Das von Peter Becker und Barbara Lippert herausgegebene zweibändige Handbuch „Europäische Union“, nahezu 1000 Seiten füllend, besteht aus 42 Beiträgen, die fünf Teilen zugeordnet sind: „Geschichte und Gegenwart“, „Grundsätze und Zukunftsfragen“, „Institutionen und Akteure“, „Kompetenzen und Verfahren“ sowie „Politikfelder und Projekte“. Es ist politikwissenschaftlich angelegt, klammert also Rechtswissenschaft und Ökonomie zum Thema als solche aus bzw. bezieht sie nur unter politikwissenschaftlichen Aspekten ein; historische Aspekte sind jeweils in den Aufsätzen enthalten. Der Schwerpunkt liegt überwiegend auf den Prozessen (politics) und Strukturen (polity), die Inhalte (policy) werden am Rande aufgenommen, ausgenommen in Teil V, in dem einzelne inhaltliche Politikfelder dargestellt werden, vom Binnenmarkt über die Wirtschafts- und Währungsunion bis zur Außen- und Verteidigungspolitik.
Die einzelnen Aufsätze enthalten jeweils historische Teile, den gegenwärtigen Forschungsstand zum Politikfeld und Ausblicke in die Zukunft. Ausführliche Literaturangaben zur weiteren Vertiefung bilden den Abschluss; sie entstammen überwiegend dem englischsprachigen Raum, was ein Licht auf den (beklagenswerten?) Zustand der europawissenschaftlichen Forschung in Deutschland, das ja ob seiner Europafreundlichkeit gerühmt wird, wirft.
Als Rezensent möchte man am liebsten alle Beiträge besprechen, allein…
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Aus Teil I
Wie es sich gehört, beginnt das Handbuch theoretisch. Frank Schimmelfennig stellt in dem Beitrag „Theorien der europäischen Integration“ die aus seiner Perspektive wichtigsten drei theoretischen Zugänge zur Erklärung der europäischen Integration vor: den Intergouvernementalismus, den Neofunktionalismus und den Postfunktionalismus (jeweils mit entsprechenden Unterformationen). Den von manchen wissenschaftlichen Ansätzen in der Post-Maastricht-Ära festgestellten Neuen Intergouvernementalismus erwähnt der Autor nicht als solchen. Ob der so genannte Postfunktionalismus, ein Reflex auf die in der jüngeren Zeit aufgekommenen europaskeptischen, nationalistischen Tendenzen in den Mitgliedstaaten, das Zeug hat, eine eigenständige Theorie darzustellen oder eine ephemere Erscheinung bleiben wird, sei problematisierend angemerkt. Die Zukunft wird es zeigen.
Schimmelfennigs Beitrag beginnt mit einer kurzen Geschichte der Integrationstheorien und dem Versuch, eine Systematik derselben in einer Matrix herauszuarbeiten. Anschließend werden die drei genannten Theorien vorgestellt. Der Intergouvernementalismus, so der Autor, arbeitet mit zwei zentralen Grundannahmen, den Staaten als rationalen Akteuren (1), die angesichts von internationaler Interdependenz Interessen formulieren und Kompromisse aushandeln (2). Zahlreiche Detailaussagen und Thesen der Theorie werden vorgestellt, z.B. dass der Ansatz v.a. anhand von Vertragsverhandlungen argumentiert, wobei hier die supranationalen Organe kaum eine Rolle spielen.
Der Neofunktionalismus unterscheidet sich vom Intergouvernementalismus in der zentralen Annahme einer Eigendynamik des Integrationsprozesses, die sich in Gestalt von verschiedenen Spillover-Prozessen, die der Autor in konkrete Formen differenziert, zeigt. Die im Integrationsprozess angelegte Pfadabhängigkeit, die der Autor gleichfalls nach verschiedenen Formen differenziert, zwinge Staaten häufig zu weiteren Integrationen und verhindere Renationalisierung und Desintegration.
Den so genannten Postfunktionalismus, der eher eine Desintegrations- als eine Integrationstheorie darstellt, referiert der Autor als Reaktion auf die Renationalisierungstendenzen der vergangenen Jahre.
Abschließend versucht der Autor – fragend – eine „Theorie-Synthese“, denn die beiden Haupttheorien beziehen sich ja auf denselben Gegenstand. Er legt die Sache historisierend an. Als Basis und Ausgangspunkt sei der Intergouvernementalismus geeignet (Phase I), mit der einmal eingegangen Integration werde der Neofunktionalismus wichtiger (Phase II). Die weitere Entwicklung entscheide sich zwischen den Integrationsvorteilen und Integrationsnachteilen: „Abstrakt gesprochen kommt es auf die Balance der Effizienzgewinne und Selbstbestimmungskosten an“ (S. 23).
Der Begriff der „Integration“ gehört zu den dynamischen Begriffen. Die Realität, die er abbildet, ist damit als Prozess aufzufassen. Prozesse haben, üblicherweise, einen Anfang und ein Ende. Der Anfang der europäischen Integration i.e.S. lag sicher in den beginnenden fünfziger Jahren, die Theoretisierung darüber oblag dem Neofunktionalismus, der, wie der Autor betont, die Integrationstheorie jener Zeit lieferte. Er war nicht nur eine „Theorie des Integrationsfortschritts“ (S. 4), sondern er enthielt, mal mehr, mal weniger explizit formuliert, eine These zum Integrationsende bzw. -ziel: einem neuen europäischen Gemeinwesen. Die einzelnen Namensgebungen dazu sind bekannt.
Mitte der sechziger Jahre war mit der nationalorientierten Politik De Gaulles die „Geburtsstunde des Intergouvernementalismus“ (S. 5) gekommen. Die Dynamik des Integrationsprozesses betonte zwar auch der Intergouvernementalismus, er verfügte aber über keine Zielvorstellung, sondern dachte sich die Integration als eine Art Endlosschleife intergouvernementalen Verhandelns. Möglicherweise wäre es naheliegend, wenn der Autor diese unterschiedlichen Haltungen zum Integrationsziel mit in die von ihm vorgeschlagene anregende „Theorie-Synthese“ (S. 23) einbaute.
Vielleicht wäre es auch sinnvoll gewesen, die beiden zentralen Theorien, den Neofunktionalismus und den Intergouvernementalismus, an fundamentalen Umbrüchen, z.B. dem Maastricht Prozess oder der so genannten Eurokrise, vertiefend zu prüfen. Moravcsik (1998), Vertreter des liberalen Intergouvernementalismus, sieht im Zustandekommen des Maastricht-Vertrags eine Bestätigung seiner These, dass rational agierende Staaten als einheitliche Akteure mit materiellen (wirtschaftlichen) Interessen, vorgetragen durch Verbände u.ä., zu Integrationsverständigungen kommen. Gegen diese These lassen sich aber eine Menge Gegenargumente vorbringen: Die materiellen Interessen hätte Deutschland durchaus auch in einem System des Währungswettbewerbs weiter durchsetzen können, in Deutschland hing das Eintreten für die Währungsunion darüber hinaus an einem seidenen Faden, war also viel weniger einheitlich als von Moravcsik unterstellt. Und: Der Maastrichter Vertrag war weniger das Ergebnis von wirtschaftlichen Interessen und Kalkülen, sondern den geopolitischen Umwälzungen (einschließlich der deutschen Vereinigung) und Mitterrands „Besessenheit“ von der Währungsunion zu verdanken.
Außerdem drückt sich der Intergouvernementalismus vor der Erklärung des Spillover in die „high politics“ (Währungsunion). Der mit der Sachlogik argumentierende Neofunktionalismus hatte, auf die Währungsunion bezogen, mit der These von dem „einen Markt, mit einer Währung“ durchaus einiges auf seiner Seite. In der zwei Jahrzehnte später einsetzenden Eurokrise und erst recht in der Coronakrise wurde dann, in ersten Ansätzen, der Webfehler der Währungsunion korrigiert, wiederum ein Beleg für die Eigendynamik von Integration, wenn sie einmal in Gang ist.
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Aus Teil II
In ihrem Beitrag „Der Europäische Rat. Schlüsselinstitution der Europäischen Union“ fassen Wolfgang Wessels und Johannes Wolters den Forschungsstand – ebenso profund wie breit – zusammen. Auffällig ist (vgl. die Überschriften), dass man sich nicht so ganz einig war, ob es sich beim Europäischen Rat um die oder nur eine Schlüsselinstitution der EU handelt. Den Europaattentisten, wie dem Bundesverfassungsgericht, wäre die Alternative „die“, den Europaaufgeschlossenen die des „eine“ lieber.
Genau dieser Unterschied zeigt sich auch in den beiden Denkschulen zum Europäischen Rat, mit denen sich die Autoren eingangs beschäftigen. Für die (Neo)Intergouvernementalen sei der Europäische Rat der „Herr der Verträge“, der Prinzipal im Prinzipal-Agent-Verhältnis, das „oberste Führungsgremium einer durch die Exekutive der Mitgliedstaaten dominierten Union“ (S. 309), dem die supranationale Europäische Kommission untergeordnet ist. Für die zweite Denkschule, die supranationale bzw. föderale, stellt der Europäische Rat lediglich eine Art Unterformation des Ratssystems oder, wie die Autoren in Anlehnung an Spinelli formulieren, einen „Obersten Rat“ dar, so dass sich die Institution in das anfängliche System der EWG/EU einpasste.
Den beiden genannten Denkschulen fügen die Autoren einen dritten, eigenen theoretischen Ansatz zu, die so genannte Fusionsthese, die sie am Schluss des Aufsatz noch einmal aufgreifen. Gemäß dieser These zeige sich in der Arbeit des Europäischen Rats eine „fundamentale Evolutionslogik“ des EU-Systems, die – vertikal – auf eine Verschmelzung von nationaler und europäischer Politik hinausläuft. Durchaus unbeabsichtigt entstehe so eine „kollektiv ausgeübte Souveränität“ (S. 310), die schrittweise (neofunktionalistisch) verschränkt und vergemeinschaftet. Auf der horizontalen, der europäischen Ebene, arbeite der Europäische Rat zunehmend mit Gemeinschaftsorganen zusammen, so dass sich in einem komplexen Prozess auch hier Fusionierungen ergäben.
In den empirischen Teilen des Aufsatzes schildern die Autoren zunächst die Herausbildung und Etablierung des Europäischen Rats, von der halb-formalen Gründung 1974 auf der Gipfelkonferenz von Paris bis zu der Verankerung als EU-Organ in den Verträgen von Maastricht bis Lissabon. Heutzutage ist er als „Leitliniengeber“ und Koordinator der Wirtschaftspolitik tätig.
Anschließend schildern sie den „Club der Chefs“ und seine Arbeitsweise von der Verabschiedung des kleinen Rats für allgemeine Angelegenheiten aus dem Gremium über die Sonderformation der Eurogipfel bis zur Einführung des hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rats mit dem Lissabon-Vertrag. Dessen denkbare Rollen („Generalsekretär“, „Boss der Bosse“, „Moderator“) werden ebenso angerissen wie die bisherige Arbeit von Herman Van Rompuy und Donald Tusk.
Die Tätigkeitsfelder des Europäischen Rats, weit über die dürren Vertragsbestimmungen hinausgehend, bestimmen die Autoren als „konstitutioneller Architekt“ bei Vertragsänderungen, als „Leitliniengeber“, als Wahlinstanz, als „Krisenmanager“, als wirtschaftspolitischer Koordinator und als außenpolitische Vertretung.
Die Binnenstruktur des Europäischen Rats (heterogene Staaten, Vetorecht, Konsensprinzip) lasse eigentlich, so die Autoren, auf einen problematischen Output des Europäischen Rats schließen. In der Realität jedoch beobachte man eine „überraschende Dynamik mit hoher Produktivität an Entscheidungen“ (S. 325). Eine Art „kollektive Identität“ habe sich herausgebildet. Gemessen an der Realität scheint diese Einschätzung aber etwas zu optimistisch: Die desaströse außenpolitische Phase, vom Streit um die Jugoslawien-Politik (beginnend 1991) über den Brief der Acht (2003), das völlige Fehlen einer wirklichen Koordination in der Wirtschaftspolitik im ersten Jahrzehnt der Währungsunion (Stichworte: deutsches Lohndumping und extreme Exportorientierung) bis hin zur hegemonialen Politik Deutschlands bei der Bewältigung der so genannten Eurokrise (Merkel: „Keine Eurobonds, solange ich lebe!“) und der Verweigerung gegenüber französischen Initiativen in der Europapolitik durch Emanuel Macron (seit 2017) deuten doch auf erhebliche Ausfälle in der politischen Produktivität der Institution hin.
In ihren Schlussfolgerungen greifen die Autoren noch einmal die eingangs skizzierten Denkschulen, die jeweils Schwächen hätten, auf. Sie kommen zu einem „paradoxen Befund“ (S. 328): „Demnach agiert der Europäische Rat in seiner Funktionsweise eindeutig nach intergouvernementalen Mustern, föderalisiert die Union aber aus funktionalistischen Zwängen zugleich und verschmilzt in einem Fusionsprozess ehemals nationale Kompetenzen auf europäischer Ebene“ (ebd.). Der Europäische Rat lasse sich als „Institution kollektiven Regierens“ (ebd.) charakterisieren.
Gerne hätte man noch etwas zu den möglichen Fusionierungen der Zukunft gelesen, etwa der von Kommissionspräsident und Ratspräsident zu einem Europäischen Präsidenten (ein Belgier oder eine Belgierin) und – als letztem Schritt – der zwischen Kommission und Europäischer Rat in Richtung einer Europäischen Regierung.
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„Der Rat ist weit mehr als ein Ministerrat“ (S. 364). Diese fast paradox klingende Aussage findet sich in Uwe Puetters Text („Der Rat der Europäischen Union und die Eurogruppe – zwischen Gemeinschaftsmethode und neuem Intergouvernementalismus“) zu dem kleinen Rat, besser den kleinen Räten in ihren zehn Formationen. Puetter beschreibt mit einer Fülle von Informationen, dass die handelsüblichen Darstellungen zum Ministerrat längst überholt sind. Seine Hauptthese: Seit den Maastrichter Verträgen, verstärkt aber noch seit den europäischen Krisen (Krise der Währungsunion, Flüchtlingskrise, Brexit) habe sich das Aufgabenspektrum des Ministerrats, das bis dato aus der legislativen Beteiligung im Rahmen der Gemeinschaftsmethode bestand, um einen zweiten großen Bereich erweitert, nämlich eine Koordinierungsaufgabe im Sinne exekutiver Politiken. Dies gelte insbesondere für die Wirtschafts- und Außenpolitik.
In dem überwiegend beschreibend und informierend angelegten Aufsatz findet der Leser mannigfaltige Informationen über den „neuen Ministerrat“. Der Leser erhält reichlich Informationen, von denen hier nur einige erwähnt werden können. Mit der Koordinierungsfunktion habe sich die Arbeit des Ministerrats weg vom Technokratischen hin zu einer Politisierung bewegt (S. 336). Erstaunlich wenig Bedeutung messe der Neofunktionalismus der Institution bei (S. 338). Als Koordinationsgremium sei der Ministerrat v.a. auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik hervorgetreten (S. 344 ff.), insbesondere im Zusammenhang mit dem Europäischen Semester. Die informelle Unterformation des Ministerrats, die Eurogruppe, habe hier eine zentrale Rolle gespielt (S. 348 ff.). Ob die Arbeit des Ministerrats aber in der Realität immer so konsensorientiert, wie es der Autor schildert, war und ist, mag dahingestellt bleiben; 2015 gab es bspw. eine Kampfabstimmung in der Institution über den Grexit. Das Verhältnis des Ministerrats im institutionellen Gefüge der EU wird referiert: zum Europäischen Rat (S. 358 ff.), zum Europäischen Parlament (S. 360 f.), zur Europäischen Kommission (S. 361 f.). Die Rivalität zwischen Ministerrat und Kommission bleibt etwas unterbelichtet. Für die Zukunft könne, so der Autor, erwartet werden, dass das Modell des Vorsitzes (wie bei der Eurogruppe und dem Außenministerrat mit dem Hohen Vertreter) auf andere Ratsformationen erweitert wird.
„Der Rat ist … eine der politischen Kerninstitutionen der EU“ (S. 364), so der Autor in seiner Zusammenfassung. Bei all dem bleibe es aber dabei: „Der Europäische Rat ist in der Praxis dem Rat jedoch eindeutig übergeordnet“ (S. 336). Der benutze den Ministerrat für die politische Detail- und Alltagsarbeit, indem er Aufträge erteilt.
Mit dem neuen Ministerrat hat sich in Brüssel ein arbeitsteiliger und vielfach verflochtener und vernetzter Apparat herausgebildet (10 Formationen mit z.T. monatlichen Treffen, 150 Fachausschüsse, 2800 Beamte, 4000 jährliche Sitzungen), der seine Arbeit professionell, für die Öffentlichkeit kaum durchschaubar betreibt und der in eigentümlichem Kontrast zu all den Unkenrufen zur europäischen Krise steht.
Der Ministerrat ist zum Zwitter geworden, Zwitter zwischen legislativer und exekutiver Institution. Auf die vor dem Hintergrund der Hauptthese naheliegende Frage für die Zukunft, welche der beiden Funktionen, die legislative oder die exekutive, die Arbeit des Ministerrats in Zukunft bestimmen wird, also die Frage, ob sich der Ministerrat in der zukünftigen EU eher zur Zweiten Kammer oder eher zur Regierung transformieren wird, geht der Autor nur am Rande ein.
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Aus Teil V
„Nach einem Jahrzehnt großer Anstrengungen und Auseinandersetzungen stellt die Eurozone (EWWU) heute eine Insel relativer Stabilität in einer turbulenten See globaler Risiken dar… Um sicherzustellen, dass dies so bleibt, sollte die Politik bei der Formulierung nachhaltiger Governance-Strukturen für die EWWU eine fundamentale ökonomische, aber auch historische Einsicht beherzigen: ein überwiegend inländisches Problem wird sich niemals durch einen Kredit oder einen Transfer von außerhalb dauerhaft lösen lassen“ (S. 783). Mit diesem doch erstaunlichen Absatz endet der Beitrag Ansgar Belkes („Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und ihre Governance“).
Die „Insel relativer Stabilität“ befindet sich in einem Gewässer von austeritätsbedingter Wachstumsschwäche, Investitionserlahmung und erheblichen makroökonomischen Ungleichgewichten. Die systembedingten Nutznießer der Währungsunion – die exportierenden Staaten des Nordens – sonnen sich auf der Nordseite der Insel, am steinigen Südstrand der Insel tummeln sich die darbenden Südstaaten. Mit dem „inländischen Problem“ meint der Autor mutmaßlich die Moral-Hazard-Verschuldung und die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Südstaaten. Es gelte also im Inselsüden aufzuräumen, weiter zu sparen und die Arbeitsmärkte zu „reformieren“, um sich dem jahrelangen Lohndumping des Inselnordens anzunähern. Bloß – wo soll dann die Nachfrage für den sonnigen Norden der Insel herkommen? Eine solche Sichtweise auf die anstehenden Reformen der Eurozone hat selbst die Bundesregierung mit ihren jüngsten Vorstellungen, gemeinsam mit Frankreich unterbreitet, zum „Europäischen Wiederaufbaufonds“ zur Überwindung der Coronakrise hinter sich gelassen. Was der Autor in diesem Schlussabsatz andeutet, kann bestenfalls als eine Art Wettbewerbsföderalismus gedeutet werden, zu dem es aber nie und nimmer in Europa kommen wird, für den Staatenwettbewerb benötigt man keine EU.
Ansonsten hält sich der Autor bei seinen Vorschlägen für die zukünftige Governance auf Nebenschauplätzen auf: 1.) Mit „juristischen Widerständen“ gegen die notwendige Übertragung von Kompetenzen auf die supranationale Ebene sei zu rechnen. Er hat das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts treffend vorausgeahnt. 2.) Die Währungsunion sei für die Beitrittskandidaten „attraktiver“ zu gestalten. Wer wollte dem widersprechen?
Belges Beitrag enthält eine gute Zusammenstellung zur deutschen Mainstream-Sichtweise auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Währungsunion. Unübersehbar geht es dem Autor zentral um „Anreize“ bei der Reform der EWWU. „Entscheidend wird sein, dass die Marktsteuerung nicht durch eine Governance durch Institutionen ersetzt wird“ (S. 776). Skeptisch ist er daher gegenüber allen Vorschlägen aus Europa, die auf eine politische Reform hinauslaufen. Der „Europäische Finanzminister“ sei ein bloßes „Namensschild“ (ebd.), eine Transferunion sei abzulehnen (ebd.), eine Fiskalkapazität bzw. ein „Eurobudget“ sollte Anreize setzen (S. 775), ansonsten eher von „untergeordneter Bedeutung“ (S. 779), „Safe assets“ seien eher problematisch, Eurobonds ganz abzulehnen, nationale Staatsanleihen seien zu „de-privilegieren“ (S. 774) und mit einer Insolvenzklausel zu versehen (S. 773), Kapitalmärkte sollten weiter als „Disziplinierungsinstrument genutzt werden“ (S. 766). Mit der Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) kann sich der Autor anfreunden (S. 780 f.).
Mit marktwirtschaftlichen Anreizen zum politischen Europa – so ließe sich wohl am besten das Plädoyer des Autors zusammenfassen.
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Mit der Außenpolitik und der Verteidigungspolitik befassen sich Franco Algieri und Ronja Kempin.
Algieri („Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als Spiegelbild eines Integrationsprozesses im Wandel“) betrachtet die GASP als „zentrales Politikfeld“ der EU. Detailreich geht er auf die historische Entwicklung, die konzeptionellen Vorstellungen zur Rolle Europas als internationaler Akteur und die systemischen Rahmenbedingungen der GASP ein. Etwas rätselhaft bleibt in diesem Zusammenhang, dass die beiden großen Krisen, in die die GASP in den beiden ersten Jahrzehnten der Post-Maastricht-Ära geraten ist, in dem einen Fall nur am Rande (Jugoslawienkriege) und in dem anderen Fall, dem Irak-Krieg, gar nicht eingeht. Der „Brief der Acht“, der eine tiefe Kluft mit finsterer Geheimdiplomatie im Europäischen Rat offenbarte, wird überhaupt nicht erwähnt. In seinem Ausblick scheint der Autor eher skeptisch zu sein: Macrons Initiative für einen „Europäischen Sicherheitsrat“ will er nicht überbewertet wissen, der Hohe Vertreter sei eben kein EU-Außenminister und die Außen- und Sicherheitspolitik sei insgesamt ein von souveränen Staaten kontrolliertes Projekt.
Ronja Kempin („Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union – zwischen Integration und der Bewahrung nationaler Souveränität“) scheint etwas optimistischer. Die Autorin zeichnet den langen Weg von den ursprünglichen Planungen der fünfziger Jahre (EVG) bis zu den Aktivitäten der EU nach dem Lissaboner Vertrag nach. Als Frage wirft sie auf, ob die EU wirklich auf dem Weg zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion ist. Die beiden zentralen Probleme dorthin seien klar: das Verhältnis zur NATO und die mangelnde Bereitschaft der Mitgliedstaaten, den Weg des Souveränitätstransfers zu beschreiten. Mit dem Brexit und Trumps Infragestellung der NATO sind hier aber neue äußere Faktoren entstanden. Gleichwohl hält sie die Bereitschaft zum Souveränitätstransfer – auch von deutscher Seite – für „fraglich“.
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Fazit
Studierende erhalten mit dem Handbuch einen ersten Ein- und Überblick über die Materie, Wissenschaftler reichlich Ansatzpunkte für Vertiefungen, politische Praktiker vielfältige Orientierungshilfen für von ihnen bearbeitete EU-Politikfelder. Das Handbuch gehört definitiv in jede mit dem Thema EU befasste private und öffentliche Bibliothek.