Klaus von Dohnanyi, Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, Siedler Verlag, München.
Der Titel kündigt es an, nationale Interessen sind für Dohnanyi der Schlüsselbegriff für die Analyse der internationalen Beziehungen. Er vertritt in dem Buch, das vor Ausbruch des Ukraine-Krieges erschienen ist, Thesen, die, wie wir sehen werden, für den einschlägigen Mainstream in Deutschland vom Gottseibeiuns stammen könnten und allesamt auf den historischen Müllhaufen gehören. In einer der aufgeputschten Talkshows nach Ausbruch des Krieges hat Dohnanyi aber standhaft zu Protokoll gegeben, dass er nichts von seinen Ausführungen zurücknehmen müsse.
In Kapitel II („Deutschland und Europa zwischen den Interessen der Großmächte“) entwickelt Dohnanyi zunächst den Gedanken, dass der Nationalstaat das „Fundament“ (22) bilde, auf dem die Interessen ermittelt werden müssten. Beachtlich ist dann die erste Konkretisierung, dass der Begriff der nationalen Interessen in Demokratien auf Subjektivität beruhe. Den Begriff der „Wertegemeinschaft“ hält er für „schwammig“ (23). „Interessen“ haben etwas mit historischen Überzeugungen zu tun, erfährt der Leser weiter, und elementar sei das Ausmachen der Interessen anderer Nationen, hier: der USA, Chinas und Russlands.
Für die USA hält Dohnanyi u.a. fest, dass sie an einer „angeborenen Schwäche als ‚exzeptionelle‘ Nation“ leide (30), deren Tradition es sei, die „Verschleierung ihrer Machtinteressen mit humanitären Argumenten“ (31) vorzunehmen. Ergo: „Die Interessen der USA sind immer hart geopolitisch, ökonomisch und tief verwurzelt in ihrem Selbstverständnis als ‚exceptional nation‘“ (ebd.). Seit dem 19. Jahrhundert gäbe es eine „imperialistische Grundlinie US-amerikanischer Außenpolitik“ (32). Europa sei im Verständnis der US-Außenpolitik lediglich ein „Brückenkopf“ (Zbigniew Brzezinski), zugespitzt gelte: „Europa muss sich endlich eingestehen: Wir Europäer sind Objekt US-amerikanischen geopolitischen Interesses und waren niemals wirklich Verbündete, denn wir hatten nie ein Recht auf Mitbestimmung“ (37).
Wer bei klarem außenpolitischem Verstand wollte dem widersprechen? Außer natürlich der neuen Fast-Allparteien-Koalition in Deutschland, die vor und nach der russischen Intervention einer geopolitischen Amnesie erlegen war. Auch das gehört zur Zeitenwende.
Als „Kern der chinesischen Interessen“ konstatiert Dohnanyi, dass diese „vermutlich nicht auf eine militärisch gestützte Expansion gerichtet“ seien (43). Die USA wollten Europa in ihren Weltmachtkonflikt als Teil der westlichen „Wertegemeinschaft“ einbeziehen, was aber nicht im deutschen und europäischen Interesse liegen könne (46). Dass Europa den USA bei der Eindämmung Chinas behilflich sein könnte, hält der Autor nicht nur für unrealistisch, sondern für „höchst gefährlich“ (52). Der „konfrontative Kurs der USA“, „Bidens China-Doktrin“ seien ein weiterer „gefährlicher Fehler des Westens“ (53). Eine Wiederherstellung der „Weltmacht“ USA mit deutscher und europäischer Hilfe läge nicht in deutschem und europäischem Interesse (54). „Aus der Sicht des von bitteren Erfahrungen geprägten Europa ist die Konfrontation der USA mit China, die Trump begann und die Biden nun leider verschärft und unerbittlicher vorantreiben will, eine Tragödie“ (54). Kooperation in Asien, nicht Konfrontation sei angesagt. Wenn in Asien eine Kriegsgefahr drohe, dann eher wegen den USA (55 f.). Wenn Europa etwas für die USA tun könne, dann sie davon zu überzeugen, sich zu mäßigen (56).
Der Leitgedanke zu Russland findet sich gleich am Anfang des Unterkapitels: „Die Beziehungen Deutschlands und der EU zu Russland werden von den USA so einseitig dominiert wie gegenüber keinem anderen Land der Welt, auch nicht gegenüber China“ (57). Einige Passagen weiter findet sich folgender interessanter Vergleich: Russland kann „seine autokratische Tradition vermutlich ebenso wenig über Nacht ablegen wie die USA ihre Überzeugung, als die ‚auserwählte‘ Nation ein Recht auch auf eine gewaltsame Gestaltung einer Weltordnung in ihrem Sinne zu haben“ (59). Und für die in dieser gegenwärtigen Zeit allüberall wandelnden Prediger des Völkerrechts gibt Dohnanyi zu bedenken: Die USA haben in ihrer Geschichte schon häufig genug das Völkerrecht gebrochen, z.B. bei der Anzettelung des zweiten Irak-Kriegs. Und so paradox es klingen mag: Die russische Syrienpolitik entsprach dem Völkerrecht, während die militärische Unterstützung der Aufständischen (zu großen Teilen aus Terroristen bestehend) in Syrien durch die USA völkerrechtswidrig war.
Ausführlich geht der Autor auf die Frage der Osterweiterung, besser Expansion der Nato ein. Ehemalige US-Botschafter in Moskau werden in den Zeugenstand gerufen, die das alle für hochproblematisch hielten und davon abrieten, auch Hans-Dietrich Genscher, der ein Gegner der Osterweiterung war und James Baker, der US-Außenminister, der Michail Gorbatschow 1990 versicherte, dass es über Deutschland hinaus, keine Osterweiterung der Nato geben würde. Dohnanyi wundert sich, warum das in Deutschland „verschwiegen“ (67) wird. (Die Zusicherung des Westens materialisierte sich übrigens im Zwei-plus-Vier-Vertrag: dort wurde verfügt, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR weder Atomwaffen gelagert noch Nato-Truppen stationiert werden dürfen.) Nach der russischen Invasion in der Ukraine wird er sich über die Relativierungskünstler wundern, die die Zusicherung des Westens herunterhistorisieren und aus einer anderen Zeit stammend relativieren. Tatsächlich war es dann so, dass im um sich greifenden Siegestaumel unter der Clinton-Regierung die Osterweiterung bis an die russische Grenze vorangetrieben wurde. Der in den USA (und anderswo) bestehende Glaube, zu jedem historischen Zeitpunkt stelle sich die Frage von Freiheit und deren Gegenteil hält Dohnanyi für einen „grundsätzlichen Irrtum“ (70). Demokratie habe ihre Voraussetzungen, Dohnanyi nennt „gesellschaftliche Entwicklungen“ (71), mehr noch, so ließe sich hinzufügen, materiell-wirtschaftliche. Und abschließend: „Es waren die USA, die nach 1990 ohne wirklichen Grund die Konfrontation mit Russland fortsetzten“ (73).
Gibt es überhaupt eine transatlantische Wertegemeinschaft zwischen den USA und Europa, fragt Dohnanyi auf Seite 75. Die Antwort fällt eindeutig aus: „Das heutige Europa und die heutigen USA sind sich in ihren Werten zutiefst fremd“ (80). Als schlagende Argumente führt der Autor u.a. an: In den USA, in der Wahlkampf nur mit Hunderten von Millionen Dollar geführt werden könne, herrsche eine „plutokratische Demokratie“ (76). Der Unterschied zu oligarchischen Systemen verschwimmt. Schon fundamentale sozialstaatliche Interventionen (Obama Care) sind nicht durchsetzbar. Die exzeptionelle Nation unterwirft sich „natürlich“ nicht dem Internationalen Strafgerichtshof, „targeted killing“ im Ausland ist völlig unhinterfragt und wird von den Priestern des Rechtsstaats und Völkerrechts wohlwollend hingenommen. Nicht einmal Freundschaft herrsche mehr zwischen Europa und den USA. Gegenüber Europa werde rücksichtslose Interessenpolitik (Ausbootung Frankreichs bei U-Boot-Geschäft mit Australien) und Spaltungspolitik (Irakkrieg, Nord stream 2) betrieben. Und schließlich ein interessantes Gedankenexperiment: „So wie die USA ihre Werte leben und wie sie sich selbst verstehen, könnte die EU sie als Mitglied gar nicht aufnehmen“ (80). Wird über so etwas im wertegeleiteten Europa eigentlich nachgedacht?
In Kapitel III („Kein Frieden für Europa?“) beschäftigt sich Dohnanyi zunächst mit der Frage des militärischen Schutzes Europas durch die Nato. Er hält zunächst fest, dass die USA diesbezüglich die Entscheidungen in eigener Hand behalten. Die Grundlage für deren Entscheidungen bilde nach wie vor die Strategie der „flexible response“. Der Autor zitiert Biden: „Solange nicht die USA selbst angegriffen werden, wird ein Einsatz der Atombomben nicht erfolgen“ (91). Daraus folgt u.a., dass bei einer terrestrischen Aggression Russlands die von den USA in Europa gelagerten Atomwaffen nicht zum Einsatz kämen. „Flexible response“ bedeute, dass das Kriegsgeschehen ausschließlich in das angegriffene Gebiet verlagert würde. „Ein Krieg zwischen den USA und Russland würde wegen der Interessenlagen der Großmächte nur auf europäischem Boden und letztlich immer nur terrestrisch, also ohne strategische Nuklearwaffen stattfinden“ (94 f.). Für Europa sei die atomare Teilhabe „überflüssig“, sie diene nur den USA, wenn diese angegriffen würden. „Dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag jedoch weiterhin davon ausgeht, dass Europa nuklear verteidigt werde, ist angesichts der nun über sechzig Jahre alten ‚flexible response‘-Strategie völlig unverständlich. Wir müssen keine Kampfflugzeuge beschaffen, um nukleare Sprengköpfe zu transportieren, die nur zur Verteidigung der USA gedacht sein können“ (96 f.). Genau das hat die Ampelkoalition aber im Rahmen des Sondervermögens für die Bundeswehr getan: Ein Großteil der 100 Mrd. Euro fließt in den Kauf US-amerikanischer Jets, was die USA (und ihre Rüstungsindustrie) zufrieden stellen wird. Die Selbstunterwerfung Europas und Deutschlands könnte kaum größer sein. – „Dauerhafte Sicherheit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland geben“ (97). All den Putin-Hassern und -Dämonisierern wird es nicht passen: Der Satz gilt auch nach Beginn des Ukraine-Krieges und unabhängig von seinem Ausgang.
Ausführlich geht Dohnanyi erneut auf die Frage des Nato-Beitritts der Ukraine ein. Er zitiert die zahlreichen Stimmen von US-Sicherheitsexperten, die davor gewarnt hatten, u.a. William J. Burns, ehedem Botschafter in Moskau, heute CIA-Chef: Die Aufnahme der Ukraine in die Nato sei eine „direkte Herausforderung russischer Interessen“ (109). Oder auch Brzezinski, der als „beste Kompromissformel“ empfahl, „dass die Ukraine sich am Status Finnlands orientiert“ (104). Und die Zusicherung Bakers, dass der Westen nicht daran denke, die Nato nach Osten zu erweitern. Aber: Die Expansion der Nato sei in der US-Politik zu einem „Autopiloten“ (109) geworden. Ohne den Beschluss von Bukarest (2008), mit dem der Nato-Beitritt grundsätzlich angeboten war, so spekuliert Dohnanyi, hätte es die Annexion der Krim (2014) wahrscheinlich nicht gegeben (100). Dennoch: Am 14. Juni 2021 beschloss der Nordatlantikrat auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs: „Wir bekräftigen unseren auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest gefassten Beschluss, dass die Ukraine ein Mitglied des Bündnisses wird“ (104). „Wird“, nicht werden kann! Warum sind Olaf Scholz und Emmanuel Macron von der europäischen Beschlusslage von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy (2008) abgerückt? Schon damals bestand die Möglichkeit, einen solchen Beschluss zu verhindern. Die in den Wochen vor Ausbruch des Krieges von Dohnanyi geäußerte Hoffnung, dass Frankreich und Deutschland ihre außenpolitische Aufgabe – Entspannung und Kooperation mit Russland und einen „Strategiewandel“ (110) durchzusetzen – wahrnehmen (110), wurde nicht erfüllt. Stattdessen unterwarf man sich einer US-Politik, die die Konfrontation mit Russland zu ihrem täglichen „Abendgebet“ (111) macht. Ein einziges Versagen Europas: „Solange die USA im Konflikt mit Russland die außenpolitische Entscheidung alleine in der Hand haben, gibt es kein souveränes Europa“ (106 f.). Und für die Studenten des Völkerrechts, die im Grundstudium noch Völkerrecht mit Geopolitik verwechseln – oder auch Sein und Schein oder auch Sagen und Meinen –, sei folgende Feststellung Dohnanyis anempfohlen: „Das Interesse der USA an der Ukraine, wie letztlich auch an allen anderen osteuropäischen Regionen, ist eben nicht ein Engagement für Menschenrechte oder Demokratie, sondern Teil einer geopolitischen Strategie der Eingrenzung Russlands“ (106). Dient es den geopolitischen Interessen, sind die USA auch zu Zusammenarbeit mit den finstersten Regimen bereit.
Mit der Frage, ob Europa eine souveräne militärische Macht werden könne, schließt das Kapitel. Hier zeigen sich einige Ungereimtheiten. Zunächst betont Dohnanyi, dass die Nato den einzigen Schutz Europas bilde und das solle auch so bleiben, allerdings einer „nachdrücklich um Entspannung bemühten Nato“ (112). Wer aber im „Abendgebet“ Konfrontation beschwört, wacht am Morgen nicht auf und beginnt den Tag mit Entspannungsvorsätzen. Kann die EU Souveränität in der Sicherheitspolitik gewinnen und zu einer gleichwertigen Militärmacht werden, fragt der Text weiter. Frankreich jedenfalls müsste „die Führungsrolle in Fragen militärischer Sicherheit überlassen“ (113) werden. Hier tun sich Fragen auf. U.a. diese: Vor der Arbeitsteilung, dass Frankreich die militärische und Deutschland die wirtschaftspolitische Führungsrolle übernimmt, kann aus vielen Gründen nur gewarnt werden. Die nukleare Teilhabe Deutschlands oder Europas – von Dohnanyi gar nicht erwogen – oder gar der Aufbau eines Schutzschildes für Europa durch Frankreich, sei unrealistisch. Frankreich würde bei einem terrestrischen Angriff auf Osteuropa die Force de frappe nicht einsetzen, genau so wenig wie die USA ihre nuklearen Kapazitäten. Das zentrale Ergebnis seiner Überlegungen in diesem Abschnitt fasst der Autor so zusammen: „Europa kann durch militärische Kraft, sei es die der EU oder die der von den USA beherrschten Nato, nicht wirklich gesichert werden. Das Ziel Europas muss am Ende eine allianzneutrale Position sein“ (119). Nicht einmischen in Konflikte der Großen sei der zu empfehlende Kurs. Wie aber gehen „allianzneutrale Position“ und Beistandsverpflichtung in der Nato zusammen? Das lässt Dohnanyi offen.
Kapitel IV, „Die Europäische Union als deutsche Aufgabe“, enthält ein leidenschaftliches Plädoyer Dohnanyis für den Nationalstaat. Nur der „soziale Nationalstaat“ (160) verfüge über die demokratische Legitimation in Europa für politische Gestaltung. Dass dieser Nationalstaat auf demokratischer Basis auch zu perversen Entscheidungen kommen kann, sei nur am Rande vermerkt. Das Kapitel enthält wenig Argumentation und wenig Differenzierung, dafür mehr Begriffshuberei und Statuierung. Der Autor erweist sich als eine Art postmoderner Gaullist (127 ff.). De Gaulles „Europa der Vaterländer“ aus den sechziger Jahren gab ihm wohl die entscheidende politische Sozialisierung. Die EU sei ein Staatenbund (135) souveräner Nationalstaaten, das Ziel eines Bundestaates Europa (wie im Koalitionsvertrag der Ampel formuliert) hält er nicht für ein geeignetes politisches Projekt, man solle eine „Konföderation“ anstreben: „Deutschlands nationales Interesse in Europa sind deswegen eindeutig nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern es ist eine evolutionär fortschreitende Konföderation“ (141). Was das denn sein sollte, die „Konföderation“, schlummert im Himmel der Begriffe. Deutschland solle „bis auf Weiteres“ auf seinem Veto-Recht in Grundsatzfragen bestehen – also keine Mehrheitsentscheidungen, Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit. Kommission und Parlament – allesamt undemokratische Institutionen (152) – stehen unter dem Grundsatzverdacht übergriffigen Einflusses („grassierende Zentralisierungstendenzen der EU-Institutionen“, 147).
Wenn es in die Ökonomie geht, findet man in dem Text offen Unsinniges. Kein Mitgliedstaat käme je auf die Idee, seine Haushaltsentscheidungen der EU zu überlassen (140). Dass Griechenland und die anderen Programmländer in der Eurokrise und den Jahren danach das schiere Gegenteil erfahren mussten, vergisst der Geopolitiker Dohnanyi, der ansonsten gerne mit den Begriffen der Macht argumentiert. Die Antikrisenpolitik Merkels qualifiziert er als nicht machtbasiert, sondern eine des „gesunden Menschenverstandes“ (142). Dass Merkels Politik in einem Totaldesaster endete, entgeht dem Autor. Den Neoliberalismus hält er für „eine flexibilisierte ‚unternehmerische‘ Antwort der Staaten als Wettbewerber auf den Weltmärkten“ (145). Ansonsten findet man in dem Kapitel – Rodrick, Habermas, Crouch, Streeck etc. zitierend – eine verhaltene Kritik an der Globalisierung, die sozial abgefedert werden müsse.
Den Gipfel des Unsinns erklimmt Dohnanyi aber mit diesem Satz: „Wer Deutschlands ökonomische Entwicklung behindert, zerstört die EU“ (152). Das ganze Elend des Denkens in nationalstaatlichen Kategorien bricht sich hier Bahn. Wer nicht in Zusammenhängen denkt, ist selbst dran schuld. Dass Deutschlands ökonomische Erfolge (Interessen), gerade im Vorlauf der Eurokrise, auf Kosten (Interessen) anderer Länder gingen, entgeht dem Autor. Die Formulierung von Interessen und die dazu gehörende Durchsetzung derselben können nie die letzte Kategorie sein. Es kommt immer auf den Ausgleich der Interessen an, und das setzt, um in Dohnanyis Kategorien zu bleiben, Kooperation voraus, genau das ist europäische Integration. Und hier spielen Macht, Größe und Entwicklungsstand eine Rolle und, wie er an anderer Stelle häufig argumentiert, das Verständnis für die Interessen anderer, die über weniger Macht, Größe und einen geringeren Entwicklungsstand verfügen. Genau das tut Deutschland mit seinem ökonomischen Entwicklungsmodell nicht. Exporte setzen Importe auf der anderen Seite voraus, aber alle Staaten würden als Interesse formulieren, zum Exporteur zu werden. Die Formulierung (und Durchsetzung) nationaler Interessen, wofür Dohnanyi plädiert, führt also nicht weiter. Sie führt umgekehrt zurück auf die Konsistenz und Tragfähigkeit der jeweils formulierten Interessen. Für die Großen und Mächtigen bedeutet das, die Interessen der anderen mit in das Kalkül einzubeziehen. Einseitige Interessenformulierung führt in die Sackgasse.
In Kapitel V („Europa auf dem Wege zu einer Wirtschaftsmacht?“) hält Dohnanyi zunächst fest, dass Europas Zukunft und Einfluss auf die Weltpolitik „nie wieder (Herv.d.Verf.) auf militärischer Macht, sondern nur noch auf seinem wirtschaftlichen und sozialpolitischen Potenzial gründen kann, seinem unternehmerischen Ehrgeiz“ (163). In diesem Zusammenhang konstatiert er eine verfehlte europäische Wirtschaftspolitik: Die Kommission betreibe keine wirksame Industriepolitik (zu enge Auslegung der Beihilferegelung) und die Wettbewerbspolitik lasse sich von bornierten nach innen gerichteten Kriterien leiten und beachte nicht die globalen Verhältnisse (Beispiel: Verhinderung der Fusion von Siemens und Alstom im Bereich der Bahnindustrie). – Dem kann man einigermaßen zustimmen.
Eindringlich fragt Dohnanyi anschließend, was denn nun die deutschen Interessen und die deutsche Identität sein könnten. Die Antwort ist verblüffend: „Der Sozialstaat im Verbund mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft – das ist .. heute im Kern deutsche Identität und deutsches Interesse… Hier, im wettbewerbsfähigen Sozialstaat, schlägt das Herz der deutschen Nation“ (180). Und: „Was für Frankreich heute noch die Französische Revolution oder für Großbritannien die Erinnerung an das Weltreich ist, das sind für Deutschland die Traditionen des Sozialstaates“ (184). Man muss das übersetzten: Es geht um die deutsche Exportindustrie, die angeblich den deutschen Sozialstaat finanziert. Diese Mär wird auch von Arbeitgeberpräsidenten verbreitet. Dass es andere Staaten gibt, die ihren Sozialstaat nicht über Exportbesessenheit finanzieren, bleibt außer Betracht. Im Übrigen: Das Hohelied, das Dohnanyi über den deutschen Sozialstaat intoniert, stimmt mit den Realitäten nicht überein, weder historisch noch in der Gegenwart. Als die EWG gegründet wurde, stemmte sich die Bundesrepublik massiv gegen eine Anhebung der sozialstaatlichen Standards auf das Niveau Frankreichs. Ludwig Erhard als den „Erfinder“ der Sozialen Marktwirtschaft zu feiern (179), ist geradezu ein Witz. Erhard wehrte sich entschieden gegen Konrad Adenauers Projekt der Einführung einer umlagefinanzierten gesetzlichen Rente (1957). Was Erhard meinte, war die Marktwirtschaft, die an sich schon sozial sei, der Aufbau eines Sozialstaates kam ihm nicht in den Sinn. Aber der Witz lässt sich nicht ausrotten. In der Gegenwart gehört Deutschland zu den Bremsern der Anhebung sozialstaatlicher Standards im europäischen Kontext und versucht, europäische Sozialpolitik auf Teufel komm raus im Bereich des Symbolischen zu halten. Also: der „wettbewerbsfähige Sozialstaat“, was immer das sein soll, kann nicht herhalten als deutsches Interesse und als deutsche Identität. Es sei denn, Dohnanyi meint damit Schröders Agenda 2010, in deren Rahmen der größte Umbau des Sozialstaates in der deutschen Nachkriegsgeschichte mit den bekannten Auswirkungen erfolgte.
Abschließend für dieses Kapitel fragt Dohnanyi, welches „mehr“ Europa im deutschen Interesse liege. Der unterliegende Leitgedanke ist dabei, dass es eine „‘Anweisungsdemokratie‘ aus Brüssel“ (187), „einseitig zentralistische Strategien“ von dortselbst (188), eine „‘Axt‘ aus Brüssel“ (196) gäbe, die nationalstaatliche Interessen niederhieben würden. Der einst in grauen Vorzeiten in einem bundesdeutschen Ministerium für europapolitische Fragen zuständige Politiker ist bar jeder Ahnung über den europapolitischen Kontext. Mit Brüssel meint er in erster Linie die Kommission. Dohnanyi hat – wie viele rechts und links von ihm Stehende – nicht den Ansatz von Verständnis über die europäischen Funktionsbedingungen: Er will nicht verstehen, dass die Kommission nichts weiter ist als Vollzugsorgan nationalstaatlich im Europäischen Rat vorgegebener Entscheidungen, ein „Helferlein“ der Nationalstaaten ohne jede politische Entscheidungsbefugnis. Geradezu grotesk ist, wenn er als (leuchtende) Beispiele für heroische Abwehrkämpfe in nationalen Bundesstaaten gegen Zentralismus u.a. anführt, dass die Schweiz, die 1971 auf Bundesebene das Frauenwahlrecht eingeführt und darauf verzichtet hat, es in einzelnen Kantonen umzusetzen, dort ist es erst 1990 eingeführt worden. Weitere seiner grandiosen Beispiele: die Todesstrafe in einzelnen Bundesstaaten der USA, die stockreaktionäre Politik in Ungarn und Polen. Wenn man sich einen zentralistischen Durchgriff wünschen würde, dann gerade in diesen Fällen. Dass sich Dohnanyi dann noch für die Einführung einer Staatsinsolvenz in der EU (203) stark macht – wo ihm doch die Nation das Erhabenste ist –, setzt der ganzen Konfusion noch die Krone auf.
Im letzten Kapitel fasst Dohnanyi sein Buch in zehn Punkten zusammen:
- Die größte Herausforderung bestehe in der Bekämpfung der Folgen des Klimawandels, Militärisches habe demgegenüber zurückzustehen. Die Ampel hat sich bekanntlich für das Gegenteil entschieden.
- Die Arbeitsmärkte veränderten sich tiefgreifend, die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sei notwendig – alles wenig konkret.
- Die Nato sollte zu einer aktiven Entspannungspolitik übergehen, insbesondere gegenüber Russland. Die sinnlosen Sanktionen sollten aufgehoben werden und eine Zusicherung, dass die Ukraine kein Mitglied der Nato wird, formuliert werden. Auch hier ist das Gegenteil eingetreten.
- Die Gemeinschaft mit Frankreich sei zu vertiefen, insbesondere in der Sicherheitspolitik, Frankreich sollte auf diesem Gebiet der Vortritt überlassen werden.
- Die Nato sollte auf Entspannungspolitik umschalten und ihre Kräfte auf die Bekämpfung des Terrorismus konzentrieren, nicht die Ausweitung ihrer konventionellen Kräfte. Das Gegenteil ist eingetreten.
- Nicht im Interesse Deutschlands und Europas wäre, den USA in ihrer Konfrontation mit China zu folgen. Als mehr denn je hörige Vasallen der USA wird das wohl nicht gelingen.
- Von einer Instrumentalisierung der Menschenrechte in der Außenpolitik sei abzuraten. Pragmatismus, nicht „moralisierende Selbstbestätigung“ (219) sei gefragt. Das Gegenteil ist eingetreten, der hochfahrende Moralismus im deutschen Außenministerium kennt keine Grenzen mehr. Er befindet sich auf Himmelfahrt.
- Zentralismus und Bürokratismus in der EU seien Grenzen zu setzen. Eine Fata Morgana. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erfordere Freiheit und Deregulierung. Neoliberalismus pur.
- Die EU dürfe nicht zu einem Bundesstaat oder Zentralstaat werden. Als seien solche Bestrebungen tatsächlich in der Wirklichkeit vorhanden.
- In Deutschland und Europa sei diplomatische Schulung notwendig – naja.
Dohnanyi hat ein geopolitisch hochaktuelles Buch geschrieben, das hilft, die geopolitischen Verwurmungen in deutschen und europäischen Gehirnen einzudämmen. Dass er europapolitisch Hänsel-und-Gretel-Erzählungen folgt, mindert seinen Wert nicht im Geringsten.