die Einheit des Unionsrechts und seine Wirksamkeit relativiert, stellt die gesamte Union in Frage.“
Der Kommentar der Herausgeber legt das gesamte geltende Primärrecht, also den Vertrag von Lissabon, einschließlich der Charta der Grundrechte aus. Darüber hinaus greift er relevante aktuelle Ergänzungen und Veränderungen sekundärrechtlicher Art auf, insbesondere in Hinblick auf die in der Ordnungskrise der Währungsunion hinzugekommenen Ergänzungen. Zum Service gehören reichliche bibliographische Angaben zu den jeweiligen Themen.
Mit Blick auf den im Lissabon-Vertrag erstmals als Organ der Union geführten Europäischen Rat, das seit Maastricht neue Entscheidungszentrum der Union, erfährt der Leser bspw., dass dieser mehr als die ursprünglich vorgesehenen zwei Male im Halbjahr tagt, dass er auf seine exklusive Zusammensetzung und Befugnis großen Wert legt und dass er grundsätzlich – von Ausnahmen abgesehen – im Wege des Konsenses entscheidet. Als höchstes politisches Organ trifft er die wesentlichen Leitentscheidungen, eignet sich aber auch spezifische Kompetenzen, insbesondere auf den Gebieten der Wirtschaftspolitik und der Außenpolitik an. In eng umgrenzten Fällen macht ihn der Vertrag auch zum verfassungsgebenden Organ. In der Praxis erteilt er z.T. präzise Arbeitsanweisungen für die ihm unterstehenden Fachräte. Insgesamt ist er mittlerweile das, was früher die Kommission war: „Motor des Integrationsprozesses“ (S. 211), so lautet fast beiläufig eine überaus wichtige Feststellung der Autoren, die grundsätzliche Verschiebungen in der Architektur der EU indiziert.
Über die neue Architektur könnte auch der Artikel 4 EUV („Stellung der Mitgliedstaaten“) und seine Deutung Aufschluss geben (S. 62 ff.). Der Artikel hält fünf grundlegende Prinzipien fest: (1) die begrenzte Einzelermächtigung, (2) die Gleichheit der Mitgliedstaaten, (3) den Schutz der nationalen Identität, (4) eine Staatsfunktionsklausel und (5) den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Die Autoren halten für das erste Prinzip zu Recht Redundanz fest, da es an anderer Stelle erneut formuliert wird (Artikel 5). Für das zweite Prinzip, die Staatengleichheit, wäre die Frage interessant gewesen, ob es nicht in der Krise der Währungsunion massiv verletzt wurde. Dass die europäische Integration nicht zur Überwindung der Nationalstaaten gedacht ist, sondern umgekehrt zu deren Stärkung wird im dritten Prinzip festgehalten. Die weit siedelnden idealistischen Europadiskutanten, aber auch die ängstlichen Nationalisten sollten hier noch einmal nachblättern: „Die Union achtet … die nationale Identität (der Mitgliedstaaten, d. Verf.)“. Die Aufgaben der Nationalstaaten werden mit dem vierten Prinzip besonders geschützt. Und bei dem fünften Prinzip, dem Loyalitätsgebot, fragt man sich, ob es nach den düsteren Erfahrungen auf dem Gebiet der Außenpolitik in den ersten beiden Jahrzehnten nach Maastricht in den Vertrag gekommen ist.
Ziel des Artikels sei es jedenfalls, so die Autoren, die „Souveränität der Mitgliedstaaten zu schützen“ und den bloßen „Verbundcharakter der Union“ also die „Negation der Staatlichkeit der EU“ deutlichen zu machen. Angesichts der realen Machtverhältnisse zwischen dem supranationalen Teil der EU und den Nationalstaaten fragt man sich natürlich, woher diese Paranoia kommt. Sollten die Nationalstaaten selbst, wie die Autoren meinen, etwa an das Märchen von einem „schleichenden Übergang in den europäischen Bundesstaat“ glauben?
Gefehlt hat die Neuauflage v.a. wegen der vielen rechtlichen Neuerungen im Gefolge der Krise der Währungsunion. Soweit das überschaubar ist, haben die Herausgeber so ziemlich alle Dokumente zusammengetragen. Bei der Interpretation stellen sich aber Probleme ein, wie es scheint, weil man sich dem neoliberalen Mainstream, der in Deutschland die Deutungshoheit genießt, ohne Vorbehalte anschließt. Die Autoren entschuldigend muss man allerdings hinzufügen, dass sie sich lediglich als Chronisten verstehen.
Deutlich wird dies bei der Interpretation des Artikel 125 AEUV (S. 2005 ff.). Statt sich auf die Stärke der Juristen, die Auslegung der Wörter und Sätze, zu verlassen, wird völlig unkritisch die Formulierung vom Haftungsverbot übernommen. Der Wortlaut: „Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten … von Mitgliedstaaten. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten … eines anderen Mitgliedstaates.“ Das ist eindeutig kein Verbot, sondern nur eine Botschaft an die Kapitalmärkte, sich bei der Kreditierung von Staaten nicht auf eine Bürgschaft durch die Union oder einen anderen Staat zu verlassen. Die Verfasser dieses Artikels haben sich 1991, als die Sätze zu Papier gebracht wurden, schon etwas gedacht. Sie haben ja eindeutig das Substantiv „Verbot“ und das Verb „verbieten“ gemieden. Ihnen wird bewusst gewesen sein, dass man Spielregeln nur dekretieren kann, wenn die Macht vorhanden ist, sie durchzusetzen. Die europäischen Verträge haben weder die Macht über die Finanzmärkte, differenzierte Risikoprämien zu vergeben, noch die Macht über ihre Mitgliedstaaten, um ihnen vorzuschreiben, wohin ihre finanziellen Mittel fließen sollen. Hätte der Deutsche Bundestag in einem Anflug von Großzügigkeit 2010 mehrheitlich beschlossen, eine Bürgschaft für griechische Bonds zu übernehmen, z.B. im Rahmen einer Verständigung über die Reparationsfrage, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, irgendwo unter Verweis auf Artikel 125 zu klagen. Die Kapitalmärkte selbst haben bis in das Jahr 2010 den Artikel 125 konsequent ignoriert und bei der Kreditvergabe für alle Staaten der Eurozone den gleichen Zins verlangt. Auch hier kam kein Mensch auf die Idee etwa die Finanzmärkte zu verklagen. – Es ist bedauerlich, dass die kommentierende Rechtswissenschaft diesen Sachverhalt nicht in ihre Deutung aufnimmt.
Dem Blick auf die Empirie, der eigentlich bei wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen naheliegt, verweigern sich die Herausgeber in einem anderen Aspekt der Reformierung der Währungsunion, dem so genannten Fiskalpakt (S. 1990 ff.). Faktisch stellt der 2012 verabschiedete Fiskalpakt eine erhebliche Verschärfung des Stabilitätspakts dar. Warum er aber in den Jahren nach seiner Verabschiedung überhaupt keine praktische Rolle gespielt hat, wird von den Autoren nicht angesprochen. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob die Schuldenbremse mittlerweile in allen Verfassungen der Staaten der Eurozone verankert ist oder warum die Kommission noch nicht aktiv geworden ist in Hinblick auf den im Fiskalpakt vorgeschriebenen Schuldenabbau von Staaten, die die Schuldenstandsgrenze von 60 Prozent überschreiten. Gibt es für das Phänomen, dass der Fiskalpakt eine unbeachtete Bretterbude darstellt, juristische Gründe oder hat man in der Politik eingesehen, ein wie absurdes Gesetz man da in die europäische Landschaft verabschiedet hat?
Etwas blass bleibt der Teil zur Rolle der EZB bei der Krisenbewältigung, obwohl gerade auf diesem Gebiet reichlich juristische Fragen aufgeworfen waren. Warum wurde nicht eindeutig zur Draghi-Rede Stellung bezogen, die faktisch einer Mandatserweiterung seitens der EZB gleichkam, da sie eine politische Garantieerklärung für die Währungsunion enthielt. Informativ wäre sicher auch gewesen, wie Juristen die Rolle des Bundesbankpräidenten interpretieren, der nicht nur eine Art Daueropposition in der EZB entfacht, sondern auch bei der einschlägigen Beschwerde vor dem BVerfG als Sachverständiger gegen seine eigene Behörde auftritt. Auch die inhaltliche Argumentation des Bundesbankpräsidenten gegen das OMT-Programm der EZB und die in diesem Zusammenhang präsentierten dubiosen Thesen, nicht zuletzt unter Gesichtspunkten der inneren Kohärenz des europäischen Vertragswerks, hätten eine juristische Beurteilung verdient.
Dennoch gilt: Die Autoren legen ein außerordentlich nützliches Werk vor, das nicht nur Europarechtlern bei der Beantwortung ihrer Fragen weiterhilft, sondern auch den auf angrenzenden Gebieten tätigen europäischen Wissenschaftlern.