Die GAFA-Steuer und die neoliberalen Beschwerdeführer. Die Pläne der EU-Kommission zur Einführung einer Digitalsteuer

 iphoneaDie rasant sich verbreitende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Entwicklung gänzlich neuer internetbasierter Geschäftsmodelle und die unübersichtliche Umwälzung sozialer Beziehungen haben innerhalb weniger Jahre ökonomische Verhältnisse hervorgebracht, denen das herkömmliche Steuerrecht hoffnungslos hinterherläuft. In beachtlichem Umfang haben die Internetgiganten (GAFA = Google, Apple, Facebook, Amazon) Wirtschaftsmodelle und Geschäftstätigkeiten kreiert, die sich entweder ganz oder in großen Teilen der staatlichen Besteuerung entziehen, obwohl gerade diese Unternehmen in erheblichem Maße von der ökonomischen, sozialen und technischen Infrastruktur (Einkommen, Bildung, Netze), die die Staaten zur Verfügung stellen, nicht nur partizipieren, sondern sich erst auf dieser Grundlage entwickeln und gedeihen konnten.

Die alte steuerliche Welt – vor Globalisierung und Digitalisierung – funktionierte so: Ein Unternehmen produziert in einem Land Güter, die Gewinne, die aus den Verkaufserträgen fließen, werden mit einer Unternehmenssteuer, der Körperschaftssteuer, belegt, beim Übergang in die Endkonsumtion fällt für den Kunden bzw. Verbraucher die Umsatzsteuer an. So einfach war die Welt früher. Beim Verkauf ins Ausland wurde die Sache komplizierter, aber dafür hat man Lösungen gefunden. Bei der Herstellung des europäischen Binnenmarktes wurde es dann mitunter strittig, die Frage war, ob nach dem Ursprungsland- oder dem Bestimmungslandprinzip verfahren werden sollte. Die Kommission trachtete danach, einen Binnenmarkt, einen „inländischen“ Markt herzustellen, also setzte sie sich für das Ursprungslandprinzip ein.

Ganz kompliziert wurde es im internationalen Steuerrecht mit der Entstehung und Ausbreitung des Internets, das für Unternehmen Standorte oder Betriebsstätten im herkömmlichen Sinne überflüssig machte, und damit emporkommender neuer kommerzieller Modelle, die in Dreiecksmustern Anbieter und Nutzer auf bislang unbekannte Art zusammenbrachten oder auf der Basis von Big Data Nutzerinformation für Werbezwecke verkauften. Das allerletzte Glied in der Internet-Kette, der Nutzer von Diensten, ließ sich mit geschickten Geschäftsideen einer Verwertung zuführen.

 

Die Faktenlage zum Thema Besteuerung von Internetdiensten bzw. -unternehmen sieht so aus:

  • Die neuen digitalen Unternehmen zahlen weniger als die Hälfte der Steuern von traditionellen Unternehmen. Eine von der Kommission zitierte Studie kommt auf einen effektiven Steuersatz von 23,2 Prozent bei traditionellen Unternehmen und von 9,5 Prozent bei digitalen Unternehmen. Wenn denn die digitalen Unternehmen überhaupt Steuern zahlen. Aus dieser Konstellation ergeben sich gravierende Wettbewerbsvorteile gegenüber traditionellen Unternehmen.
  • Die großen Internet-Konzerne haben i.d.R. keinen Sitz in der EU – schon gar keine Produktionsstätte, da nichts im herkömmlichen Sinn produziert wird –, also keine Gebäude, Büros, Mitarbeiter usw., erzielen mit ihrer geschäftlichen Tätigkeit in Europa aber Gewinne. Genau hier liegt die Lücke des alten Steuerrechts: die Körperschaftssteuer ist gebunden an einen Unternehmenssitz.
  • Zwei neue digitale Geschäftsmodelle entziehen sich der Besteuerung sehr weitgehend bis ganz: 1.) Unternehmen wie z.B. Facebook und Google, die Giganten des internationalen Werbemarktes, die Nutzerdaten en masse sammeln und Erträge dadurch erzielen, dass sie diese Daten für Werbezwecke verkaufen. 2.) Unternehmen wie z.B. Airbnb oder booking.com, die als Intermediäre fungieren und Nutzergruppen im Netz zusammenbringen und dadurch Erträge erzielen, dass eine der Nutzergruppe Gebühren o.ä. zahlt.
  • Im europäischen Binnenmarkt droht in Hinblick auf die Digitalsteuer eine Fragmentierung, da es Mitgliedstaaten gibt, die eine Digitalsteuer bereits eingeführt haben (Italien), Staaten, die kurz davorstehen oder sich stark für eine Digitalsteuer einsetzen (Frankreich, Deutschland usw.) und solchen, die eine Digitalsteuer ablehnen (die üblichen Steuerparadiese: Irland, Luxemburg).

Die Kommission hatte im Herbst 2017 auf Druck einiger Mitgliedstaaten eine Initiative für die Einführung einer Digitalsteuer („Google-Tax“) angekündet und dieser Tage zwei Richtlinienentwürfe vorgelegt, mit denen die Problematik angegangen werden soll. Der eine Richtlinienentwurf befasst sich mit einer langfristigen Lösung und versucht sich an der Überarbeitung des Betriebsstättenkonzepts durch die Einführung einer „digitalen Betriebsstätte“. Die zweite Richtlinie, jene, die für Aufregung in der neoliberalen Öffentlichkeit gesorgt hat, ist als kurzfristige Zwischenlösung gedacht und versucht eine Besteuerung neuartiger digitaler Geschäftstätigkeiten in der EU herbeizuführen, solange es noch keine internationale Lösung gibt. Hier soll es nur um diesen zweiten Entwurf gehen („Richtlinie des Rates zum gemeinsamen System einer Digitalsteuer auf Erträgen aus der Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen“, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=COM:2018:148:FIN).

Die Richtlinie ist ausdrücklich als Zwischen- oder Übergangslösung gedacht, bis man sich im Rahmen der OECD – geplant ist das Jahr 2020 – international geeinigt hat. Die neuen unkonventionellen internetbasierten Geschäftsmodelle folgen nicht mehr der herkömmlichen analogen Kausalität von Betriebsstätte (Wertschöpfung, Produktionsort, Unternehmenssitz) und anschließendem nationalen oder internationalem Verkauf, so dass der Gewinn am Unternehmenssitz und der Umsatz beim Kundenkontakt besteuert werden kann, sondern folgen gänzlich neuen Gegebenheiten.

Zu diesen neuen Gegebenheiten gehören: Unternehmen virtualisieren sich und sind nicht mehr an physische Präsenzen gebunden. „Produkte“ virtualisieren sich gleichfalls, beschleunigen sich gewaltig und werden in Gestalt von Big Data zu ganz neuen Produkten generiert. Und schließlich gerät die gesamte Ökonomie von Kosten und Nutzen, Tauschwert und Gebrauchswert, Anbieter und Nachfrager usw. durcheinander, so dass auf dieser Basis eben die vollständig neuartigen Geschäftsmodelle entstehen.

In der Begründung für die Besteuerung digitaler Unternehmen geht die Kommission davon aus, dass eine Wertschöpfung durch die Nutzer digitaler Dienste – jenseits monetärer Bewertungen – erfolgt.

„Die Digitalsteuer ist eine Steuer mit einem zielgerichteten Geltungsbereich, die auf Erträge aus der Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen erhoben wird, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Wertschöpfung durch die Nutzer erfolgt (Herv.d.V.). Bei den Dienstleistungen, die in den Geltungsbereich der Digitalsteuer fallen, stellt die Beteiligung eines Nutzers an einer digitalen Aktivität einen wesentlichen Input für das Unternehmen dar, das diese Aktivität ausführt, und das Unternehmen kann daraus Erträge erwirtschaften.“

Im Richtlinienentwurf benennt die Kommission in „Artikel 3. Steuerbare Erträge“ drei durch einen Rechtsträger, d.h. ein Unternehmen, angebotene Dienstleistungen, mit denen Erträge erwirtschaftet werden, die zu einer Besteuerung führen sollen:

  1. Erträge aus dem Verkauf von Online-Werbeflächen,
  2. Erträge aus der Vermittlung von Nutzern (interaktive Portale), von denen einer ein Entgelt entrichtet,
  3. Erträge, die aus dem Verkauf von Nutzerdaten erzielt werden.

Nicht betroffen wären Streaming-Dienste und reine Verkaufsplattformen. Steuerpflichtig sollen Unternehmen sein, die a) weltweit mehr als 750 Millionen EUR in einem Geschäftsjahr erzielen und die b) innerhalb der Union mehr als 50 Millionen EUR erzielen. Schätzungen zufolge geht es um etwas mehr als 100 Unternehmen.

Die Digitalsteuer soll 3 Prozent betragen (Artikel 8). Die Steuer erhält der Staat, in dem der jeweilige Nutzer, der den Beginn der Wertschöpfungskette darstellt, seinen Sitz hat. Der Ansatzpunkt sind die Bruttoerträge des Unternehmens minus Mehrwertsteuer u.ä. Es wird geschätzt, dass es um Einnahmen von rund 5 Milliarden EUR geht, also eine eher überschaubare Größe.

Kaum dass der Richtlinienentwurf der Kommission am 21. März 2018 publiziert war, setzte auch das neoliberale Lamento ein. In Kommentaren und Artikeln geriert man sich als Schutzpatron der Internetkonzerne, als Anhänger der Steuersystematik und als Internationalist, der sich für das internationale Steuersystem stark macht. Und über allem schwebt die fundamentale Aversion gegen Steuern überhaupt, insbesondere Unternehmenssteuern, und gegen die Europäische Union, insbesondere wenn sie als EU-Kommission auftritt.

Der Kommission unterstellt man, dass sie mit der angestrebten Digitalsteuer eine Art „Rachesteuer“ gegen die in den USA weitgehend steuerbefreiten Internetunternehmen plane. Das ist die übliche neoliberale Europafeindlichkeit. Dass die Kommission gegen die Fragmentierung des Binnenmarktes vorgehen muss, wird umgedreht, und es wird ihr untergeschoben, dass sie selbst sich neue Einnahmequellen erschließen möchte.

Die Verliebtheit in das alte analoge Besteuerungsprinzip – beim produzierenden Unternehmen werden Körperschaftssteuern erhoben, beim kaufenden Kunden die Umsatzsteuer – ist so ausgeprägt, man weint ihr etliche Tränen hinterher und will das Kommissionskonzept der „Nutzerwertschöpfung“ partout nicht akzeptieren. Die Verliebtheit in das alte System geht sogar so weit, dass man die „Kostenlos-Kultur“ im Internet anfeindet, sie abgeschafft sehen möchte, um dann wieder „normale“ Umsatzsteuern auf die digitalen Dienstleistungen zu erheben. Man will den Geist, der aus der Flasche entfleucht ist, koste es, was es wolle, in die Flasche zurück zwängen.

Auch die Passion für das internationale Steuersystem ist beeindruckend. Die USA haben die Internetgiganten doch nicht von der Steuer freigestellt, um sie Jahre später in OECD-Verhandlungen fremden Steuerordnungen zu unterwerfen, ganz abgesehen von der jüngsten Steuerreform, mit der man die Abtrünnigen zurücklocken will. Wie nur kann man auf die Idee kommen, dass der auf Krawall gebürstete US-Präsident im OECD-Rahmen einer alle Seiten zufriedenstellenden neuen internationalen Steuersystematik 2020 zustimmen wird?

Ganz besonders delikat ist der Hinweis, dass das exportorientierte Deutschland es keinesfalls durchgehen lassen könne, wenn, wie im Kommissionsvorschlag vorgesehen, das Besteuerungsrecht in das Land des Kunden verschoben wird. „Damit droht ein Paradigmenwechsel, der die gegenwärtige Balance der Steuerkompetenzen zugunsten der importierenden Staaten aufhebt“ (Wolfgang Schön, „Der digitale Steuerirrweg“, FAZ, 06. April 2018). Man wird gewahr: Im Welthandelssystem rumort es viel kräftiger und noch an ganz anderen Orten (z.B. bei dauerhaft-erratischen Handelsbilanzüberschüssen), als es die bisherigen protektionistischen Geplänkel zwischen den USA und China ankündigen.

Die Digitalsteuer wird in absehbarer nicht kommen, es wird ihr so ergehen wie der Finanztransaktionssteuer, die irgendwo im europäischen Kanalsystem stecken geblieben ist. Steuerfragen sind Veto-Fragen, sie müssten einstimmig beschlossen werden. Ob eine Lösung wie bei der Finanztransaktionsteuer („verstärkte Zusammenarbeit“) möglich ist, erscheint fraglich. Die bekannten europäischen Steuerparadiese stehen im Wege. Ganz besonders ärgerlich ist das im Falle Irlands. Schon ein Skandal war, dass man Irland im Rahmen des Hilfsprogramms der Eurozone nicht dazu gezwungen hat, steuerpolitisch mehr europäische Kooperationsbereitchaft zu zeigen. Ein fast noch größerer Skandal ist, dass sich Irland nach wie vor weigert, die Steuernachzahlung von Apple in Höhe von 13 Milliarden EUR einzutreiben und weiter auf Obstruktion setzt. Und das in einer Situation, in der das Land im Zusammenhang mit den Brexit-Verhandlungen und noch mehr bei Lösungen oder Nicht-Lösungen in allerhöchster Gefahr steht.

Macrons Rede an der Sorbonne – Der fehlende Inhalt

Makroökonomische Rätsel gibt es seit einigen Jahren nicht wenige. Eines davon ist das Produktivitätsrätsel: obwohl sich seit fast einem halben Jahrhundert die Mikroelektronik immer weiter in alle möglichen Bereiche von Produktion, Handel und Dienstleistungen vorarbeitet und schon längst zu Zwischenresultaten gekommen ist (dritte und vierte industrielle Revolution), zeigt sich dies nicht in den Kennziffern zur Produktivität. Im Gegenteil, es scheint, ein Merkmal fortgeschrittener Industrieländer zu sein, dass sie mit einem säkularen Rückgang des Produktivitätsanstiegs konfrontiert sind.

Ein weiteres dieser Rätsel ist das Inflationsrätsel. Obwohl die großen Zentralbanken der Welt nach der Weltfinanzkrise unablässig Geld in die Kreisläufe der Wirtschaft pumpen, die Geldmenge also steigt und steigt, will sich an den Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkten keine oder nur eine geringe Preissteigerung einstellen. Allein die Kapitalmärkte inflationieren. Auch hier gilt eher das Gegenteil, alle großen Volkswirtschaften der Welt bewegen sich seit Jahren tendenziell entlang von deflationären Abgründen, die angestrebten Inflationszahlen werden ein ums andere Mal verfehlt.

Ein drittes großes makroökonomisches Rätsel ist die erlahmende Investitionstätigkeit in den Industrienationen. In Deutschland bspw. wurde die zurückgehende Investitionstätigkeit der Wirtschaft in den frühen neunziger Jahren nur für kurze Zeit durch den so genannten „Aufbau Ost“ aufgehalten, um dann wieder auf den langfristigen Lähmungspfad einzuschwenken. Massiv verstärkt wurde dieser Trend durch den Rückgang bei den staatlichen Investitionen, eine Folge der schon ebenso langanhaltenden Sparpolitik. Von einem Substanzverlust der (bestehenden) Infrastruktur und einem Investitionsstau bei der Infrastruktur der Zukunft (Digitalisierung) ist die Rede.

Von den genannten drei großen Rätseln der Makroökonomie dürfte das letztere noch am einfachsten zu erhellen sein. Gerne wird in diesem Zusammenhang auf den Reifegrad sich tertiarisierender Wirtschaften hingewiesen, die eben einen Bedeutungsverlust industrieller Sektoren mit sich führe oder auf die Globalisierung, die eben Investitionen aus der hochindustrialisierten Welt in jene der Schwellenländer und aufsteigenden Ökonomien abziehe, doch dürfte das eher Nebel sein. Es liegt, vor allem in Europa, schon an der Austeritätspolitik, die dem Privatsektor keine positive Perspektive bietet und damit, indirekt, zu Lähmungen bei den Investitionen führt, und direkt an der staatlichen Sparpolitik der letzten beiden Jahrzehnte.

Das Investitionsproblem ist ein europäisches Problem, nicht nur wegen der nach wie vor bestehenden Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa. Anlass zur Beunruhigung gibt vor allem das Phänomen, dass trotz niedrigster Zinsen, trotz Null- und Negativzinsen, trotz Bazookas für die Finanzmärkte, der Investitionsmotor nicht anspringen will. Das ist ein Teil des Problems. Mehr ein peinlicher Witz war vor diesem Hintergrund der Juncker-Plan, der nicht peinlich war, weil er von Juncker kam, sondern weil der von Deutschland angerührte Stabilisierungsbeton nicht mehr als Kosmetik zuließ und zu keiner Steigerung der effektiven Investitionstätigkeit führte.

Es ist kein Zufall, dass die Investitionsfrage auch an zentraler Stelle in der Rede Macrons aufgegriffen wird. „Also brauchen wir mehr Investitionen, wir brauchen Mittel zur Stabilisierung angesichts der Wirtschaftskrisen.“ Im Zusammenhang mit der Bestimmung einer „europäischen Zielsetzung im Bereich der Energie“ formuliert er: „Natürlich darf dieses europäische Ziel nicht nur defensiv sein. Deshalb schlage ich auch die Einführung eines europäischen Industrieprogramms zur Förderung sauberer Fahrzeuge und zum Aufbau gemeinsamer Infrastrukturen vor, damit wir Europa durchqueren können, ohne es zu beschädigen. Wir brauchen neue Großprojekte.“ Auch zur Mittelaufbringung äußert sich Macron, angeführt werden eine Digitalsteuer, eine CO2-Steuer und die Finanztransaktionssteuer. Dass es in Europa ein Investitionsproblem gibt, wird also benannt. So ähnlich steht das auch im Koalitionsvertrag, ohne weitere Erläuterungen wird ein „Investivhaushalt“ gefordert bzw. angekündigt.

Nach dem Plädoyer für mehr Investitionen beginnen in Macrons Rede aber schon die Probleme. Auffällig ist bereits, dass der Begriff „Wirtschaftsregierung“ – zentrale Forderung aller Vorgängerregierungen, ob konservativ oder sozialistisch – nicht mehr fällt, vielleicht aus Abgrenzungsgründen. Setzt man sich mit dem ökonomischen Teil der Rede auseinander, tritt schließlich schnell der neuralgische Punkt der mit der Rede umrissenen Position zutage. Macrons Wirtschaftsberater beteiligen sich am deutschen Spiel, das da lautet, dass es keinen inneren Zusammenhang zwischen der Konstruktion einer Währungsunion einerseits und der realwirtschaftlichen Sphäre andererseits gibt.

Indem für die Reform der Währungsunion lediglich von einem Eurozonen-Haushalt, einschlägigen Besteuerungen und einem Finanzminister gesprochen wird, werden grundlegende Zusammenhänge zwischen Währungsunion und Realwirtschaft ausgeblendet, und es wird eine Verengung auf fiskalische Fragen vorgenommen.

Das Hauptproblem lautet also: die Vorschläge zur Reform der Währungsunion und die Vorschläge zu den realwirtschaftlichen Investitionen werden beziehungslos nebeneinanderher entwickelt. Es gibt drei Erklärungsmöglichkeiten für diesen Befund, keine davon ist beruhigend: Macrons Wirtschaftsberater sehen erstens keinen Zusammenhang zwischen der jetzigen Form der Währungsunion und der Realwirtschaft, zweitens sie ignorieren den Zusammenhang, aus welchen Gründen auch immer, oder drittens sie sprechen ihn nicht an, weil es ihnen gegenüber den Deutschen hoffnungslos erscheint.

Nahezu die gesamte Diskussion in Deutschland um die Reform der Währungsunion geht von der These aus, dass die Konstruktion einer Währungsunion im Allgemeinen und die der Eurozone im Besonderen keine Auswirkungen auf die Realwirtschaft hat. In Anlehnung an die neoklassische These von der Neutralität des Geldes (gegenüber dem realen Sektor) könnte, so diese Sichtweise, von der Neutralität der Währungsunion (gegenüber dem realen Sektor) gesprochen werden.

Der Neoliberalismus beklagt lediglich, dass die spezifische Politik der EZB (Niedrigzins und Anleihekäufe, also die letztlich antideflationäre Politik) strukturkonservativ wirke, also dem Untergang ohnehin Geweihte aus dem Industrie- und Bankenbereich, auch Staaten „künstlich“ am Leben halte, oder dass diese Politik an den Vermögensmärkten in bestimmten Bereichen (Börsen, Immobilien) zu aufgeblähten Strukturen führe. Diese Erscheinungen seien aber nicht auf die Konstruktionsbedingungen der Währungsunion zurückzuführen, sondern allein darauf, dass zurzeit die falschen Leute mit den falschen Überzeugungen (südliche Romanisten) im Entscheidungszentrum der EZB säßen.

Eine Währungsunion, die ohne jede Koordination in der Wirtschaftspolitik zwischen den beteiligten Staaten bleibt, also in gewisser Weise rein marktgesteuert funktioniert, ist der Gefahr ausgesetzt, dass es zu Trittbrettfahrerei kommt. In der jetzigen Währungsunion inszeniert die deutsche Seite eine Art Wettbewerb der Wirtschaftspolitiken, in deren Rahmen durch Lohnmäßigung die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie entscheidend gepuscht wird. Zusammen mit der Sparpolitik führt dies zu den allseits bekannten exorbitanten Exportüberschüssen, und zwar schon seit Jahren.

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Die Kommission hat eigentlich mit ihrem Katalog der makroprudentiellen Überwachung einen ganz brauchbaren Hinweis darauf, dass ein sich integrierender wirtschaftlicher Großraum auch in reale Strukturen der Wirtschaft hineinwirkt, sie zieht aber keine wirksamen Konsequenzen daraus. Nur zur Erinnerung: Die deutsche Lobby hat bei der Konstruktion des Überwachungssystems darauf gedrungen und durchgesetzt, dass nicht vier Prozent Überschuss als Indikator für ein „Ungleichgewicht“ gelten, sondern erst sechs Prozent, tatsächlich sind es mittlerweile über acht Prozent. Angesichts der Machtlosigkeit der supranationalen Kommission führen ihre Rügen und Mahnungen in Deutschland bestenfalls zu Schulterzucken und wohlfeilen Erklärungen für die deutsche Exportstärke

Die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte behindern wirtschaftliche Erholungsprozesse in anderen Ländern der Währungsunion in der kürzeren und mittleren Frist, zusätzliche Nachfrage aus Deutschland wird verschenkt und Wettbewerber aus anderen Ländern der Währungsunion werden durch die Lohnmäßigung aus dem Markt gedrängt. Fast noch gravierender sind aber die Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur in den beteiligten Ländern in der längeren Frist. Und damit kommen wir auch zurück auf Frankreich. Zugespitzt formuliert muss festgestellt werden, dass sich Deutschland in den zwei Jahrzehnten der Währungsunion tendenziell zum industriellen Zentrum Europas entwickelt hat – und damit ganz nebenbei die Tertiarisierung signifikant aufgehalten hat –, während große Teile des restlichen Europas eine förmliche De-Industrialisierung durchgemacht haben. Ganz besonders gilt das für Frankreich, dessen industrielle Basis nicht einmal mehr das Niveau des de-industrialisierten Ost-Deutschlands hat. Der Anteil des sekundären Sektors an der Gesamtwertschöpfung (BIP) betrug 2016 in Deutschland fast ein Drittel, ein Wert, der – nur nebenbei – eher dem eines Schwellenlandes gleicht, während der Anteil der Industrie am BIP in Frankreich nicht einmal mehr ein Fünftel ausmacht.

Wenn Europa also nicht in einem anonymen, nur durch den brachialen Prozess eines Wettbewerbs der Wirtschaftspolitiken gesteuerten Prozess auf eine problematische neue großräumliche Wirtschaftsstruktur sich hin entwickeln will – mit Deutschland als industriellem Zentrum, Frankreich mit einigen wenigen nationalen Champions, Osteuropa als verlängerte Werkbank und Südeuropa als Tourismusparadies –, muss auch die Funktionsweise der Währungsunion Thema der Reformbemühungen werden. So begründet Macrons Forderungen nach einem neuen großen Investitionsprogramm in Europa und einer fiskalischen Ergänzung der Währungsunion auch sind, so sehr steht auch fest, dass sie bestenfalls die Hälfte der anstehenden Reformmaßnahmen ausmachen können. Die Funktionsweise der Währungsunion muss Thema werden.

 

Der hier angedeutete Blick auf die Wirtschaftsstruktur Europas in der Zukunft reicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Zu den Themen für den längeren Zeitraum gehört auch die Konvergenzproblematik, die originäres Thema der europäischen Integration und der Verträge ist. Den Peripheriestaaten in Ost- und Südeuropa muss der weiterentwickelte Kern in der Mitte und im Norden entgegenkommen. Wenn also die längere Frist betrachtet wird, Macron spricht von 2024, dann stellt sich auch die Frage, ob denn die Übergangslösungen „Europäischer Finanzminister“ und „Eurozonen-Haushalt“ sinnvolle Institutionalisierungen sind, oder ob nicht in dieser Perspektive der bisherige Pseudohaushalt der EU in einen Jahreshaushalt umgestellt werden sollte, mit einem dauerhaften Mittelaufkommen und einer demokratisch legitimierten Wirtschaftsregierung. In diese lange Frist gehört auch – vertraglich ohnehin vereinbarte – Komplettierung der Währungsunion um die bisherigen Opt-outs und Kandidaten. Das enthöbe die Akteure freilich nicht, erste Reformmaßnahmen in Angriff zu nehmen, die die Funktionsweise der Währungsunion zum Thema machen und ihre Attraktivität steigern.

 

 

 

 

 

 

Macrons Rede an der Sorbonne – Der eigentliche Inhalt

France Europe

Macrons Rede an der Pariser Sorbonne im vergangenen September wird in Deutschland häufig auf den darin enthaltenen Bezug zur Reform der Währungsunion verkürzt. Das ist unstatthaft, weil die Ausführungen zur Währungsunion nur einen sehr kleinen, einen minimalen Teil der Rede ausmachen. Auch die abstrakte europhile Begeisterung für die Rede, die ansonsten vorherrscht, wird der Essenz der Rede nicht gerecht und verpufft im atmosphärischen Dunst.

Völlig übersehen, man kann fast sagen, ignoriert wird der eigentliche Gehalt der Rede, wahrscheinlich weil in Deutschland der neoliberale Mainstream unangefochten dominiert und der hat sich viel zu sehr im Dickicht der Abwehrkämpfe gegen die Weiterentwicklung der Währungsunion verheddert und sieht mit der neuen Regierung und ihrem sozialdemokratischen Finanzminister seine Felle davon schwimmen. Dabei ist das Kleinklein der Reform der Währungsunion nichts gegen die eigentliche Essenz der Rede.

 

Die zeitgemäße, moderne Begründung des europäischen Projekts vor dem Hintergrund gravierender geopolitischer Konzentrationen und Machtverschiebungen ist das eine große Thema, das Macron anspricht, und die zukünftige Integrationsstrategie der Gemeinschaft, nachdem die Krisen der jüngsten Vergangenheit – die Krise um die Währungsunion, die Krise um die Migration und der Brexit – fürs Erste zu einer gewissen Ruhe gekommen sind, ist das andere.

 

Eine neue Begründung für das europäische Projekt

Als Motto über der Rede fanden sich die Begriffe „Souveränität, Einheit und Demokratie“. Staunen und Rätseln beim Publikum hervorgerufen hatte zunächst, was mit dem Begriff der „Souveränität“ gemeint sein könnte. Macron unterbreitet mit dem Begriff die zentrale, wenn man so will geopolitische Begründung für das europäische Projekt, sowohl in Hinblick auf die Gegenwart, als auch und mehr noch in Hinblick auf die Zukunft.

Zu verzeichnen ist gegenwärtig nicht mehr und nicht weniger als ein Paradigmenwechsel – hier passt der Begriff einmal – in der Begründung des europäischen Einigungsprozesses. War es in der Vergangenheit immer das „Europa als Friedensprojekt“ mit der kriegerischen Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts im Hintergrund, anhand dessen die europäische Einigung in den tiefsten Tiefenschichten begründet wurde, lautet die Begründung der Zukunft auf das „Europa als Schutzraum“ in einer überaus turbulent gewordenen Welt. Der Blick auf das 21. Jahrhundert kann keinen Zweifel lassen: die alten und neuen großen politischen und wirtschaftlichen Einheiten der Welt sind in den entscheidenden Parametern einem nationalistischen, regionalistischen, kleinstaatlichen Europa meilenweit überlegen, auch politischen Mittelmächten wie Frankreich und wirtschaftlichen Mittelmächten wie Deutschland. Vereinigt sich Europa nicht, wird es, wenn nicht geschluckt, dann mindestens an den äußersten Rand marginalisiert.

Und genau in diesem Sinne setzt Macron den Begriff der „Souveränität“ ein, durchaus abweichend von den gang und gäben herkömmlichen Definitionen:

„Allein Europa kann tatsächlich Souveränität gewährleisten, das heißt, die Fähigkeit, in der heutigen Welt zu bestehen, um unsere Werte und unsere Interessen zu verteidigen. Es gilt, die europäische Souveränität aufzubauen und es besteht die Notwendigkeit, sie aufzubauen.“

Nur ein souverän werdendes Europa vermag in Zukunft – so die dialektische Volte – die Souveränität seiner Mitglieder zu sichern. Das könnte sogar den Anhängern des „Europas der Vaterländer“ gefallen.

An andere Stelle heißt es noch prononcierter, dass es darum gehe, Europa zu einer „Weltwirtschaftsmacht“ zu entwickeln. In dem Maße, wie das 21. Jahrhundert Entfernung von seinem Vorläufer gewinnt, ist die Bestimmung Europas als globaler Macht tatsächlich die zentrale rationale Bestimmung.

Als „Herzstück“ des neu aufzubauenden souveränen Europas benennt Macron sechs „Souveränitätsschlüssel“. Es sind dies: 1.) die Sicherheit in allen inneren und äußeren Aspekten, 2.) die Grenzsicherung und der Umgang mit den Migrationsströmen, 3.) die Außenpolitik, 4.) der ökologische Wandel, 5.) die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und schließlich 6.) die Reformierung der Eurozone.

Während die Mainstream-Debatte in Deutschland die Reform der Währungsunion unter rein inneren Dimensionen diskutiert und sich biedermeierlich mit dem neoliberalen Guckkasten einrichtet, überwindet Macron diese Selbstvergessenheit und verleiht der Währungsunion einen äußeren Zweck, der sich auf die geopolitische Umwelt richtet.

Das „Herzstück eines integrierten Europas“ soll also die reformierte Eurozone werden. In deren Zentrum sollte ein „stärkerer Haushalt“ stehen, dessen Mittel sich dem ökologischen Wandel, der Entwicklung des digitalen Binnenmarktes sowie der (harmonisierten) Körperschaftssteuer speisen sollte. All das ergebe sich nicht als Resultat eines Marktprozesses, sondern bedürfe der „starken politischen Steuerung“ durch einen „gemeinsamen Minister“. Nur so lasse sich über den Euro – dem alle EU-Länder beitreten sollten – eine „Weltwirtschaftsmacht“ entwickeln:

„Ein Haushalt kann nur einhergehen mit einer starken politischen Steuerung durch einen gemeinsamen Minister und eine anspruchsvolle parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene. Alleine die Eurozone mit einer starken und internationalen Währung kann Europa den Rahmen einer Weltwirtschaftsmacht bieten.“

All das bedeutet, dass sich die Deutschen schleunigst an eine Relativierung ihrer bisherigen Schwerpunkte in der Debatte um die Reform der Eurozone und eine Einbettung der Euro-Debatte in übergreifende Rahmenbedingungen machen sollten. Auf den neoliberalen Spielwiesen wird die Zukunft Europas nicht entschieden.

 

Die Integrationsstrategie der Zukunft: Wettbewerb oder Konvergenz?

Diskussionen über die Finalität des europäischen Projekts sind gegenwärtig nicht gerade en vogue. Zuletzt konnte man das an dem Aufschrei erkennen, der des armen Schulzes Hinweis auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ während der Koalitionsverhandlungen auslöste. Das kann man nachvollziehen. Nicht nachvollziehen kann man aber die Verweigerung gegenüber einer Diskussion um die zukünftige Strategie des europäischen Einigungsprozesses. Es hat fast den Anschein, als würde über dieses Thema in Deutschland nur in den Katakomben der Freimaurer debattiert, da es für hochgradig kontaminiert und höchst gefährlich gilt und die Öffentlichkeit nicht verunsichert werden soll.

Den einzigen Reim, den man sich auf dieses Phänomen machen kann, findet man bei den Diskussionen um die hegemoniale oder halbhegemoniale Stellung Deutschlands mindestens in der Währungsunion, wenn nicht in der Union überhaupt. Das ist für Deutschland offensichtlich eine höchst unangenehme Wahrnehmung von außen, und auch seiner selbst. Dabei ist die Diskussion doch gar nicht so gefährlich, hat die jüngere Vergangenheit doch gezeigt, dass es mit der deutschen (Halb)Hegemonie doch nicht so weit her ist. Weder konnte der Hegemon gegenüber Großbritannien ein Remain erzwingen noch ließ sich die deutsche Flüchtlingspolitik mir nichts dir nichts auf ganz Europa ausdehnen. Auch der Aufstieg der so genannten Populisten in ganz Europa zeigte doch die Grenzen des vermeintlichen Hegemons auf. Die Liste ließe sich verlängern.

Sieht man von den marktradikalen und nationalradikalen Alternativen zur europäischen Einigung ab, lassen sich grundsätzlich zwei – gegensätzliche – Integrationsstrategien ausmachen. Es sind dies erstens die Wettbewerbsstrategie und zweitens die Konvergenzstrategie. In der Vergangenheit konnte man den Kampf der beiden Strategien auf dem Gebiet des Wirtschaftlichen beobachten, nämlich bei der Herstellung des Binnenmarktes (Vereinheitlichung versus gegenseitige Anerkennung). Offen wurde er im Politischen noch nicht geführt. Jetzt aber ist es soweit, spätestens mit der Rede Macrons ist der Streit eröffnet.

Mit dem maßgeblich durch Deutschland gesteuerten Umbau der Währungsunion von einer ehedem egalitären in eine hegemoniale Währungsunion hatten sich die deutschen Akteure – ob bewusst oder unbewusst, muss an dieser Stelle nicht erörtert werden – als Verfechter der Wettbewerbsstrategie erwiesen. Hat im ersten Jahrzehnt der Währungsunion noch an den Finanzmärkten der gleiche Zins für die Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten geherrscht, so wurde dies mit der Eurokrise anders. Es setzte eine Differenzierung zwischen den Staaten ein, und seither gilt der unterschiedliche Zins mit differenzierten Risikoprämien an den Kapitalmärkten als prägendes Merkmal. Das nennt man Staatenwettbewerb, zumal mit der rücksichtslosen Durchsetzung des Haftungspostulats in der Eurodiskussion die materielle Basis dafür gelegt wurde. Im Verlauf der Krise gab es etliche Anzeichen, dass man von deutscher Seite gerne den kompetitiven Föderalismus für die Währungsunion zum strukturbestimmenden Prinzip erhoben hätte.

Macron setzt dem mit der Sorbonne-Rede eine glasklare Alternative entgegen. Ablesbar ist dies wiederum am Motto der Rede – „Souveränität, Einheit und Demokratie“. Es kommt ihm auf Einheit an, ganz ohne über die Finalität des europäischen Projekts zu philosophieren.

„Diese europäische Einheit, von der deutsch-französischen Aussöhnung bis zur Wiedervereinigung von Ost und West ist unser schönster Erfolg und unser wertvollster Trumpf… Wir werden kein starkes und souveränes Europa haben, wenn es nicht vereint ist, zusammenhält, kohärent ist. Verlieren wir diese Einheit, gehen wir das Risiko ein, zu unseren todbringenden Brüchen und unserer zerstörerischen Hegemonie zurückzukommen.“

Im Sinne der Einheits- und Konvergenzstrategie und gegen die „Diktatur des Marktes“ führt Macron dann einzelne seiner Forderungen auf: die Überarbeitung der Entsenderichtlinie, die Vereinheitlichung der Körperschaftssteuer und – vor allem und grundlegend – die Sozialkonvergenz, die zu einer schrittweisen Annäherung der europäischen Sozialmodelle führen sollte.

Und unverkennbar und warnend an die deutsche Adresse formuliert er:

„Anstatt also all unsere Energie auf unsere inneren Spaltungen zu konzentrieren, wie wir es nun schon viel zu lange machen, anstatt unsere Debatten in einem europäischen Bürgerkrieg zu verlieren – denn darum handelt es sich bei den Haushalts-, Finanz- und Politikdebatten –, müssen wir eher darüber nachdenken, wie wir Europa stärker machen in der Welt, wie sie ist.“

Ins achte Jahr gehende Austeritätspolitik in Europa durchzusetzen und die immerwährend um Stabilitätspolitik und Haftungsprinzip kreisenden Reformdiskussionen um die Währungsunion als „Bürgerkrieg“ zu bezeichnen, ist ein überdeutliches Signal nach Berlin. Die Zukunft Europas wird nicht im Staatenwettbewerb, sondern in seiner Vereinheitlichung und Konvergenz liegen.

Seit der Rede ist schon viel Zeit verstrichen. Die Deutschen sollten sich bald daran machen, ein Antwort auf dem Gebiet zu entwickeln, das Macron mit seinen Forderungen nach einem Europa als Schutzraum und einem Europa der Konvergenz skizziert hat. Warum eigentlich genau fand sich dafür kein Platz im Koalitionsvertrag?

 

Der Koalitionsvertrag und der neue sozialdemokratische Europaminister. „Ein neuer Aufbruch für Europa“?

 Unterschrift_des_Koalitionsvertrages_der_18._Wahlperiode_des_Bundestages[1]

Bildergebnis für koalitionsvertrag 2018

„Ein neuer Aufbruch für Europa“ – das steht an erster Stelle der drei Motti des Koalitionsvertrags von Union und SPD und als Überschrift über dem entsprechenden Textteil. Die Europafeinde in der deutschen Presse, von denen es nicht wenige gibt, kolportierten, Jean Claude Juncker habe die dazugehörigen Ausführungen Martin Schulz in die Feder diktiert.

Vor den Mutmaßungen über die Zukunft steht an solchen Stellen sinnvollerweise der Blick zurück in die Vergangenheit. Als zeitliche Rasterung bietet sich das Jahrzehnt an, und zwar in zweierlei Lagerung. Nehmen wir zunächst das Doppelpack: Seit ziemlich genau zwei Jahrzehnten steht die deutsche Sozialdemokratie entweder in primärer oder in sekundärer Verantwortung für die deutsche Politik, damit auch die Wirtschafts- und die Europapolitik – freilich mit einer, für diese beiden Themen nicht ganz unwichtigen Ausnahme, nämlich der Legislatur von 2009-2013.

Wir gehen zunächst auf das erste Jahrzehnt ein (1998-2009). Haargenau in diese Zeit sind in der deutschen Innenpolitik die beiden wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen gefallen, die dann in der europäischen Verlängerung im einen Fall zur Krise der Währungsunion beigetragen und im anderen Fall – als Krisenbekämpfungsmittel gedacht – zur Verschärfung der Krise der Währungsunion beigetragen haben.

Wovon ist die Rede? Von der Agenda-2010-Politik und der so genannten Schuldenbremse. Mit dem rotgrünen Politikwechsel in der Arbeitsmarktpolitik (2002-2005) begann zwar nicht die Ära der Lohnmäßigung in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte, sie wurde jetzt aber institutionell unterfüttert und erhielt ganz neue politische, soziale und rechtliche Möglichkeiten – mit fatalen wirtschaftlichen Folgen für Europa. In rasantem Tempo begann die deutsche Wirtschaft durch die willfährige Politik der Lohnmäßigung und der sozialen Öffnung der Gesellschaft nach unten Wettbewerbsvorteile zurückzuerobern und – mit Blick auf die Währungsunion – die erheblichen Ungleichgewichte anzuhäufen, die diese ab 2010 ins Wanken brachte. Mit dem neu gestalteten Arbeitsmarkt und der neuen Lohnpolitik errang die deutsche Wirtschaft die kompetitiven Vorteile, die ihr einen Rekordexportüberschuss nach dem anderen verschafte und die europäischen Partner in der Währungsunion, die andere Seite der Medaille, ins Hintertreffen brachten.

Wie es der historische Zufall so will. Der jetzt ins Amt gekommene Finanzminister war damals mit ihm Spiel. Als Generalsekretär der SPD (2002-2004) oblag ihm in den Implementierungsjahren der Agenda 2010 die Aufgabe, den Politikwechsel der Agenda 2010 in die Partei zu erklären und zu kommunizieren – was ihm bekanntlich nur leidlich gut gelungen ist. Nicht überliefert jedenfalls ist, dass er diese Politik national für problematisch und für nicht verallgemeinerungsfähig in Europa hielt.

Der andere Eckstein deutscher Europapolitik wurde 2009 auf ziemlich mirakulöse Weise gesetzt: die so genannte Schuldenbremse wurde als zentrales Ergebnis der Kommission für die Föderalismusreform II, die ursprünglich ein ganz anderes Thema hatte, präsentiert. Mit der einschlägigen Gesetzgebung, tief ins Grundgesetz hinabgesenkt und dort die letzten Reste des Keynesianismus auslöschend, wird dem Gesamtstaat nur noch eine minimale Kreditaufnahme ermöglicht, den Ländern wird jede Kreditaufnahme untersagt, was dem Föderalismus, das nur nebenbei, den endgültigen Todesstoß versetzte. Mitten auf hoher See, sozusagen im Auge des Orkans beschloss die damalige Große Koalition – ohne jede Not, ohne jeden Anlass und fast aus heiterem Himmel – dem Staat das einzige wirtschaftspolitische Instrument in Krisenzeiten aus der Hand zu schlagen und einer dubiosen Regel zu unterwerfen. Das geschah 2009, mitten in der Zeit, als man gerade unter Missachtung jeder diesbezüglicher Regeln durch Kreditaufnahme und aktive Konjunkturpolitik die schlimmsten Folgen der globalen Finanzkrise bekämpfte. Der neue Finanzminister gefiel sich in der Folgezeit in Lobpreisungen der Schuldenbremse und soll sich zu dem Satz „Die Schuldenbremse ist links“ verstiegen haben.

In der darauffolgenden Periode, ab 2009, wurde die Sozialdemokratie in die Opposition beordert. Ihr damaliger Finanzminister hatte noch im Wahljahr, als sich Unruhen um Griechenland andeuteten, versucht, durch kommunikative Signale die Finanzmärkte zu steuern. Als dann die schwarzgelbe Koalition die Regierung übernahm, war es damit vorbei, die europäische Krise in der Währungsunion baute sich nach und nach auf. Kanzleramt und Finanzministerium übernahmen das Steuer in der Antikrisenpolitik. Nicht bekannt aus jener Zeit ist, dass die sozialdemokratische Opposition das Konzept der schwarzgelben Antikrisenpolitik grundsätzlich hinterfragte, die Folgen – Spaltung Europas, Verelendung in Griechenland – ja, das Konzept nicht. Schon gar nicht bekannt wurde, dass die Sozialdemokratie vier Jahre später, wieder an die Hebel der Macht gelangt, die europäische Wirtschaftspolitik Deutschlands, weiter aus dem Finanzministerium gesteuert, maßgeblich mitgestalten wollte. Eher vermittelte sich der Eindruck, dass man im Grundsatz diese Politik für die richtige hielt.

Warum angesichts dieser Vergangenheit, so mag man sich fragen, hat die Union so gehadert, als sie das Finanzministerium zurück in sozialdemokratische Hände legen musste. Gehadert haben vielleicht die Unwissenden. Die Wissenden zimmern sich vielleicht eine andere Erzählung. Die Erzählung nämlich, dass der neue sozialdemokratische Finanzminister jetzt das entsorgen muss, was sein Vorgänger, der aus dem Amt des deutschen Finanzministers das des Europaministers gemacht hat, an die Wand gefahren hat. Die Länder der Währungsunion werden, angesichts des sehr mauen Wachstums bei der nächsten Krise an nämlicher Wand stehen und angesichts Schuldenbremse in Europa, Strangulierung der Nachfrage und Unterwerfung unter das Haftungsprinzip nicht viele Auswege aus der Krise finden. Der jetzige Parlamentspräsident jedenfalls hat die Haftungsübernahme für seine Politik als Finanzminister der letzten acht Jahre verweigert und sich in die Büsche geschlagen.

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Was ist nun von dem neuen sozialdemokratischen Europaminister zu erwarten? Ein Teil der Antwort findet sich in den Erzählungen aus der Vergangenheit. Seine weltanschaulichen Überzeugungen sind, so besagen diese Erzählungen, in der Wolle gefärbter deutsch-europäischer Neoliberalismus. Das allerdings mehr auf der politisch-praktischen Ebene, von grundsätzlichen oder konzeptionellen Überlegungen zur Wirtschaftspolitik wird nichts berichtet. Aber es gibt ja noch ein anderes Tableau, den Koalitionsvertrag, vielleicht haben die gewieften Europäer Schulz und Juncker dort etwas hinterlegt, das dem neuen Minister für die europäischen Angelegenheiten eine Richtschnur sein könnte, etwas mit dem er sich von der neoliberalen Zwangsjacke befreien könnte.

Den weitaus größten Teil bestreitet im Textabschnitt zu „Europa“ die Modalverb-Lyrik des „Wir wollen“. Dort findet man vom – Überraschung – „gestärkten Europäischen Parlament“ bis zum „Marshallplan für Afrika“ so ziemlich alles, was en vogue ist und was man sich auf den europäischen Wunschzettel notieren kann. Für eine ernstzunehmende Positionsbestimmung in Sachen zukünftiger Europapolitik fällt dieser Teil aus. Und was enthält das Papier an Substanz? Es sind vier Punkte.

  1. „Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit.“ Manchmal kann es auch sinnvoll sein, Plattitüden kraftvoll und mit großer Pantomime auszusprechen. Nach dem Brexit wird eine Lücke im EU-Haushalt gerissen, die es auszugleichen gilt. Im Wesentlichen werden das die Nettozahler stemmen müssen. Kein Mensch bei Verstand kann angesichts der Herausforderungen für die EU einem „schlanken Haushalt“ das Wort reden.
  2. „Dabei (Bezug auf den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen, d.Verf.) befürworten wir auch spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Eurozone, die Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone sein können.“ Was immer dieses Kauderwelsch bedeuten soll, dass aus dem normalen EU-Haushalt spezielle Haushaltsmittel für die Eurozone abgezweigt werden können/sollen, ist wohl eine Schnapsidee. Und überhaupt: Was ist das denn, ein „Investivhaushalt“? Nichts zur Mittelherkunft, nichts zum Zweck.
  3. „Den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, der im Unionsrecht verankert sein sollte.“ Einmal abgesehen davon, dass die EU-Kommission diesbezüglich schon Ende vergangenen Jahres einen Verordnungsentwurf vorgelegt hat, also im Koalitionsvertrag nicht etwas Neues vorgeschlagen wird – nicht ein konkreter Aspekt bezogen auf den EWF wird angesprochen, nichts zu seiner Struktur, nichts zu seiner Perspektive, nichts zu seinem Stellenwert. Hier und an anderer Stelle bleibt völlig ausgeblendet, dass eine solche Reformmaßnahme mit ziemlicher Sicherheit einer Vertragsveränderung bedürfte und nicht, wie von der Kommission intendiert, auf dem Verordnungswege zu haben ist.
  4. Und um die neoliberale Seele weiter zu balsamieren, werden noch einmal – zum wievielten Mal eigentlich? – betont: „Dabei bleibt der Stabilitäts- und Wachstumspakt auch in Zukunft unser Kompass… Zugleich muss auch künftig das Prinzip gelten, dass Risiko und Haftungsverantwortung verbunden sind.“ Das, was sich immer mehr als Hemmschuh für eine perspektivische Entwicklung der Eurozone herausstellt, wird hier noch einmal als gelangweiltes Mantra ins Schaufenster gestellt. Dass das Haftungsprinzip zu den übelsten, stockreaktionären und zu widerlichem Nationalismus führenden Begrifflichkeiten der Eurodebatte der vergangenen Jahre gehört, ist den sozialdemokratischen Verhandlern nicht aufgefallen.

Das ist tatsächlich alles, was der Koalitionsvertrag konkret an Europapolitik hergibt. Im Élysée-Palast wird man die Augen gerollt haben, nachdem man das gelesen hatte. Diese vier erbärmlichen Beiträge haben sich die deutschen Koalitionäre sozusagen als Antwort auf die Sorbonne-Rede Macrons ausgedacht. Was immer man gegen diese Rede einwenden mag, sie entfaltet in jedem Fall eine innere Kraft, wird von einer wirklichen Überzeugung getragen und bringt eine Reihe, teils origineller Vorschläge vor. Daran gemessen ist der europapolitische Teil des Koalitionsvertrages eine Blamage von pazifischen Ausmaßen. Um mit den Macron-Vorschlägen halbwegs gleichberechtigt in Kontakt zu treten, hätte der Koalitionsvertrag mit Blick auf die Währungsunion wenigstens als Perspektive oder Fragestellung aufwerfen müssen, wie aus der Sackgasse der Austeritätspolitik, der Nord-Süd-Spaltung und der Haftungsideologie herauszukommen ist.

Was sagt uns das in Hinblick auf die zu erwartende Debatte um die Reform der Währungsunion? Auf der Etage der Spitzenpolitiker, die diesen Vertrag ausgehandelt und aufgeschrieben haben, hat keiner auch nur eine vage oder blasse Vorstellung davon, wie die europäischen Krisen, insbesondere jene der Währungsunion überwunden werden können. Damit wird sich eine Tendenz verstärken, die sich in Deutschland bereits in der Eurokrise 2010 formte: Es sind kleine Zirkel der subalternen Staatsebenen, welche die Politik und ihre Richtung bestimmen, kleine Zirkel von Experten und Fachleuten, weitgehend frei von perspektivischen und konzeptionellen Vorgaben der oberen politischen Ebene – wie in Frankreich.

Aber es gibt noch eine letzte Hoffnung. Und diese Hoffnung hält dafür, dass man in einen Koalitionsvertrag nicht das hineinschreibt, was man als Vorhaben im Kopf hat. Wer weiß, was der neue Europaminister alles an Ideen für den neuen Aufbruch für Europa noch in der Hinterhand hat.

Die eigenartige Angst der Neoliberalen vor einer Verankerung des EWF im Europarecht

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Otmar Issings Aufsatz („Deutschland und Europa“, FAZ, 26.01.2018), der sich mit der aktuellen Debatte um die Zukunft der Währungsunion befasst, enthält zwei falsche Behauptungen. Weiterlesen „Die eigenartige Angst der Neoliberalen vor einer Verankerung des EWF im Europarecht“