Olli Rehn, Die Rettung des Euro. Was wir aus der Krise lernen können, o.O. 2021
Unbedingt zugutehalten muss man Olli Rehn seine Selbstironie. Auf Seite 316 findet sich ein Foto von Alexis Tsipras und ihm, das mit einem Zitat von Yanis Varoufakis versehen ist: darin wird er so qualifiziert: „ein analphabetischer, gelber Befehlsempfänger der dritten Kategorie“.
Rehn war Mitglied des Europaparlaments, dort Angehöriger der liberalen Fraktion, zwischen 2004 und 2014 Mitglied der Kommission, während der Eurokrise zuständig als Kommissar für Wirtschaft und Währung, seit 2018 Gouverneur der finnischen Zentralbank. Seine Positionen ließen sich als einer Art „aufgeklärtem Neoliberalismus“ verpflichtet charakterisieren, so manchem Marktradikalen in Deutschland ließen sie einen Schauer über den Rücken laufen.
Das Buch umfasst 417 Seiten und gliedert sich in 19 Kapitel und ein Nachwort. Im Mittelpunkt steht die so genannte Eurokrise von 2010 bis 2012, ihre Vorgeschichte, ihr Verlauf und ihre Nachgeschichte. Die zentralen Stationen der Krise werden herausgearbeitet. Es hat einen analytischen Anspruch und bezieht viele Thesen, Theorien und Einschätzungen von Akteuren der Eurokrise mit ein. Leitfaden ist die makroökonomische Analyse, die es versucht mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen zu verknüpfen.
Der Spaziergang von Deauville
Im Herbst 2010, als die Finanzierung Griechenlands nach langem Zögern und Hinhalten Deutschlands gesichert war, kochte die Banken- und Immobilienkrise in Irland, das Rehn einen „verwilderten keltischen Tiger“ nennt, hoch. Das Land, seit 1973 Mitglied in der EG, hatte sich aus tiefer Armut dank europäischer Hilfen und Steuerdumping (12,5 Prozent Körperschaftssteuer) zu einem passablen Wohlstand hochgearbeitet und leistete sich einen völlig überdimensionierten Bankensektor, aus dem im ersten Jahrzehnt der Währungsunion eine Immobilienblase finanziert wurde. In diesem Herbst kletterten die Zinsen auf den irischen Staatskredit in die Todeszone (6-7 Prozent Risikoprämie).
Statt Irland geräuschlos in die „Rettungspolitik“ mit einzubeziehen, machte sich Deutschland, der Dirigent der Eurokrise, daran, die Krise weiter zu verschärfen. Bei dem berüchtigten Spaziergang von Deauville mit Sarkozy erhöhte die deutsche Kanzlerin den Druck auf Frankreich: Man wollte zweierlei, automatische Sanktionen gegen Staaten, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen und eine Beteiligung des Privatsektors bei den Hilfsmaßnahmen durch den EFSF. „Der Deauville-Deal bestand im Wesentlichen darin, dass Deutschland die Aufweichung der halb automatischen Sanktionen akzeptierte und Frankreich im Gegenzug die Beteiligung des Privatsektors an der Vereinbarung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus akzeptierte – die Umschuldung war ein langjähriges Ziel Deutschlands“ (S. 105).
Mit dem ins Auge gefassten „Haircut“ wurde kalkuliert Öl ins Feuer gegossen, die Risikoprämie für den irischen Staatskredit an den Finanzmärkten stieg in Richtung 8 Prozent. Rehn benennt die deutsche Herzensangelegenheit, die er sich nicht in seinen „kühnsten Albträumen hätte vorstellen können“ (S. 104), in all ihrer Problematik („Weltuntergang von Deauville“, S. 93 und „Doomsday“, S.105), banalisiert sie aber, indem er feststellt: „Marktkenntnisse waren an diesem Wochenende Mangelware“ (S. 103). Den damaligen Hardlinern im Kanzleramt kann man alles Mögliche vorwerfen, nur nicht, dass es ihnen unklar war, welche Folgen der geplante Haircut auf den Finanzmärkten haben würde. Es handelte sich, um im Bild zu bleiben, um gezielte Brandstiftung. Es kam, wie es auf Druck der Deutschen kommen musste: Der Haircut bei der Sanierung Griechenlands wurde durchgesetzt, und Irland schlüpfte unter den Rettungsschirm. Erst jetzt verwandelte sich die Griechenlandkrise in eine Eurokrise. Die Dumpingsteuer durfte das Land beibehalten, und die Rettung der irischen Banken wurde großzügig europäisch geregelt (der Haircut bezog sich auf die in Griechenland kreditierenden Banken, nicht auf die irischen). Carlo Bastasin, den Rehn zitiert, bezeichnete die Deauville-Verabredung als „eine raffinierte Art, Selbstmord zu begehen“, auch eine Verharmlosung, da weder der Hauptakteur, Deutschland, noch dessen Motiv, die Umsetzung einer verrückten betriebswirtschaftlichen Regel, des Haftungsprinzips, in die europäische Makroökonomie präzise benannt werden.
Whatever it takes
Im Sommer 2012, so Rehn, kam der „letzte Wendepunkt“ (S. 205) der Krise. Er schildert die letzten fehlschlagenden Versuche aus der Politik, die Krise einzudämmen: die Kapitalaufstockung bei der Europäischen Investitionsbank (EIB), die Einleitung der Bankenunion und die Rettung des spanischen Bankensektors. Die Einrichtung des ESM, der auch keine Entspannung brachte, hat er dabei vergessen. Erst mit Draghis Londoner Whatever-it-takes-Rede sei die Wende eingeleitet worden. Er zitiert Draghis Interview vom 2. August 2012 nach der Rede von London: „Risikoprämien, die mit der Furcht vor der Reversibilität zusammenhängen, sind inakzeptabel, und sie müssen grundlegend angegangen werden. Der Euro ist irreversibel. (…) Der EZB-Rat (…) kann uneingeschränkt Offenmarktgeschäfte in einem Umfang durchführen, der ausreicht, um sein Ziel zu erreichen“ (S. 216). Dass allein die Intervention der EZB als Lender of Last Resort den Anstieg der Risikoprämien für den Staatskredit zunächst zum Stillstand, dann zum Rückgang gebracht hat, will Rehn nicht so deutlich betonen, stattdessen ist ihm wichtig, den eher unwichtigen Nebenaspekt des OMT-Programms, seine Knüpfung an die Konditionalität, die er für „eine voll gerechtfertigte Lösung“ (ebd.) hält, hervorzustreichen. Am Ende seiner Ausführungen (S. 376 ff.) steigert er seine falsche Gewichtung noch dahingehend, dass er die EZB und den ESM als die großen Krisenlöser (auch in der Zukunft) anpreist. Das ist Unfug. Der ESM verfügt über keine „große Bazooka“, hat bei der Krisenlösung nur eine technische Rolle gespielt und ist – gerade wegen seiner Konditionalität – eine Institution ohne Zukunft.
Die Makroökonomische Politik im Sixpack
Rehn, promoviert in internationaler Wirtschaftspolitik, legt ein besonderes Augenmerk auf die innereuropäischen Überschuss-Defizit-Positionen. Schon in der Einleitung hebt er mit Blick auf die von Deutschland durchgesetzte Wirtschaftspolitik – was er so nicht erwähnt – der Eurozone hervor: „Meiner Ansicht nach wäre es besser gewesen, einen dritten Weg zu verfolgen, d.h. eine gleichmäßigere Neuausrichtung der Wirtschaft der Eurozone, bei der die Defizitländer Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung verfolgen, während die Überschussländer die produktiven Investitionen und die Binnennachfrage ankurbeln. Dies war der Policy-Mix, den die Europäische Kommission in den jährlichen Wachstumserhebungen und politischen Initiativen empfahl“ (S. 25). Das klingt für einen Neoliberalen einsichtig und macht Hoffnung.
Das gesamte Kapitel 14 (Überschrift: „Die große Wiederherstellung des Gleichgewichts: Frankreich vs. Deutschland“, S. 265 ff.) ist diesem Kernproblem europäischer Wirtschaftspolitik gewidmet. Die aufkeimende Hoffnung wird aber enttäuscht, der „dritte Weg“ entpuppt sich als ziemlich ausgetrampelter, altbekannter Pfad. Zunächst wirft Rehn Nebelkerzen. Da die Eurozone eine global offene Wirtschaft sei, könne sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse richten, wie es die angelsächsischen Ökonomen täten. Außerdem sei vor dirigistischen Eingriffen zu warnen (S. 268). Vor dem Hintergrund des altbekannten Bildes zur Entwicklung der Lohnstückkosten in der Währungsunion zwischen 1999 und 2017 erfolgt die Feststellung: „Auch wenn sich ein Großteil der Debatte über makroökonomische Ungleichgewichte in letzter Zeit auf Deutschland konzentriert hat, ist es dennoch angebracht, darauf hinzuweisen, dass das dringendste und schmerzlich reale Problem ab 2010 die verlorene Wettbewerbsfähigkeit der Defizit-Länder war“ (Herv.i.O.) (S. 269). Nicht nur, dass die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, was immer meint: Exportüberschüsse, eine höchst fragwürdige wirtschaftspolitische Strategie ist, und dass Deutschland im ersten Jahrzehnt der Währungsunion die seine durch Lohndumping errungen hat, ist Rehn der Rede wert, auch die Tatsache, dass ihm die „innere Abwertung“ in den Defizitländern nicht schnell genug ging, spricht Bände für seine halbherzige Denkweise.
Danach beschreibt Rehn Frankreich als „Urheber des Ungleichgewichts“ (S. 270 ff.) – aufgrund fehlender Strukturreformen und ausbleibender Korrekturen seines Haushaltsdefizits. Der Ansatz der Kommission in den Jahren 2012/13 sei gewesen, auf Strukturreformen zu drängen und Nachsicht bei den fiskalischen Größen walten zu lassen. Der „ideale Ansatz“ (S. 277) wäre aber gewesen, zunächst Strukturreformen zu fordern und erst wenn diese nachgewiesen wären, Nachsicht bei den fiskalischen Größen zu üben. Wenn sich da die Kommission nicht verhoben hätte.
Als Gründe für den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss führt Rehn an: 1.) die latente Unterbewertung des deutschen Euros, 2.) das mittel- und osteuropäische Arbeitskräftereservoir, 3.) die Zinskonvergenz, 4.) das Erschließung globaler Märkte, 5.) hohe Ersparnisse und niedrige Investitionen, 6.) hohen Kapitalexport (S. 279 f.). Seine Schlussfolgerung: Steigerung der Binnennachfrage in Deutschland. Die Kommission, so Rehn, hatte immer drei Empfehlungen für Deutschland im Rahmen des Ungleichgewichtsverfahrens: Steigerung der Binnennachfrage durch Lohnwachstum, Steigerung der öffentlichen Investitionen und Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen.
„Ist eine deutsch-französische „Win-Win-Wirtschaftsstrategie plausibel?“, so fragt Rehn am Ende des Kapitels. Die Richtung wäre klar, „nämlich Deutschland zu Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage und der Investitionen und Frankreich zu Reformen des Arbeitsmarkts, des Unternehmensumfelds und des Rentensystems zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit zu ermutigen“ (S. 282). Die dümmliche Antwort Deutschlands, das sich anfänglich heftig gegen das von der Kommission vorgeschlagene Verfahren für makroökonomische Ungleichgewichte (MIP) wehrte, kam postwendend. Rehn lässt Schäuble sprechen, der in einer Rede vor dem Brüsseler Wirtschaftsforum am 18. Mai 2011 kundtat: „Ja, wir müssen allzu große Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten vermeiden. Aber nein, dies kann nicht in der Form geschehen, dass erfolgreiche Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit freiwillig einschränken. (…) Der einzig gangbare Weg ist, dass die etwas schwächeren Länder der Eurozone stärker werden. Wir könnten ihnen helfen, aber wir können ihre Aufgabe nicht erfüllen. Außerdem löst man die eignen Probleme der Wettbewerbsfähigkeit nicht, indem man von anderen verlangt, weniger wettbewerbsfähig zu werden, und man kann die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen nicht dauerhaft schließen, indem man von anderen mehr Geld verlangt“ (S. 283). Rehn registrierte, wie er schreibt, dass er in Deutschland ins „politische Abseits“ geraten war.
Nur widerwillig gab Deutschland der Verabschiedung des Sixpacks sein Placet, freilich mit der asymmetrischen Gewichtung bei der Schwelle für ein Verfahren (Überschussländer 6 Prozent, Defizitländer 4 Prozent), was Rehn als nur „zweitbeste Lösung“ (S. 286) charakterisiert.
Rehn und mit ihm die Kommission haben ein makroökonomisches Problem. Ihr Mantra, ihr Leitfaden, ihre zentrale Idee ist die Wettbewerbsfähigkeit. Rehns vereinfachender Vorschlag lautet, Frankreich müsse reformieren und sparen, Deutschland die Binnennachfrage ankurbeln und investieren. Und dann? Das Ziel wäre, die Lohnstückkosten m.o.w. auf einer Linie zu halten – und die übrige Welt mit europäischen Produkten und damit Arbeitslosigkeit zu überschwemmen. Rehn denkt nur bis an die Grenzen der Eurozone/EU. „Wettbewerbsfähigkeit“ ist ein ungeeignetes wirtschaftspolitisches Ziel. Es klingt wie Unternehmensförderung, ist tatsächlich aber eine gesamtwirtschaftliche Strategie, die in einer globalisierten Wirtschaft untauglich ist. Die EU bzw. die Eurozone wäre gut beraten, sich von diesem Konzept zu verabschieden und stattdessen ihren eigentlichen Vorteil, den großen Binnenmarkt, in den Mittelpunkt zu rücken.
Von der Austerität
In Kapitel 13 beschäftigt sich Rehn mit der Auseinandersetzung zwischen „Austerianern“ und „Spendanigans“ in den Jahren 2011/12. Wie oft in dem Buch schlägt er einen Mittelweg ein. Er will sich weder der Argumentation zu der Wirksamkeit der fiskalischen Multiplikatoren (Blanchard) noch der Argumentation der „expansiven Sparsamkeit“ (Alesina), die er für eine „himmlische, wachstumsfördernde Wirkung der Konsolidierung“ (S. 255) und eine „ungeheuerliche Behauptung“ (S. 256) hält, anschließen.
In Kapitel 17 geht es um die Ursachen für die „Schuldenkrise in der Eurozone“ (S. 328), also die Frage, warum nach der globalen Finanzkrise (2007/8) die Eurozone in eine zweite Krise zwischen 2010 und 2015 geraten ist („Double Dip“). Rehn referiert einige, z.T. abstruse Erklärungsansätze und kommt zu dem Ergebnis, dass es die restriktive Finanzpolitik war, die ihren Höhepunkt in dem verrückten Fiskalpakt, den die Kommission skeptisch sah, (2012) fand (S. 340 f.).
In Kapitel 18 erörtert Rehn ökonomische Theorien, die im Zusammenhang mit der Eurokrise eine Rolle spielten. Für problematisch hält er zunächst die große Rolle, die die Theorie des optimalen Währungsgebiets zu Beginn der Währungsunion gespielt habe. Das zentrale Manko dieser Theorie sei gewesen, dass sie die Gefahren nicht ausgeglichener Zahlungsbilanzen bzw. makroökonomischer Ungleichgewichte in der Währungsunion ausgeblendet habe (S. 346). Ein zweites Problem: der Vertrag von Maastricht habe mit dem No-bail-out-Artikel (der in Wirklichkeit keiner ist) zu großes Vertrauen in die Marktkräfte gehegt. Auch die Theorie des optimalen Funktionierens selbstregulierender Finanzmärkte habe sich als falsch erwiesen (S. 346 f.). Auf das Phänomen, dass die Finanzmärkte zunächst davon ausgegangen waren, dass in Schwierigkeiten geratende Staaten bei der Kreditierung doch herausgehauen würden, was zunächst aber nicht geschah, und die Zinsen auf den Staatskredit für manche Staaten explodierten, die Märkte zunächst also falsch lagen, dann aber mit der „Rettungspolitik“ doch ein Bail-out stattfand, die Märkte also mit einer gewissen Verspätung und unter fragwürdigen Umständen doch Recht behielten, geht Rehn nicht ein.
Theorien
Rehn zählt sich zu den „wiedergeborenen ‚Minskyiten‘“ (S. 363). „Obwohl ich als Typ aus der Realwirtschaft schon immer einen instinktiven Zweifel gegen jegliches übermäßiges Vertrauen in das effiziente Funktionieren der Finanzmärkte hatte, hatte ich zuvor in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur keine ausreichend überzeugenden analytischen Rechtfertigungen dafür gefunden“ (ebd.). Die Reihenfolge ist bemerkenswert. Grundsätzlich gilt für Märkte der Verdacht oder die Annahme, je nachdem, auf Gleichgewicht. Die Ausnahme, die alle paar Jahre zu besichtigen ist, bedarf der „analytischen Rechtfertigung“. Dass Rehn nur „instinktive Zweifel“ hatte, liegt wohl daran, dass er – wie übrigens Minsky auch – grundsätzlich an das Gleichgewicht der Märkte, wohlgemerkt an den Gütermärkten, glaubt.
Schließlich wirft Rehn einen Blick „über den Tellerrand“ (S. 365 ff.) hinaus und erkennt dort die Modern Monetary Theory (MMT) mit deren Plädoyer für fiskalische Dominanz als Lösung für das Problem des langsamen Wachstums und der säkularen Stagnation. Er verteidigt sie gegen allzu schlichte Interpretationen – „Gelddruckmaschine“ –, macht aber aus seiner tiefen Skepsis keinen Hehl: „Würden Sie Anleihen eines Landes halten, das einem solchen Experiment (MMT-Politik, d.Verf.) folgte?“ (S. 366) Auch mit Blick auf die Blanchard-Debatte wird deutlich, dass er schuldenfinanzierten fiskalischen Anreizen nicht traut, er qualifiziert sie als „Wunderwaffe“ (ebd.).
Das Kapitel endet mit einer klebrigen, pastoralen Rede auf die Grenzen des Marktes, die soziale Marktwirtschaft und Keynes dritten Weg (S. 368 ff.). Unter Grenzen des Marktes versteht er: Einkommensungleichheit, Herdenverhalten der Finanzmärkte und kein Einbezug von Externaltäten in Hinblick auf den Klimawandel. Unter Sozialer Marktwirtschaft: Bestimmung von Regeln und Ermöglichung der bürgerlichen Entwicklung für jeden Einzelnen. Der Dritte Weg von Keynes zeichne sich aus durch: wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit. Alle Probleme, die Rehn z.T. anspricht, sind damit beerdigt.
Lehren
Sieben Lehren hat Rehn im Schlusskapitel 19 parat (S. 373 ff.). Die erste ist mehr eine Empfehlung: Man sollte im Club der Eurozone bleiben. Die zweite mehr eine Feststellung: Für die Finanzstabilität sei die zu vollendende Bankenunion eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Daher die dritte Lehre, auch eine Feststellung: Um die Finanzstabilität zu sichern, bedarf es eines die Marktpaniken bändigenden Lenders of Last Resort, der EZB. Zur zweiten Hauptsäule des Zentralbankwesens, so die vierte Lehre/Feststellung, sei die makroprudentielle Politik geworden; das erfordere in den einzelnen Ländern weitreichende Veränderungen, zumal der Nichtbankensektor und die nichttraditionellen Kreditprodukte, die Schattenbanken mit ihren kreativen Erfindungen, an Bedeutung gewonnen hätten. Die fünfte Lehre: Mehr Koordination in der Finanzpolitik und mehr Koordination zwischen Finanzpolitik und Geldpolitik (was kein Widerspruch zur Unabhängigkeit der Zentralbank sei) sei vonnöten. Die sechste Lehre: Die finanzpolitischen Regeln sollten nicht mehr, wie bisher, an den strukturellen Haushaltssaldos orientiert sein, sondern an einer Ausgabenregel. Die siebte und letzte Lehre: Die Weiterentwicklung der Eurozone zur Stabilitätsunion sollte weiter in der Hauptverantwortung der Nationalstaaten liegen.
Dreierlei fällt auf:
- Wenn die sechste Regel – die Orientierung an einer Ausgabenregel – die Richtung für eine Weiterentwicklung des Stabilitätspakts die Mehrheitsposition in den europäischen Gremien (Kommission und kleiner Rat) wiedergibt, dann wäre das ganz immanent betrachtet, begrüßenswert. Die willkürlichen Marken (Schuldenstand und Defizitregel) sind längst überfällig für eine Revision. Die Ausgabenregel (mittelfristige Wachstumsrate > Wachstumsrate der Staatsausgaben) wäre ein minimaler Fortschritt.
- Der Hinweis auf den Bedeutungszuwachs der makroprudentiellen Politik ist zweifelhaft. Rehn vergisst darauf hinzuweisen, dass das herkömmliche Verständnis von makroprudentieller Politik – jedenfalls in Deutschland – immer noch von der grundsätzlichen Stabilität der Finanzmärkte (bei Vorliegen aller Informationen und rationalem Verhalten) ausgeht. Das kann Rehn nicht gefallen, da er sich, wie oben gesehen, als Anhänger der Instabilitätstheorie von Minsky zu erkennen gegeben hat. Auch die These, dass makroprudentielle Politik grundsätzlich auf nationaler Ebene angesiedelt sei, wie in Deutschland verbreitet, ist vorgestrig und läuft im Grunde genommen auf eine Absage an makroökonomische Politik auf europäischer Ebene (Sixpack) hinaus.
- Am überraschendsten ist Rehns siebte Lehre: „Beim Aufbau der Eurozone als Stabilitätsunion sollte die Hauptverantwortung für die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik bei den Mitgliedstaaten liegen…“ (S. 393). Warum die Eurozone eine „Stabilitätsunion“ sein soll und keine „Wachstumsunion“ bleibt Rehns Geheimnis, eigentlich widerspricht das einigen seiner Argumente. Hauptsächlich aber: Dass er als Ex-Kommissar kein entschiedenes Plädoyer für Eurobonds (mittlerweile in Gestalt der NextGenEU-Anleihen realisiert), einen zentralen Haushalt und entsprechende institutionelle Strukturen führt, ist der Tatsache geschuldet, dass er ein Freund des Mittelweges ist, die Synthese des Schlechten mit dem Guten herstellen will und damit in der Sackgasse landet. Es gilt das alte Epigramm: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Aus historischer Perspektive: Fast sieben Jahrzehnte nach dem EWG-V immer noch das Plädoyer für die Koordination primär national bestimmter Wirtschaftspolitiken zu führen, ist – gelinde gesagt – geschichtsvergessen.
Rehn wurde eingangs als „aufgeklärter Neoliberaler“ bezeichnet. Das Aufgeklärte bezieht sich u.a. auf gewisse Einsichten in Hinblick auf die makroökonomische Politik, insbesondere auf die Problematik chronischer Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands und die Frage der Finanzmarktstabilität. Legt man dieses wirtschaftspolitische Moment der Aufklärung über den Mainstream, der in Deutschland dominiert, wird deutlich, wie isoliert Deutschland mittlerweile in der EU ist.
Olli Rehn, Die Rettung des Euro. Was wir aus der Krise lernen können, o.O. 2021
Unbedingt zugutehalten muss man Olli Rehn seine Selbstironie. Auf Seite 316 findet sich ein Foto von Alexis Tsipras und ihm, das mit einem Zitat von Yanis Varoufakis versehen ist: darin wird er so qualifiziert: „ein analphabetischer, gelber Befehlsempfänger der dritten Kategorie“.
Rehn war Mitglied des Europaparlaments, dort Angehöriger der liberalen Fraktion, zwischen 2004 und 2014 Mitglied der Kommission, während der Eurokrise zuständig als Kommissar für Wirtschaft und Währung, seit 2018 Gouverneur der finnischen Zentralbank. Seine Positionen ließen sich als einer Art „aufgeklärtem Neoliberalismus“ verpflichtet charakterisieren, so manchem Marktradikalen in Deutschland ließen sie einen Schauer über den Rücken laufen.
Das Buch umfasst 417 Seiten und gliedert sich in 19 Kapitel und ein Nachwort. Im Mittelpunkt steht die so genannte Eurokrise von 2010 bis 2012, ihre Vorgeschichte, ihr Verlauf und ihre Nachgeschichte. Die zentralen Stationen der Krise werden herausgearbeitet. Es hat einen analytischen Anspruch und bezieht viele Thesen, Theorien und Einschätzungen von Akteuren der Eurokrise mit ein. Leitfaden ist die makroökonomische Analyse, die es versucht mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen zu verknüpfen.
Der Spaziergang von Deauville
Im Herbst 2010, als die Finanzierung Griechenlands nach langem Zögern und Hinhalten Deutschlands gesichert war, kochte die Banken- und Immobilienkrise in Irland, das Rehn einen „verwilderten keltischen Tiger“ nennt, hoch. Das Land, seit 1973 Mitglied in der EG, hatte sich aus tiefer Armut dank europäischer Hilfen und Steuerdumping (12,5 Prozent Körperschaftssteuer) zu einem passablen Wohlstand hochgearbeitet und leistete sich einen völlig überdimensionierten Bankensektor, aus dem im ersten Jahrzehnt der Währungsunion eine Immobilienblase finanziert wurde. In diesem Herbst kletterten die Zinsen auf den irischen Staatskredit in die Todeszone (6-7 Prozent Risikoprämie).
Statt Irland geräuschlos in die „Rettungspolitik“ mit einzubeziehen, machte sich Deutschland, der Dirigent der Eurokrise, daran, die Krise weiter zu verschärfen. Bei dem berüchtigten Spaziergang von Deauville mit Sarkozy erhöhte die deutsche Kanzlerin den Druck auf Frankreich: Man wollte zweierlei, automatische Sanktionen gegen Staaten, die gegen den Stabilitätspakt verstoßen und eine Beteiligung des Privatsektors bei den Hilfsmaßnahmen durch den EFSF. „Der Deauville-Deal bestand im Wesentlichen darin, dass Deutschland die Aufweichung der halb automatischen Sanktionen akzeptierte und Frankreich im Gegenzug die Beteiligung des Privatsektors an der Vereinbarung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus akzeptierte – die Umschuldung war ein langjähriges Ziel Deutschlands“ (S. 105).
Mit dem ins Auge gefassten „Haircut“ wurde kalkuliert Öl ins Feuer gegossen, die Risikoprämie für den irischen Staatskredit an den Finanzmärkten stieg in Richtung 8 Prozent. Rehn benennt die deutsche Herzensangelegenheit, die er sich nicht in seinen „kühnsten Albträumen hätte vorstellen können“ (S. 104), in all ihrer Problematik („Weltuntergang von Deauville“, S. 93 und „Doomsday“, S.105), banalisiert sie aber, indem er feststellt: „Marktkenntnisse waren an diesem Wochenende Mangelware“ (S. 103). Den damaligen Hardlinern im Kanzleramt kann man alles Mögliche vorwerfen, nur nicht, dass es ihnen unklar war, welche Folgen der geplante Haircut auf den Finanzmärkten haben würde. Es handelte sich, um im Bild zu bleiben, um gezielte Brandstiftung. Es kam, wie es auf Druck der Deutschen kommen musste: Der Haircut bei der Sanierung Griechenlands wurde durchgesetzt, und Irland schlüpfte unter den Rettungsschirm. Erst jetzt verwandelte sich die Griechenlandkrise in eine Eurokrise. Die Dumpingsteuer durfte das Land beibehalten, und die Rettung der irischen Banken wurde großzügig europäisch geregelt (der Haircut bezog sich auf die in Griechenland kreditierenden Banken, nicht auf die irischen). Carlo Bastasin, den Rehn zitiert, bezeichnete die Deauville-Verabredung als „eine raffinierte Art, Selbstmord zu begehen“, auch eine Verharmlosung, da weder der Hauptakteur, Deutschland, noch dessen Motiv, die Umsetzung einer verrückten betriebswirtschaftlichen Regel, des Haftungsprinzips, in die europäische Makroökonomie präzise benannt werden.
Whatever it takes
Im Sommer 2012, so Rehn, kam der „letzte Wendepunkt“ (S. 205) der Krise. Er schildert die letzten fehlschlagenden Versuche aus der Politik, die Krise einzudämmen: die Kapitalaufstockung bei der Europäischen Investitionsbank (EIB), die Einleitung der Bankenunion und die Rettung des spanischen Bankensektors. Die Einrichtung des ESM, der auch keine Entspannung brachte, hat er dabei vergessen. Erst mit Draghis Londoner Whatever-it-takes-Rede sei die Wende eingeleitet worden. Er zitiert Draghis Interview vom 2. August 2012 nach der Rede von London: „Risikoprämien, die mit der Furcht vor der Reversibilität zusammenhängen, sind inakzeptabel, und sie müssen grundlegend angegangen werden. Der Euro ist irreversibel. (…) Der EZB-Rat (…) kann uneingeschränkt Offenmarktgeschäfte in einem Umfang durchführen, der ausreicht, um sein Ziel zu erreichen“ (S. 216). Dass allein die Intervention der EZB als Lender of Last Resort den Anstieg der Risikoprämien für den Staatskredit zunächst zum Stillstand, dann zum Rückgang gebracht hat, will Rehn nicht so deutlich betonen, stattdessen ist ihm wichtig, den eher unwichtigen Nebenaspekt des OMT-Programms, seine Knüpfung an die Konditionalität, die er für „eine voll gerechtfertigte Lösung“ (ebd.) hält, hervorzustreichen. Am Ende seiner Ausführungen (S. 376 ff.) steigert er seine falsche Gewichtung noch dahingehend, dass er die EZB und den ESM als die großen Krisenlöser (auch in der Zukunft) anpreist. Das ist Unfug. Der ESM verfügt über keine „große Bazooka“, hat bei der Krisenlösung nur eine technische Rolle gespielt und ist – gerade wegen seiner Konditionalität – eine Institution ohne Zukunft.
Die Makroökonomische Politik im Sixpack
Rehn, promoviert in internationaler Wirtschaftspolitik, legt ein besonderes Augenmerk auf die innereuropäischen Überschuss-Defizit-Positionen. Schon in der Einleitung hebt er mit Blick auf die von Deutschland durchgesetzte Wirtschaftspolitik – was er so nicht erwähnt – der Eurozone hervor: „Meiner Ansicht nach wäre es besser gewesen, einen dritten Weg zu verfolgen, d.h. eine gleichmäßigere Neuausrichtung der Wirtschaft der Eurozone, bei der die Defizitländer Strukturreformen und Haushaltskonsolidierung verfolgen, während die Überschussländer die produktiven Investitionen und die Binnennachfrage ankurbeln. Dies war der Policy-Mix, den die Europäische Kommission in den jährlichen Wachstumserhebungen und politischen Initiativen empfahl“ (S. 25). Das klingt für einen Neoliberalen einsichtig und macht Hoffnung.
Das gesamte Kapitel 14 (Überschrift: „Die große Wiederherstellung des Gleichgewichts: Frankreich vs. Deutschland“, S. 265 ff.) ist diesem Kernproblem europäischer Wirtschaftspolitik gewidmet. Die aufkeimende Hoffnung wird aber enttäuscht, der „dritte Weg“ entpuppt sich als ziemlich ausgetrampelter, altbekannter Pfad. Zunächst wirft Rehn Nebelkerzen. Da die Eurozone eine global offene Wirtschaft sei, könne sich die Aufmerksamkeit nicht nur auf die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse richten, wie es die angelsächsischen Ökonomen täten. Außerdem sei vor dirigistischen Eingriffen zu warnen (S. 268). Vor dem Hintergrund des altbekannten Bildes zur Entwicklung der Lohnstückkosten in der Währungsunion zwischen 1999 und 2017 erfolgt die Feststellung: „Auch wenn sich ein Großteil der Debatte über makroökonomische Ungleichgewichte in letzter Zeit auf Deutschland konzentriert hat, ist es dennoch angebracht, darauf hinzuweisen, dass das dringendste und schmerzlich reale Problem ab 2010 die verlorene Wettbewerbsfähigkeit der Defizit-Länder war“ (Herv.i.O.) (S. 269). Nicht nur, dass die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, was immer meint: Exportüberschüsse, eine höchst fragwürdige wirtschaftspolitische Strategie ist, und dass Deutschland im ersten Jahrzehnt der Währungsunion die seine durch Lohndumping errungen hat, ist Rehn der Rede wert, auch die Tatsache, dass ihm die „innere Abwertung“ in den Defizitländern nicht schnell genug ging, spricht Bände für seine halbherzige Denkweise.
Danach beschreibt Rehn Frankreich als „Urheber des Ungleichgewichts“ (S. 270 ff.) – aufgrund fehlender Strukturreformen und ausbleibender Korrekturen seines Haushaltsdefizits. Der Ansatz der Kommission in den Jahren 2012/13 sei gewesen, auf Strukturreformen zu drängen und Nachsicht bei den fiskalischen Größen walten zu lassen. Der „ideale Ansatz“ (S. 277) wäre aber gewesen, zunächst Strukturreformen zu fordern und erst wenn diese nachgewiesen wären, Nachsicht bei den fiskalischen Größen zu üben. Wenn sich da die Kommission nicht verhoben hätte.
Als Gründe für den hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss führt Rehn an: 1.) die latente Unterbewertung des deutschen Euros, 2.) das mittel- und osteuropäische Arbeitskräftereservoir, 3.) die Zinskonvergenz, 4.) das Erschließung globaler Märkte, 5.) hohe Ersparnisse und niedrige Investitionen, 6.) hohen Kapitalexport (S. 279 f.). Seine Schlussfolgerung: Steigerung der Binnennachfrage in Deutschland. Die Kommission, so Rehn, hatte immer drei Empfehlungen für Deutschland im Rahmen des Ungleichgewichtsverfahrens: Steigerung der Binnennachfrage durch Lohnwachstum, Steigerung der öffentlichen Investitionen und Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen.
„Ist eine deutsch-französische „Win-Win-Wirtschaftsstrategie plausibel?“, so fragt Rehn am Ende des Kapitels. Die Richtung wäre klar, „nämlich Deutschland zu Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage und der Investitionen und Frankreich zu Reformen des Arbeitsmarkts, des Unternehmensumfelds und des Rentensystems zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit zu ermutigen“ (S. 282). Die dümmliche Antwort Deutschlands, das sich anfänglich heftig gegen das von der Kommission vorgeschlagene Verfahren für makroökonomische Ungleichgewichte (MIP) wehrte, kam postwendend. Rehn lässt Schäuble sprechen, der in einer Rede vor dem Brüsseler Wirtschaftsforum am 18. Mai 2011 kundtat: „Ja, wir müssen allzu große Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten vermeiden. Aber nein, dies kann nicht in der Form geschehen, dass erfolgreiche Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit freiwillig einschränken. (…) Der einzig gangbare Weg ist, dass die etwas schwächeren Länder der Eurozone stärker werden. Wir könnten ihnen helfen, aber wir können ihre Aufgabe nicht erfüllen. Außerdem löst man die eignen Probleme der Wettbewerbsfähigkeit nicht, indem man von anderen verlangt, weniger wettbewerbsfähig zu werden, und man kann die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen nicht dauerhaft schließen, indem man von anderen mehr Geld verlangt“ (S. 283). Rehn registrierte, wie er schreibt, dass er in Deutschland ins „politische Abseits“ geraten war.
Nur widerwillig gab Deutschland der Verabschiedung des Sixpacks sein Placet, freilich mit der asymmetrischen Gewichtung bei der Schwelle für ein Verfahren (Überschussländer 6 Prozent, Defizitländer 4 Prozent), was Rehn als nur „zweitbeste Lösung“ (S. 286) charakterisiert.
Rehn und mit ihm die Kommission haben ein makroökonomisches Problem. Ihr Mantra, ihr Leitfaden, ihre zentrale Idee ist die Wettbewerbsfähigkeit. Rehns vereinfachender Vorschlag lautet, Frankreich müsse reformieren und sparen, Deutschland die Binnennachfrage ankurbeln und investieren. Und dann? Das Ziel wäre, die Lohnstückkosten m.o.w. auf einer Linie zu halten – und die übrige Welt mit europäischen Produkten und damit Arbeitslosigkeit zu überschwemmen. Rehn denkt nur bis an die Grenzen der Eurozone/EU. „Wettbewerbsfähigkeit“ ist ein ungeeignetes wirtschaftspolitisches Ziel. Es klingt wie Unternehmensförderung, ist tatsächlich aber eine gesamtwirtschaftliche Strategie, die in einer globalisierten Wirtschaft untauglich ist. Die EU bzw. die Eurozone wäre gut beraten, sich von diesem Konzept zu verabschieden und stattdessen ihren eigentlichen Vorteil, den großen Binnenmarkt, in den Mittelpunkt zu rücken.
Von der Austerität
In Kapitel 13 beschäftigt sich Rehn mit der Auseinandersetzung zwischen „Austerianern“ und „Spendanigans“ in den Jahren 2011/12. Wie oft in dem Buch schlägt er einen Mittelweg ein. Er will sich weder der Argumentation zu der Wirksamkeit der fiskalischen Multiplikatoren (Blanchard) noch der Argumentation der „expansiven Sparsamkeit“ (Alesina), die er für eine „himmlische, wachstumsfördernde Wirkung der Konsolidierung“ (S. 255) und eine „ungeheuerliche Behauptung“ (S. 256) hält, anschließen.
In Kapitel 17 geht es um die Ursachen für die „Schuldenkrise in der Eurozone“ (S. 328), also die Frage, warum nach der globalen Finanzkrise (2007/8) die Eurozone in eine zweite Krise zwischen 2010 und 2015 geraten ist („Double Dip“). Rehn referiert einige, z.T. abstruse Erklärungsansätze und kommt zu dem Ergebnis, dass es die restriktive Finanzpolitik war, die ihren Höhepunkt in dem verrückten Fiskalpakt, den die Kommission skeptisch sah, (2012) fand (S. 340 f.).
In Kapitel 18 erörtert Rehn ökonomische Theorien, die im Zusammenhang mit der Eurokrise eine Rolle spielten. Für problematisch hält er zunächst die große Rolle, die die Theorie des optimalen Währungsgebiets zu Beginn der Währungsunion gespielt habe. Das zentrale Manko dieser Theorie sei gewesen, dass sie die Gefahren nicht ausgeglichener Zahlungsbilanzen bzw. makroökonomischer Ungleichgewichte in der Währungsunion ausgeblendet habe (S. 346). Ein zweites Problem: der Vertrag von Maastricht habe mit dem No-bail-out-Artikel (der in Wirklichkeit keiner ist) zu großes Vertrauen in die Marktkräfte gehegt. Auch die Theorie des optimalen Funktionierens selbstregulierender Finanzmärkte habe sich als falsch erwiesen (S. 346 f.). Auf das Phänomen, dass die Finanzmärkte zunächst davon ausgegangen waren, dass in Schwierigkeiten geratende Staaten bei der Kreditierung doch herausgehauen würden, was zunächst aber nicht geschah, und die Zinsen auf den Staatskredit für manche Staaten explodierten, die Märkte zunächst also falsch lagen, dann aber mit der „Rettungspolitik“ doch ein Bail-out stattfand, die Märkte also mit einer gewissen Verspätung und unter fragwürdigen Umständen doch Recht behielten, geht Rehn nicht ein.
Theorien
Rehn zählt sich zu den „wiedergeborenen ‚Minskyiten‘“ (S. 363). „Obwohl ich als Typ aus der Realwirtschaft schon immer einen instinktiven Zweifel gegen jegliches übermäßiges Vertrauen in das effiziente Funktionieren der Finanzmärkte hatte, hatte ich zuvor in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur keine ausreichend überzeugenden analytischen Rechtfertigungen dafür gefunden“ (ebd.). Die Reihenfolge ist bemerkenswert. Grundsätzlich gilt für Märkte der Verdacht oder die Annahme, je nachdem, auf Gleichgewicht. Die Ausnahme, die alle paar Jahre zu besichtigen ist, bedarf der „analytischen Rechtfertigung“. Dass Rehn nur „instinktive Zweifel“ hatte, liegt wohl daran, dass er – wie übrigens Minsky auch – grundsätzlich an das Gleichgewicht der Märkte, wohlgemerkt an den Gütermärkten, glaubt.
Schließlich wirft Rehn einen Blick „über den Tellerrand“ (S. 365 ff.) hinaus und erkennt dort die Modern Monetary Theory (MMT) mit deren Plädoyer für fiskalische Dominanz als Lösung für das Problem des langsamen Wachstums und der säkularen Stagnation. Er verteidigt sie gegen allzu schlichte Interpretationen – „Gelddruckmaschine“ –, macht aber aus seiner tiefen Skepsis keinen Hehl: „Würden Sie Anleihen eines Landes halten, das einem solchen Experiment (MMT-Politik, d.Verf.) folgte?“ (S. 366) Auch mit Blick auf die Blanchard-Debatte wird deutlich, dass er schuldenfinanzierten fiskalischen Anreizen nicht traut, er qualifiziert sie als „Wunderwaffe“ (ebd.).
Das Kapitel endet mit einer klebrigen, pastoralen Rede auf die Grenzen des Marktes, die soziale Marktwirtschaft und Keynes dritten Weg (S. 368 ff.). Unter Grenzen des Marktes versteht er: Einkommensungleichheit, Herdenverhalten der Finanzmärkte und kein Einbezug von Externaltäten in Hinblick auf den Klimawandel. Unter Sozialer Marktwirtschaft: Bestimmung von Regeln und Ermöglichung der bürgerlichen Entwicklung für jeden Einzelnen. Der Dritte Weg von Keynes zeichne sich aus durch: wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit. Alle Probleme, die Rehn z.T. anspricht, sind damit beerdigt.
Lehren
Sieben Lehren hat Rehn im Schlusskapitel 19 parat (S. 373 ff.). Die erste ist mehr eine Empfehlung: Man sollte im Club der Eurozone bleiben. Die zweite mehr eine Feststellung: Für die Finanzstabilität sei die zu vollendende Bankenunion eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Daher die dritte Lehre, auch eine Feststellung: Um die Finanzstabilität zu sichern, bedarf es eines die Marktpaniken bändigenden Lenders of Last Resort, der EZB. Zur zweiten Hauptsäule des Zentralbankwesens, so die vierte Lehre/Feststellung, sei die makroprudentielle Politik geworden; das erfordere in den einzelnen Ländern weitreichende Veränderungen, zumal der Nichtbankensektor und die nichttraditionellen Kreditprodukte, die Schattenbanken mit ihren kreativen Erfindungen, an Bedeutung gewonnen hätten. Die fünfte Lehre: Mehr Koordination in der Finanzpolitik und mehr Koordination zwischen Finanzpolitik und Geldpolitik (was kein Widerspruch zur Unabhängigkeit der Zentralbank sei) sei vonnöten. Die sechste Lehre: Die finanzpolitischen Regeln sollten nicht mehr, wie bisher, an den strukturellen Haushaltssaldos orientiert sein, sondern an einer Ausgabenregel. Die siebte und letzte Lehre: Die Weiterentwicklung der Eurozone zur Stabilitätsunion sollte weiter in der Hauptverantwortung der Nationalstaaten liegen.
Dreierlei fällt auf:
- Wenn die sechste Regel – die Orientierung an einer Ausgabenregel – die Richtung für eine Weiterentwicklung des Stabilitätspakts die Mehrheitsposition in den europäischen Gremien (Kommission und kleiner Rat) wiedergibt, dann wäre das ganz immanent betrachtet, begrüßenswert. Die willkürlichen Marken (Schuldenstand und Defizitregel) sind längst überfällig für eine Revision. Die Ausgabenregel (mittelfristige Wachstumsrate > Wachstumsrate der Staatsausgaben) wäre ein minimaler Fortschritt.
- Der Hinweis auf den Bedeutungszuwachs der makroprudentiellen Politik ist zweifelhaft. Rehn vergisst darauf hinzuweisen, dass das herkömmliche Verständnis von makroprudentieller Politik – jedenfalls in Deutschland – immer noch von der grundsätzlichen Stabilität der Finanzmärkte (bei Vorliegen aller Informationen und rationalem Verhalten) ausgeht. Das kann Rehn nicht gefallen, da er sich, wie oben gesehen, als Anhänger der Instabilitätstheorie von Minsky zu erkennen gegeben hat. Auch die These, dass makroprudentielle Politik grundsätzlich auf nationaler Ebene angesiedelt sei, wie in Deutschland verbreitet, ist vorgestrig und läuft im Grunde genommen auf eine Absage an makroökonomische Politik auf europäischer Ebene (Sixpack) hinaus.
- Am überraschendsten ist Rehns siebte Lehre: „Beim Aufbau der Eurozone als Stabilitätsunion sollte die Hauptverantwortung für die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik bei den Mitgliedstaaten liegen…“ (S. 393). Warum die Eurozone eine „Stabilitätsunion“ sein soll und keine „Wachstumsunion“ bleibt Rehns Geheimnis, eigentlich widerspricht das einigen seiner Argumente. Hauptsächlich aber: Dass er als Ex-Kommissar kein entschiedenes Plädoyer für Eurobonds (mittlerweile in Gestalt der NextGenEU-Anleihen realisiert), einen zentralen Haushalt und entsprechende institutionelle Strukturen führt, ist der Tatsache geschuldet, dass er ein Freund des Mittelweges ist, die Synthese des Schlechten mit dem Guten herstellen will und damit in der Sackgasse landet. Es gilt das alte Epigramm: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Aus historischer Perspektive: Fast sieben Jahrzehnte nach dem EWG-V immer noch das Plädoyer für die Koordination primär national bestimmter Wirtschaftspolitiken zu führen, ist – gelinde gesagt – geschichtsvergessen.
Rehn wurde eingangs als „aufgeklärter Neoliberaler“ bezeichnet. Das Aufgeklärte bezieht sich u.a. auf gewisse Einsichten in Hinblick auf die makroökonomische Politik, insbesondere auf die Problematik chronischer Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands und die Frage der Finanzmarktstabilität. Legt man dieses wirtschaftspolitische Moment der Aufklärung über den Mainstream, der in Deutschland dominiert, wird deutlich, wie isoliert Deutschland mittlerweile in der EU ist.