Der Neue Intergouvernementalismus

Uwe Puetter, The European Council & The Council. New Intergovernmentalism and institutional change, Oxford 2014. 265 Seiten.

 

Die Stichworte des Neuen Intergouvernementalismus (NIG) oder Deliberativen Intergouvernementalismus (DIG), nach eigenem Bekunden eine Integrationstheorie mittlerer Reichweite, sind: Post-Maastricht-Ära, Integrationsparadox, institutioneller Wandel, die neuen Gravitationszentren der Integration: Europäischer Rat (ER) und Ministerrat (MR), neue Themenfelder der Integration (Wirtschaft, Außenpolitik sowie Beschäftigungs- und Sozialpolitik), Integration außerhalb der Gemeinschaftsmethode, Koordinationsmethode, Deliberation, Zwang zur Konsensgenerierung.

Zusammengebaut zu einer These ergibt sich daraus: Mit dem Vertrag von Maastricht (1992) wurde die Integrationsdynamik, die bis dahin von der Gemeinschaftsmethode – die Kommission legt Rechtsakte vor, Rat und Parlament stimmen darüber ab – beherrscht wurde, abgelöst durch den NIG/DIG, in dessen Mittelpunkt der Europäische Rat (ER) und der Ministerrat (MR) als neue europäische Gravitationszentren stehen. Zu beobachten sei für diese Zeit ein Integrationsparadox, einerseits wende man sich mit der Infragestellung der Gemeinschaftsmethode in gewisser Weise von Europa ab, andererseits sei überhaupt keine Europamüdigkeit zu registrieren, im Gegenteil, das Interesse an europäischen Themen seitens der Nationalstaaten nehme zu, die Themen würden nur anders bearbeitet. Der Übergang zu der neuen Integrationsmethode sei eng verknüpft mit der nach Maastricht zu registrierenden Hinwendung zu neuen Politikfeldern (s.o.), die man nicht der Kommission überlassen wollte, sondern die die Nationalstaaten selbst gestalten wollten. Im Innern der beiden neuen spielbestimmenden Institutionen, ER und MR, einschließlich ihrer Satelliten (u.a. Eurogruppe, COREPER), bestehe ein Zwang zu Konsensbildung und Deliberation.

Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, ob es einen wesentlichen Ausgangspunkt für die neue Dynamik der Integration gibt und wie ein System in die neue Ordnung zu bringen ist, lässt der Autor weitgehend offen. Es gibt keinen Ausgangs- und keinen Endpunkt, keine Ursache und keine Wirkung, keine treibende Kraft und keine Erscheinungen, alles schwebt und mäandert auf einer Ebene und kann in beliebiger Reihenfolge zu einem Gesamtpaket zusammengeschnürt werden. Insgesamt vermitteln die Ausführungen eher den Eindruck einer verständigen Beschreibung der Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten als den Eindruck von Erklärung, Kausalität, Ursache und Wirkung. Auffällig ist auch, dass sich die Argumentation an keiner Stelle um das Inhaltliche der Integrationsthemen bekümmert, sondern ausschließlich auf der Ebene der Institutionen und der institutionellen Vorgänge verbleibt. Das kann nicht gutgehen.

Schon auf den ersten schnellen Blick mutet es verquer an, den Unterschied der Politikmuster vor und nach Maastricht an den in Anwendung gekommenen Integrationsmethoden festzumachen. Vor Maastricht = Gemeinschaftsmethode, nach Maastricht = (dezentrale) Koordination zwischen den Nationalstaaten. Dass mit den neu hinzugekommenen Politikfeldern – Wirtschaft, Äußeres, Soziales/Beschäftigung – die Gemeinschaftsmethode nicht mehr so oft in Erscheinung tritt, liegt ganz banal 1.) daran, dass für die Wirtschaft mit und nach der „Eurokrise“ diskretionäre Politik betrieben werden musste, für die man keine Rechtsakte benötigte, nicht nur, aber auch, 2.) für das Äußere daran, dass Außenpolitik selten mit Gesetzen praktiziert wird und 3.) daran, dass das Soziale/die Beschäftigung nahezu ausschließlich auf nationaler Ebene gehändelt werden. Dass der Autor das Letztere zu den neuen Betätigungsfeldern europäischer Politik rechnet, ist, nebenbei gesagt, eher eine Schnapsidee.

Dass sich nach Maastricht ein integrationspolitischer Wandel in jeder Hinsicht vollzogen hat, ist unbestritten. In das veränderte Integrationsgeschehen ließe sich relativ einfach Ordnung bringen. Ausgangspunkt der Überlegungen darf dabei nicht die institutionelle Ebene sein, sondern das politische Themengebiet, über das sich die Nationalstaaten zu verständigen beabsichtigen, also die Inhalte der Integration. Bis zum Maastrichter Vertrag war die Europäische Kommission in ihrem Kern eine Art europäisches Ordnungsamt für den Marktzugang. Die so genannte Gemeinschaftsmethode war auch ausschließlich darauf bezogen. Und wie das mit Ordnungsämtern so ist – sie sind keine autonomen Einheiten, die nach Gutdünken Politik betreiben können, sondern sehr nachgeordnete Behörden in der Exekutiven, die ihre Vorgaben von wo ganz anders her erhalten, jedenfalls nicht vom Chef des Ordnungsamtes. All das sollte sich dann mit dem Vertrag von Maastricht aus den hinlänglich bekannten historischen Gründen verändern.

An dem Übergang zwischen Einheitlicher Europäischer Akte und Maastrichter Vertrag, also in den frühen neunziger Jahren, hat sich nicht einfach Integration fortgesetzt, auch nicht mit einem qualitativen Sprung (spill over in die high politics), nein, es war ein Neubeginn der Integration. Alle Theoretisierungen und Historisierungen, die eine wie immer geartete Kontinuität zwischen dem Prä und dem Post von Maastricht unterstellen, sitzen – auch wenn sie sich heftig distanzieren – einer neofunktionalistischen Phantasmagorie auf, was zu abwegigen Ergebnissen führt.

Neuer Intergouvernementalismus klingt ganz danach, als habe es weiland auch einen Alten Intergouvernementalismus gegeben. Der Autor geht darauf nicht explizit ein, so dass man mutmaßen muss. Im Zusammenhang mit der europäischen Integration kann damit nur das Verhalten der Staaten im Ministerrat gemeint sein, wenn sie z.B. um Normen, Standards, Grenzwerte für den Marktzugang gefeilscht haben oder die heimische Wirtschaft gegen diesen oder jenen Zolltarif schützen wollten. Dieser Alte Intergouvernementalismus war eingebunden in die Gemeinschaftsmethode und strikt auf den Gemeinsamen Markt bzw. Binnenmarkt begrenzt.

Bei dem NIG/DIG, so hat man als Leser des Büchleins den Eindruck, habe sich insofern etwas geändert, als seien die Nationalstaaten vom Schachern und Feilschen abgekommen und hätten sich, geläutert, auf das Deliberieren, das Beraten und Diskutieren, verlegt. Es scheint, als schreibe der Autor diesen Läuterungsprozess dem durch die Verträge von Maastricht und Lissabon institutionell verankerten Einstimmigkeitsprinzip, das einen Zwang zur Konsensbildung („constant generation of consensus“, S. 34, „quest for consensus generation“, S. 4) hervorbringe, zu. Dieser Zwang zur Konsensbildung nimmt eine Schlüsselstellung in der Argumentation des Verfassers ein, wird aber leider nicht systematisch vertieft.

An dieser Stelle wird es brisant, schlägt um ins Groteske und stellt die Vorgänge der Krisenbearbeitung in Europa, insbesondere der Ordnungskrise in der Währungsunion, auf den Kopf. Es rächt sich, dass der Autor ohne jede Beachtung des Inhaltlichen der (Wirtschafts)Politik argumentiert. Die Austeritätspolitik, die in Europa nach dem Ausbruch der Ordnungskrise in der Währungsunion durchgesetzt wurde, war nicht das Ergebnis von Deliberation, sondern deren Gegenteils, der deutschen Hegemonialpolitik. Nicht Deliberation und Konsensbildung fand statt, sondern Verweigerung, sprich Vetopolitik – Merkel zu Eurobonds: „wird es nicht geben, solange ich lebe“ (2012) –, Gruppenbildung – Nordstaaten gegen Südstaaten in der Eurozone – und rücksichtslose, dumme, ideologische Wirtschaftspolitik gegenüber den Programmländern.

Ansonsten wurde die gesamte Wirtschaftspolitik, nicht zuletzt auf Druck Deutschlands, im Rahmen der Gemeinschaftsmethode zu Gesetzespapier gebracht – mit zwei Ausnahmen. Twopack, Sixpack, Europäisches Semester, Euro-Plus-Pakt, die beiden ersten Säulen zur Bankenunion – all dies ging auf dem Weg der Gemeinschaftsmethode in das europäische Recht ein. Die beiden Ausnahmen: 1.) der Fiskalpakt (2012) wurde außerhalb der Verträge abgemacht, aber nicht wegen des institutionellen Wandels, sondern weil zwei Länder (Großbritannien und Tschechien) nicht mitmachen wollten, und 2.) die Programmfinanzierung via EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) und ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus), auch nicht wegen eines institutionellen Wandels, sondern weil man der Kommission misstraute, die hätte ja eine zu europäische Politik betreiben können. Apropos ESM: über kurz oder lang wird der als Europäischer Währungsfonds (EWF) in das Gemeinschaftsrecht übergehen – auf dem üblichen Weg der Gemeinschaftsmethode.

Auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, der „economic governance“, lässt sich der NIG/DIG also nicht nachweisen. Die Gemeinschaftsmethode kam in den beiden anderen Politikfeldern, die angeblich für die neue Phase der Integration stehen, die Außenpolitik und die Sozial- und Beschäftigungspolitik, deshalb nicht zur Anwendung, wie oben erwähnt, weil man im ersten Fall, der Außenpolitik, tendenziell wenig an Gesetzen benötigt, und im zweiten Fall, der Sozial- und Beschäftigungspolitik, überhaupt nicht europäisch integrieren will. Nebenbei: Die desaströse Außenpolitik der Union in den Jahren zwischen 1992 bis 2008 mit dem Label der Deliberation zu analysieren, ist ein sehr mutiges Unterfangen.

Die letztlich wichtigere Frage ist, ob man die Integrationsphase nach Maastricht, den Aufstieg des ER zum Zentralorgan der Europapolitik und die neuen Politikfelder der Integration noch mit dem Begriff des Intergouvernementalismus einfangen kann. Das konventionelle Begriffspaar „supranational“ und „intergouvernemental“ dichotomisiert das Integrationsgeschehen ausschließlich auf institutioneller Ebene, es gehört eigentlich einer längst untergegangenen Zeit an. Wählt man zum Ausgangspunkt aber das Politikergebnis, das die Institutionen anstreben, die Inhalte der Politik, dann betreiben beide Institutionen Europapolitik. Wie diese entstanden ist, ob auf supranationalem oder intergouvernementalem Weg, lässt sich am Politikergebnis nicht mehr ablesen. Dass die Begriffe ins Tanzen kommen, merkt der Autor selbst an, wenn er davor warnt, die Gemeinschaftsmethode als progressiv und die koordinierende intergouvernementalistische Methode als destruktiv zu bezeichnen (S. 241).

Der ER, so betont der Autor zu Recht, ist das Gravitationszentrum der europäischen Integration. Ihn aber „the new centre of political gravity“ (Kapitel 3) zu nennen, ist etwas unscharf. Wer genau hingeschaut hat, konnte auch für die Zeit vor Maastricht feststellen, dass der ER der „Herr der Integration“ war. Er war als solcher nur nicht zu erkennen, weil er sich im Hintergrund hielt und die Kommission machen ließ, da die Marktordnungspolitik nicht zu den sensiblen Kernsouveränitäten eines Staates zählt. Das ist das eine.

Das andere: Im ER sitzen spätestens seit Maastricht keine reinen Nationalpolitiker mehr, sondern Doppelcharaktere – in der einschlägigen Literatur tragen sie einen „Doppelhut“ –, Nationalpolitiker und Europapolitiker in einem. Als Kollektivorgan hat der ER spätestens seit der „Eurokrise“ die europäischen Regierungsgeschäfte übernommen, die „day-to-day“-Politik. Für das, was der ER dabei an Politik betreibt, benötigt man den Begriff des Intergouvernementalismus nicht mehr, auch nicht mit dem erneuernden Attribut der Deliberation.