„Ein neuer Aufbruch für Europa“ – das steht an erster Stelle der drei Motti des Koalitionsvertrags von Union und SPD und als Überschrift über dem entsprechenden Textteil. Die Europafeinde in der deutschen Presse, von denen es nicht wenige gibt, kolportierten, Jean Claude Juncker habe die dazugehörigen Ausführungen Martin Schulz in die Feder diktiert.
Vor den Mutmaßungen über die Zukunft steht an solchen Stellen sinnvollerweise der Blick zurück in die Vergangenheit. Als zeitliche Rasterung bietet sich das Jahrzehnt an, und zwar in zweierlei Lagerung. Nehmen wir zunächst das Doppelpack: Seit ziemlich genau zwei Jahrzehnten steht die deutsche Sozialdemokratie entweder in primärer oder in sekundärer Verantwortung für die deutsche Politik, damit auch die Wirtschafts- und die Europapolitik – freilich mit einer, für diese beiden Themen nicht ganz unwichtigen Ausnahme, nämlich der Legislatur von 2009-2013.
Wir gehen zunächst auf das erste Jahrzehnt ein (1998-2009). Haargenau in diese Zeit sind in der deutschen Innenpolitik die beiden wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen gefallen, die dann in der europäischen Verlängerung im einen Fall zur Krise der Währungsunion beigetragen und im anderen Fall – als Krisenbekämpfungsmittel gedacht – zur Verschärfung der Krise der Währungsunion beigetragen haben.
Wovon ist die Rede? Von der Agenda-2010-Politik und der so genannten Schuldenbremse. Mit dem rotgrünen Politikwechsel in der Arbeitsmarktpolitik (2002-2005) begann zwar nicht die Ära der Lohnmäßigung in der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte, sie wurde jetzt aber institutionell unterfüttert und erhielt ganz neue politische, soziale und rechtliche Möglichkeiten – mit fatalen wirtschaftlichen Folgen für Europa. In rasantem Tempo begann die deutsche Wirtschaft durch die willfährige Politik der Lohnmäßigung und der sozialen Öffnung der Gesellschaft nach unten Wettbewerbsvorteile zurückzuerobern und – mit Blick auf die Währungsunion – die erheblichen Ungleichgewichte anzuhäufen, die diese ab 2010 ins Wanken brachte. Mit dem neu gestalteten Arbeitsmarkt und der neuen Lohnpolitik errang die deutsche Wirtschaft die kompetitiven Vorteile, die ihr einen Rekordexportüberschuss nach dem anderen verschafte und die europäischen Partner in der Währungsunion, die andere Seite der Medaille, ins Hintertreffen brachten.
Wie es der historische Zufall so will. Der jetzt ins Amt gekommene Finanzminister war damals mit ihm Spiel. Als Generalsekretär der SPD (2002-2004) oblag ihm in den Implementierungsjahren der Agenda 2010 die Aufgabe, den Politikwechsel der Agenda 2010 in die Partei zu erklären und zu kommunizieren – was ihm bekanntlich nur leidlich gut gelungen ist. Nicht überliefert jedenfalls ist, dass er diese Politik national für problematisch und für nicht verallgemeinerungsfähig in Europa hielt.
Der andere Eckstein deutscher Europapolitik wurde 2009 auf ziemlich mirakulöse Weise gesetzt: die so genannte Schuldenbremse wurde als zentrales Ergebnis der Kommission für die Föderalismusreform II, die ursprünglich ein ganz anderes Thema hatte, präsentiert. Mit der einschlägigen Gesetzgebung, tief ins Grundgesetz hinabgesenkt und dort die letzten Reste des Keynesianismus auslöschend, wird dem Gesamtstaat nur noch eine minimale Kreditaufnahme ermöglicht, den Ländern wird jede Kreditaufnahme untersagt, was dem Föderalismus, das nur nebenbei, den endgültigen Todesstoß versetzte. Mitten auf hoher See, sozusagen im Auge des Orkans beschloss die damalige Große Koalition – ohne jede Not, ohne jeden Anlass und fast aus heiterem Himmel – dem Staat das einzige wirtschaftspolitische Instrument in Krisenzeiten aus der Hand zu schlagen und einer dubiosen Regel zu unterwerfen. Das geschah 2009, mitten in der Zeit, als man gerade unter Missachtung jeder diesbezüglicher Regeln durch Kreditaufnahme und aktive Konjunkturpolitik die schlimmsten Folgen der globalen Finanzkrise bekämpfte. Der neue Finanzminister gefiel sich in der Folgezeit in Lobpreisungen der Schuldenbremse und soll sich zu dem Satz „Die Schuldenbremse ist links“ verstiegen haben.
In der darauffolgenden Periode, ab 2009, wurde die Sozialdemokratie in die Opposition beordert. Ihr damaliger Finanzminister hatte noch im Wahljahr, als sich Unruhen um Griechenland andeuteten, versucht, durch kommunikative Signale die Finanzmärkte zu steuern. Als dann die schwarzgelbe Koalition die Regierung übernahm, war es damit vorbei, die europäische Krise in der Währungsunion baute sich nach und nach auf. Kanzleramt und Finanzministerium übernahmen das Steuer in der Antikrisenpolitik. Nicht bekannt aus jener Zeit ist, dass die sozialdemokratische Opposition das Konzept der schwarzgelben Antikrisenpolitik grundsätzlich hinterfragte, die Folgen – Spaltung Europas, Verelendung in Griechenland – ja, das Konzept nicht. Schon gar nicht bekannt wurde, dass die Sozialdemokratie vier Jahre später, wieder an die Hebel der Macht gelangt, die europäische Wirtschaftspolitik Deutschlands, weiter aus dem Finanzministerium gesteuert, maßgeblich mitgestalten wollte. Eher vermittelte sich der Eindruck, dass man im Grundsatz diese Politik für die richtige hielt.
Warum angesichts dieser Vergangenheit, so mag man sich fragen, hat die Union so gehadert, als sie das Finanzministerium zurück in sozialdemokratische Hände legen musste. Gehadert haben vielleicht die Unwissenden. Die Wissenden zimmern sich vielleicht eine andere Erzählung. Die Erzählung nämlich, dass der neue sozialdemokratische Finanzminister jetzt das entsorgen muss, was sein Vorgänger, der aus dem Amt des deutschen Finanzministers das des Europaministers gemacht hat, an die Wand gefahren hat. Die Länder der Währungsunion werden, angesichts des sehr mauen Wachstums bei der nächsten Krise an nämlicher Wand stehen und angesichts Schuldenbremse in Europa, Strangulierung der Nachfrage und Unterwerfung unter das Haftungsprinzip nicht viele Auswege aus der Krise finden. Der jetzige Parlamentspräsident jedenfalls hat die Haftungsübernahme für seine Politik als Finanzminister der letzten acht Jahre verweigert und sich in die Büsche geschlagen.
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Was ist nun von dem neuen sozialdemokratischen Europaminister zu erwarten? Ein Teil der Antwort findet sich in den Erzählungen aus der Vergangenheit. Seine weltanschaulichen Überzeugungen sind, so besagen diese Erzählungen, in der Wolle gefärbter deutsch-europäischer Neoliberalismus. Das allerdings mehr auf der politisch-praktischen Ebene, von grundsätzlichen oder konzeptionellen Überlegungen zur Wirtschaftspolitik wird nichts berichtet. Aber es gibt ja noch ein anderes Tableau, den Koalitionsvertrag, vielleicht haben die gewieften Europäer Schulz und Juncker dort etwas hinterlegt, das dem neuen Minister für die europäischen Angelegenheiten eine Richtschnur sein könnte, etwas mit dem er sich von der neoliberalen Zwangsjacke befreien könnte.
Den weitaus größten Teil bestreitet im Textabschnitt zu „Europa“ die Modalverb-Lyrik des „Wir wollen“. Dort findet man vom – Überraschung – „gestärkten Europäischen Parlament“ bis zum „Marshallplan für Afrika“ so ziemlich alles, was en vogue ist und was man sich auf den europäischen Wunschzettel notieren kann. Für eine ernstzunehmende Positionsbestimmung in Sachen zukünftiger Europapolitik fällt dieser Teil aus. Und was enthält das Papier an Substanz? Es sind vier Punkte.
- „Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit.“ Manchmal kann es auch sinnvoll sein, Plattitüden kraftvoll und mit großer Pantomime auszusprechen. Nach dem Brexit wird eine Lücke im EU-Haushalt gerissen, die es auszugleichen gilt. Im Wesentlichen werden das die Nettozahler stemmen müssen. Kein Mensch bei Verstand kann angesichts der Herausforderungen für die EU einem „schlanken Haushalt“ das Wort reden.
- „Dabei (Bezug auf den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen, d.Verf.) befürworten wir auch spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Eurozone, die Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone sein können.“ Was immer dieses Kauderwelsch bedeuten soll, dass aus dem normalen EU-Haushalt spezielle Haushaltsmittel für die Eurozone abgezweigt werden können/sollen, ist wohl eine Schnapsidee. Und überhaupt: Was ist das denn, ein „Investivhaushalt“? Nichts zur Mittelherkunft, nichts zum Zweck.
- „Den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wollen wir zu einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, der im Unionsrecht verankert sein sollte.“ Einmal abgesehen davon, dass die EU-Kommission diesbezüglich schon Ende vergangenen Jahres einen Verordnungsentwurf vorgelegt hat, also im Koalitionsvertrag nicht etwas Neues vorgeschlagen wird – nicht ein konkreter Aspekt bezogen auf den EWF wird angesprochen, nichts zu seiner Struktur, nichts zu seiner Perspektive, nichts zu seinem Stellenwert. Hier und an anderer Stelle bleibt völlig ausgeblendet, dass eine solche Reformmaßnahme mit ziemlicher Sicherheit einer Vertragsveränderung bedürfte und nicht, wie von der Kommission intendiert, auf dem Verordnungswege zu haben ist.
- Und um die neoliberale Seele weiter zu balsamieren, werden noch einmal – zum wievielten Mal eigentlich? – betont: „Dabei bleibt der Stabilitäts- und Wachstumspakt auch in Zukunft unser Kompass… Zugleich muss auch künftig das Prinzip gelten, dass Risiko und Haftungsverantwortung verbunden sind.“ Das, was sich immer mehr als Hemmschuh für eine perspektivische Entwicklung der Eurozone herausstellt, wird hier noch einmal als gelangweiltes Mantra ins Schaufenster gestellt. Dass das Haftungsprinzip zu den übelsten, stockreaktionären und zu widerlichem Nationalismus führenden Begrifflichkeiten der Eurodebatte der vergangenen Jahre gehört, ist den sozialdemokratischen Verhandlern nicht aufgefallen.
Das ist tatsächlich alles, was der Koalitionsvertrag konkret an Europapolitik hergibt. Im Élysée-Palast wird man die Augen gerollt haben, nachdem man das gelesen hatte. Diese vier erbärmlichen Beiträge haben sich die deutschen Koalitionäre sozusagen als Antwort auf die Sorbonne-Rede Macrons ausgedacht. Was immer man gegen diese Rede einwenden mag, sie entfaltet in jedem Fall eine innere Kraft, wird von einer wirklichen Überzeugung getragen und bringt eine Reihe, teils origineller Vorschläge vor. Daran gemessen ist der europapolitische Teil des Koalitionsvertrages eine Blamage von pazifischen Ausmaßen. Um mit den Macron-Vorschlägen halbwegs gleichberechtigt in Kontakt zu treten, hätte der Koalitionsvertrag mit Blick auf die Währungsunion wenigstens als Perspektive oder Fragestellung aufwerfen müssen, wie aus der Sackgasse der Austeritätspolitik, der Nord-Süd-Spaltung und der Haftungsideologie herauszukommen ist.
Was sagt uns das in Hinblick auf die zu erwartende Debatte um die Reform der Währungsunion? Auf der Etage der Spitzenpolitiker, die diesen Vertrag ausgehandelt und aufgeschrieben haben, hat keiner auch nur eine vage oder blasse Vorstellung davon, wie die europäischen Krisen, insbesondere jene der Währungsunion überwunden werden können. Damit wird sich eine Tendenz verstärken, die sich in Deutschland bereits in der Eurokrise 2010 formte: Es sind kleine Zirkel der subalternen Staatsebenen, welche die Politik und ihre Richtung bestimmen, kleine Zirkel von Experten und Fachleuten, weitgehend frei von perspektivischen und konzeptionellen Vorgaben der oberen politischen Ebene – wie in Frankreich.
Aber es gibt noch eine letzte Hoffnung. Und diese Hoffnung hält dafür, dass man in einen Koalitionsvertrag nicht das hineinschreibt, was man als Vorhaben im Kopf hat. Wer weiß, was der neue Europaminister alles an Ideen für den neuen Aufbruch für Europa noch in der Hinterhand hat.