Kampf gegen Windmühlen.
Zur Neugestaltung der Europäischen Union
Weber, Klaus/Ottmann, Henning 2019: Neugestaltung der Europäischen Union, Nomos, Baden-Baden.
[Es folgt eine langweilige, selbstzensierte Rezension, eine leidlich unterhaltsamere erhalten Interessenten auf Nachfrage.]
In der Diskussion um ein Mehr oder ein Weniger an und in Europa schlägt sich das Buch entschieden auf die Seite des Weniger. Es ist ein Plädoyer für den Rückbau der EU. Das kann man machen, muss es aber nicht nur gut, sondern überhaupt begründen. Das gelingt dem Text nicht, da er auf fundamentalen Unkenntnissen zu Struktur und Funktionsweise europäischen Regierens beruht. Die Kernthese des Buches lautet: Die gegenwärtige EU ist ein übermächtiges supranationales Gebilde, das die Nationalstaaten an der Kandare hält und das zugunsten der Nationalstaaten rückgebaut werden muss. Drei Riesen der Supranationalität stehen im Visier der Argumentation: die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäischen Gerichtshof.
Der hässlichste der drei Riesen ist die Europäische Kommission. Sie zuallererst stehe für das Konzept der „unbegrenzten Supranationalität“ (S. 286), das die EU bisher beherrscht habe. Dem sei, so das Buch, für die EU insgesamt, aber auch für die einzelnen Institutionen das Konzept der „begrenzten Supranationalität“ (ebd.) entgegenzusetzen.
Einer der unsinnigsten aller Sätze des Buches lautet wie folgt: „Die Europäische Kommission sollte dem Europäischen Rat und dem Rat zukünftig untergeordnet sein“ (S. 290). Die Kommission solle in eine „untergeordnete EU-Behörde“ (S. 305) verwandelt, ihr Präsident zu einem „Leiter“ (ebd.) degradiert werden.
Jeder, der sich auch nur einigermaßen mit der europäischen Geschichte und ihren Institutionen auskennt, weiß dieses über die Kommission und ihre Geschichte:
Bei der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) handelte es sich zwar um eine Institution mit beachtlicher Supranationalität, ganz wollten die Nationalstaaten ihre Montanindustrien aber nicht aus der Hand geben, sie stellten der Hohen Behörde ihren Ministerrat zur Seite, der letztlich die Entscheidungen traf. Außerdem: die Hohe Behörde der Montanunion hatte nicht gerade die politische Zukunft Europas zu gestalten, ein untergehender Wirtschaftszweig war von ihr zu betreuen.
Die 1957 gegründete Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hatte schon längst nicht mehr die Supranationalität, wie sie die Hohe Behörde besaß. Im EWGV wurde ihr für einen ganz schmalen wirtschaftspolitischen Bereich (wiederum einen untergehenden Wirtschaftszweig, die Agrarwirtschaft, und die Handels- bzw. Zollpolitik) ein Vorschlagsrecht für Regulationen eingeräumt. Die Entscheidungen, das ist das Wichtigere, trafen die Nationalstaaten in Gestalt ihres Ministerrats.
Die Krise der EWG von Mitte der sechziger Jahre, die de Gaulle mit der „Politik des leeren Stuhls“ heraufbeschwor, drehte sich längst nicht nur um Fragen der Finanzierung und Entscheidungsfindung. Sie hatte zum Hintergrund, dass der Alt-Nazi Walter Hallstein, der damalige Kommissionspräsident, in den Augen Frankreichs allzu forsch an einer Machtausdehnung der Kommission laborierte. De Gaulle hielt Hallsteins föderative Vorstellungen (später: „der unvollendete Bundesstaat“) für eine „Wahnvorstellung“ und wollte die Kommission zu einer „internationalen Behörde“ zusammenstutzen. Nachdem die drei Institutionen dann zur EG-Kommission verschmolzen wurden, stand Hallstein nicht mehr zur Verfügung, und es wurde ganz ganz still um eine Erweiterung der Macht der Institution.
Neuen Schwung erhielt die Kommission dann erst wieder zwei Jahrzehnte später durch Jacques Delors, der seine Präsidentschaft 1985 antrat und umgehend mit dem Projekt Binnenmarkt begann. Aber auch bei diesem (erfolgreichen) Projekt setzte sich nicht „europäischer supranationaler Dirigismus“ durch, sondern das nationalstaatlich-neoliberale Prinzip des Wettbewerbs der Normen und Standards.
Als Delors dann im Zusammenhang mit den epochalen Umwälzungen der Jahre 1989/90 frühzeitig erkannte, dass vielleicht eine Chance bestehen könnte, den Macht- und Kompetenzbereich der Kommission auszudehnen – er forderte umfassende Exekutivbefugnisse für die Kommission, eine echte europäische Föderation und Zuständigkeiten für sie in der europäischen Außenpolitik –, wurde er von François Mitterrand, dem französischen Staatspräsidenten, frühzeitig zurückgepfiffen. Als der niederländische Ministerpräsident im Sommer 1991 mit dem Anliegen bei Mitterrand vorstellig wurde, die supranationale politische Union bei den Regierungsverhandlungen zu stärken, fuhr Mitterrand ihn an: „Was reden Sie denn da? Die Kommission ist null, das Parlament ist null, und null plus null ist null.“ Delors stürzte mit seinen Ambitionen ab, hielt sich im weiteren Verlauf der Maastrichter Verhandlungen zurück und distanzierte sich später von dem Maastrichter Vertrag, den er für „schizophren“ hielt. Bis zum Maastrichter Vertrag war die Kommission das europäische Ordnungsamt für die Marktregulation, danach übernahm der große Rat, der Europäische Rat, das Zepter und waltete fortan politisch in der Union.
Erneut wurde es lange Zeit still um die Kommission, wiederum zwei Jahrzehnte. Ein zahnloser Präsident von Gnaden des Europäischen Rats folgte auf den anderen, bis Jean-Claude Juncker 2014 mit dem Projekt der „Politischen Kommission“ reüssierte. Er vermochte so einiges auf dem Konto der Kommissionsarbeit zu verbuchen, musste sich aber auch Unverschämtheiten aus den Räten anhören. Als Juncker 2015 in direkte Verhandlungen mit Griechenland trat und Grexit-Phantasien des deutschen Finanzministers störte, kanzelte ihn dieser in aller Öffentlichkeit ab und drohte, den Kompetenzbereich der Kommission in Zukunft zu beschneiden – was die Nationalstaaten auch können, wenn sie wollen, denn sie sind die „Herren der Verträge“, nicht, wie das Buch unterstellt, die – peinlich oder ironisch? – „Meister der Verträge“ (S. 280).
Die seriöse Europawissenschaft weiß das alles, und wenn sie die institutionelle Macht der Kommission im europäischen Gefüge erörtert und auslotet, kommt sie – ausgehend von den beiden Ausgangspunkten, dass die „Herren der Verträge“ die im Europäischen Rat versammelten Nationalstaaten sind und die Kommission über keine Kompetenzkompetenz verfügt – zu dem Ergebnis, dass die Kommission der Agent ist und der Europäische Rat der Prinzipal. Selbst in den neuen Regelwerken, die in der Folge der so genannten Eurokrise auf den Weg gebracht wurden (Europäischer Stabilitätsmechanismus, Sixpack, Twopack, Fiskalpakt, Europäisches Semester), kommt die Kommission über diesen Status nicht hinaus. Sie ist ein kleines „Helferlein“ der Nationalstaaten. Das Buch aber wähnt in der Kommission einen Riesen der Supranationalität, den es zu bekämpfen gilt.
Das Buch hat das europäische Mysterienspiel nicht durchschaut. Es hält es für bare Münze – für Realität. Das Mysterienspiel bringt von Zeit zu Zeit das mächtige supranationale Europa als Protagonisten und die „folgsamen“ Nationalstaaten als Chargen auf die Bühne. Das geschieht immer dann, wenn die Nationalstaaten Bedarf dafür haben. Das Buch hat nicht verstanden, dass man in der machtpolitischen Schaltzentrale der EU, dem Europäischen Rat, die supranationalen Europäer mit all ihrem supranationalen Mummenschanz paternalistisch gewähren lässt, der Kommissionspräsident darf eine „Rede zur Lage der Nation/Union“ halten, die Kommission darf auf ihrer Website behaupten, dass sie die „Exekutive der EU“ sei, und Juncker darf bei dem Abschlussbild neben Tusk bei dem G-20-Gipfel stehen. All das, die gespielte Staatlichkeit, hält das Buch für Realität und betreibt lächerlichen Exorzismus.
„Dementsprechend sollten (Herv.d.V.) der Europäische Rat und der Rat als Repräsentanten der EU-Mitgliedstaaten die bestimmenden EU-Institutionen sein“ (S. 280). Das Modalverb offenbart die ganze Unwissenheit, auf der das Buch basiert. Sie sind es längst, könnte man sagen! Europäischen Supranationalität ist nur geliehene Supranationalität.
Noch den abwegigsten Gerüchten wider die supranationale EU geht das Buch auf den Leim: Die Kommission hat, so wird konstatiert, „Gesetzeserlasse mit über 100 000 Seiten Text produziert“ (S. 284). Erstens gibt es keine „Gesetzeserlasse“ in der EU, zweitens werden Richtlinien und Verordnungen vom Rat in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament „erlassen“, nicht von der Kommission, und drittens ist der „80-Prozent-Mythos“, der besagt, dass vier Fünftel aller nationalen Gesetze mittlerweile auf europäisches Recht zurückgehen, eben ein Mythos. Realistisch betrachtet sind es gerade einmal geschätzte zehn Prozent.
Noch ein falscher Satz aus dem Buch: „Die Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten kann nicht der Kommission überlassen werden“ (S. 304). Zu insinuieren, die Kommission entscheide – gegenwärtig oder in Zukunft – über den Beitritt neuer Staaten, ist Unfug. Das war immer – und ist es noch heute – Sache des Europäischen Rates.
Was schlägt das Buch noch vor? Das Europäische Parlament, da demokratisch nicht legitimiert, soll ersetzt werden durch eine „Kammer der Nationalen Parlamentarier (KNP)“ (S. 289 f.), die alle wesentlichen europäischen Entscheidungen trifft. Zurück also zur parlamentarischen Versammlung der Frühzeit. Das Europäische Parlament könne, so das Buch, gleichwohl weiter bestehen, aber nur noch mit Beratungsfunktion.
Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) solle ein „Appellationsgericht“ vor die Nase gesetzt werden (S. 291 f.), dessen Funktion daraus besteht, europafreundliche Entscheidungen des EuGH zu verwerfen. Dennoch erfährt auch der EuGH eine Art Bestandsgarantie durch das Buch und kann weiter unsinnige Urteile fällen.
Fazit: das Buch stellt keinen Vorschlag für eine „Neugestaltung der Europäischen Union“ dar, sondern gründet auf schlichtem Unwissen über die Struktur und Funktionsweise der EU. Anders formuliert: In dem Buch wird, wenig kunstvoll, ein Kampf gegen Windmühlen inszeniert.