Die Magerstufen­variante der Währungsunion

fuest

Der Buchdeckel stellt die beiden Autoren, Johannes Becker und Clemens Fuest, als dem Ordoliberalismus verbunden vor, also bleiben wir bei der Zuordnung. Vorweg: Was die vorgeschlagenen ordnungspolitischen Reformen in Hinblick auf die Währungsunion angeht, wirkt der Text unsortiert und wenig systematisch. Zuweilen gewinnt man den Eindruck, es solle möglichst alles noch einmal zusammengetragen, was sich aus ordoliberaler Perspektive gegen die Währungsunion vortragen lässt. So oder so ähnlich hat man vieles schon einmal gelesen, ohne dass es plausibler würde. Die wirklich originellen Ansätze sind selten.

1.

Das Büchlein referiert – wie angedeutet – nahezu alles, was sich an ordoliberalen Thesen zur Krisenanalyse und Lösungsstrategien zur Euro-Krise in den letzten Jahren angesammelt hat. Über allem steht als Passepartout das Haftungsprinzip, dessen Verletzung in die Krise geführt habe und dessen Stärkung aus der Krise herausführe. Die EZB betreibe mit dem OMT-Programm eigentlich verbotene Staatsfinanzierung. Eine endlich einzuführende Insolvenzordnung für Staaten könnte diese ein wenig bescheidener machen. Die automatische Verlängerung von Staatstiteln bei Eintritt eines Staates in ein ESM-Programm zöge die Gläubiger in die Verantwortung und führe zu realistischeren Risikoprämien. Deutschland sei eigentlich nicht, wie oftmals behauptet, ein Nutznießer der Währungsunion. Die Exportüberschüsse Deutschlands seien weder ein Problem noch sei es möglich oder anstrebenswert, sie zu beseitigen.

All das ist weitgehend bekannt und wurde schon in allen möglichen Variationen vorgetragen. Gemeinsam mit anderen Ordoliberalen haben die beiden Autoren auch die Überzeugung, dass die Währungsunion zu früh und mit den falschen Mitgliedern aufgestellt wurde, das europäische Experiment sei eben kein optimaler Währungsraum. Die Autoren unterscheiden sich aber von vielen ihrer wissenschaftlichen Kollegen und den politischen Repräsentanten dieser Thesen, dass sie nicht mehr hadern und zetern, sondern die Währungsunion als solche – auch in ihrer jetzigen Zusammensetzung – akzeptieren und zum Ausgangspunkt eigener Vorschläge zur Krisenlösung nehmen. Das zwingt sie auf das ihnen eigentlich fremde Gebiet der Politik. Dazu gleich mehr.

Mit der Verankerung des Haftungsprinzips als zentraler Kategorie für die Währungsunion ist dem deutschen Ordoliberalismus tatsächlich der entscheidende Coup gelungen, mit dem die wirtschaftspolitische Debattenhegemonie – mindestens in Deutschland – errungen werden konnte. Ganz unbemerkt hat sich damit ein an und für sich betriebswirtschaftlicher – auch juristischer und moralischer, v.a. aber versicherungswirtschaftlicher – Begriff auf die Ebene der Makroökonomie geschlichen, treibt dort sein Unwesen und befeuert den Nationalismus unter dem Deckmantel scheinbar berechtigter nationaler ökonomischer Interessenlagen. Nur nebenbei: Der ordoliberale Ahnherr, auf den der Begriff zurückgeht, Walter Eucken, hat ihn ausdrücklich auf den Unternehmenskontext bezogen. In den ersten zehn Jahren der Währungsunion haben sich die Kapitalmärkte keinen Deut um die Haftung der Währungsgemeinschaft für einzelne ihrer Teilnehmer geschert, der einheitliche Zins auf den Staatskredit unabhängig vom nationalen Etikett galt ihnen als normal, schließlich gehörte der einheitliche Zins ja auch zu den Versprechungen der Währungsunion, da er bei den Konvergenzkriterien als Voraussetzung derselben gefordert wurde. Es bedurfte erst eines zähen Ringens, bis den Kapitalmärkten 2009/10 von der Politik eingebläut war, dass die Währungsunion viel besser funktioniert, wenn die einzelnen Staaten als unterschiedlich solvente Akteure wahrgenommen und Risikoprämien in ihre Titel eingepreist würden.

Die Autoren ficht das nicht an. Knochentrocken wird an allen möglichen und unmöglichen Stellen das Haftungsprinzip als Schlüsselprinzip für die europäische Politik angepriesen.

Tatsächlich ist es aber so: Das No-bail-out-Prinzip reiht sich ein in die unheilvolle Geschichte negativer Integrationsbegriffe und -maßnahmen, die mehr der ultraliberalen Freihandelsideologie verpflichtet sind als der positiven, politischen Integration. Der Begriff hat unzweifelhaft aggressiv-nationalistischen Charakter und ist geeignet, die von ihm potentiell betroffenen Staaten zu desavouieren und die eigene Bevölkerung mit Ressentiments aufzuladen.

Für die Krisenanalyse findet sich in dem Büchlein folgender Satz:

„Bankenregulierung, Staatsschuldenkontrolle, Rettungsarchitektur – dies sind die drei institutionellen Mängel, die unserer Ansicht nach wesentlichen Anteil an der Entstehung und Eskalation der Eurokrise haben“ (S. 98).

Hier zeigt sich die ganze Hilflosigkeit der Autoren, vielleicht auch die Nachlässigkeit, mit der der Text verfasst wurde. Was genau sie unter der „Eurokrise“ verstehen, führen sie ebenso wenig aus wie überhaupt eine griffige Krisenanalyse fehlt. Jedenfalls benennen sie drei Krisenursachen . Die eine, die (fehlende) „Staatsschuldenkontrolle“, schließen sie an anderer Stelle aus (S. 82), die beiden anderen, (fehlende) „Bankenregulierung“ und (fehlende) „Rettungsarchitektur“, anzuführen, grenzt an Tautologie. Immerhin räumen die Verfasser ein, so jedenfalls sind einige Formulierungen zu deuten (S. 53 – 64), dass sie das Eigentliche der Krisenentstehung um die Jahreswende 2009/2010 herum nicht vollständig erklären können.

2.

Zum Buchtitel: Das Hauptbild der Autoren, die auch sonst sehr frohgemut die Bilderwelt bemühen, greift Odysseus‘ Fahrt vorbei an der Insel der Sirenen auf. Die Sirenen locken durch ihre unwiderstehlichen Gesänge die Seefahrer in den Tod. Odysseus, von Kirke gewarnt, weist, listig wie er ist, seine Krieger an, sich Wachs in die Ohren zu stopfen und ihn, weil er den betörenden Gesang genießen will, am Mast festzubinden.

Die beiden Autoren bereiten mit dem Rekurs auf die griechische Mythologie ihren listigen Weg in die Politik vor. Mit dem Odysseus-Bild sei das Thema der Selbstbindung aufgeworfen, ein in Geschichts- und Politikwissenschaft, Soziologie, Spieltheorie usw. nicht gerade neues Thema. Ein Beispiel für Selbstbindung ist bspw. die unabhängige Notenbank, der Staat versichert mit ihrer Einrichtung, dass er das Geldwesen nicht unnötig manipulieren will. Auf europäischer Ebene wären Stabilitätspakt und Fiskalpakt Beispiele für Selbstbindung, allerdings fehlt ihnen, wie die Vergangenheit gezeigt hat, die Glaubwürdigkeit. Wenn man es gehörig allgemein formuliert, sind die Verfassung und der Rechtsstaat, ja eigentlich jedes Gesetz Mittel der Selbstbindung staatlichen Handelns, weil sie vor der Willkürherrschaft schützen. So weit, so gut.

Der zentrale Schwachpunkt der Eurozone bestehe nun darin, dass sie nicht in der Lage ist bzw. war, glaubwürdige Kräfte für unpopuläre Maßnahmen zu mobilisieren (S. 127 ff.). Die Euro-Staaten binden sich nicht wie Odysseus an den Mast, sondern erliegen den betörenden Gesängen der Sirenen, d.h. die politischen Parteien werden schwach, versprechen in Wahlkämpfen das Blaue vom Himmel herunter, das sie dann über Kreditaufnahme finanzieren. So stellt sich der Ökonom die politische Welt vor. Odysseus wäre, wie viele Seefahrer vor ihm, untergegangen, wäre er nicht auf die List der Selbstbindung verfallen. Der Eurozone, der Währungsunion, wird es so gehen, wenn sie nicht die Kraft zur Selbstbindung aufbringt.

Das Odysseus-Problem der Eurozone lässt sich lösen, wenn, so die Autoren, drei Ansätze der Selbstbindung befolgt werden (S. 135 f.):
1. Neue glaubhaft sich selbst bindende Institutionen (häufig fällt auch der Begriff der technokratischen Institution) müssen her.
2. Ein glaubhafter Bestrafungsmechanismus für ein Überschreiten der Schuldenquote muss etabliert werden.
3. Zwischenstaatliche Absprachen bei der Krisenbekämpfung seien tunlichst zu vermeiden.

Später wird das konkretisiert.

3.

Das von den Autoren vorgeschlagene „Fünf-Punkte-Programm für eine stabile Eurozone“ (S. 219-225) zielt – basierend auf der Einheit von Haftung und Kontrolle und der Selbstbindung – auf eine Reform bei den „Entscheidungsverfahren in der Eurozone“:

  1. Die Bankenregulierung sollte aus der EZB herausgelöst und eine unabhängige Behörde gegeben werden. Im Rahmen der Bankenregulierung sollte auch darauf gezielt werden, dass die Banken weniger die eigenen Staaten kreditieren. Man ahnt es schon, wie das geschehen soll: mit der Unterlegung von Eigenkapital für staatliche Kreditpapiere.
  2. Um die Schuldenkontrolle zu erreichen sollten „Accountability Bonds“ eingeführt werden, die von den Staaten automatisch begeben werden müssen, wenn sie Kredite über der Grenze von 0,5 Prozent des BIP aufnehmen. Mit dieser ganz eigenen Art von Eurobonds sollen höhere Risikoprämien an den Kapitalmärkten erreicht werden.
  3. Bei der Staatenrettung durch den ESM bedürfe es einer Entpolitisierung des ESM und vor der Krise festgelegter Maßnahmen. Auch die Einführung weiterer Automatismen, wie der automatischen Verlängerung der noch laufenden Staatspapiere und der „auf Vorrat beschlossenen Kürzungen der Staatsausgaben“  wird von den Autoren vorgeschlagen.
  4. Ist ein Krisenstaat nach drei Jahren ESM-Programm nicht saniert, sollte eine „Schuldenkonferenz“ zwecks Restrukturierung stattfinden.
  5. Das Mandat der EZB sollte klarer formuliert werden, z.B. Maßnahmen wie das OMT-Programm seien zu unterbinden, auch die Bankenregulierung sollte der EZB entzogen werden.

All das wirke „unscheinbar“, sei aber von Umfang und Bedeutung her dem Maastricht-Vertrag „ebenbürtig“ (S. 222), so die Autoren. Dann spitzen sie noch einmal zu: es gehe um einen „Rückbau der Integration“ (S. 137), die Wirtschafts-, Lohn- und Sozialpolitik solle da bleiben, wo sie hingehört, auf der nationalen Ebene, Lohn- und Steuerpolitik sollten zwischen den Staaten im Wettbewerb stehen. Was noch zu koordinieren sei, solle von „technokratischen Institutionen“ (S. 223) übernommen werden. Zusammengefasst:

„Unser Programm läuft auf eine Beschneidung der Macht und des Einflusses des Europäischen Rates und des Ministerrates hinaus, auf eine Zurechtstutzung der Kommission auf koordinierende beziehungsweise beratende Funktionen und eine Verengung des Mandats für die EZB“ (S. 223).

Das allerdings ist überraschend: Die intergouvernementale Struktur des ESM-Vertrags wird von den meisten deutschen Ordoliberalen als Faustpfand gegen liederlichen Umgang mit fallenden Euro-Staaten gesehen.

Einen Euro-Finanzminister, ein Eurozonen-Parlament lehnt man ebenso ab wie die Mystifizierung des Euro („Frage nach Krieg und Frieden“), weshalb auch der freiwillige Euroaustritt entstigmatisiert werden sollte.

Um eine solche Eurozonen-Reform schmackhaft zu machen, sollten Deutschland und einige andere Staaten eine Risikoübernahme bei den Altschulden der Problemländer anbieten (S. 224). Dieser Vorschlag ist neu. Was genau unter einer „einmaligen Übernahme von Risiken“ zu verstehen ist, erläutern die Autoren indessen nicht.

4.

Das Buch singt das alte Lied der deutschen Ordoliberalen, vielleicht auch der Ökonomen überhaupt. Aus der als demütigend empfundenen, subalternen Position gegenüber der Politik heraus wird diese selbst von den mutigen Ökonomen zu mutigen Schritten der Selbstenthauptung durch Selbstbindung ermuntert. Alle europäischen Institutionen von Belang (Kommission und die beiden Räte) sollen im Wesentlichen von der Bildfläche verschwinden. Das ist antieuropäischer Fundamentalismus ohne jeden Anknüpfungspunkt für praktikable Politik. Vom Wesen der Integration haben die Autoren offensichtlich nichts verstanden. Bei Luuk van Middelaar kann nachgelesen werden, dass insbesondere die beiden Räte zum Zentrum und Antreiber der Integration geworden sind.

An die Währungsunion im engeren Sinne machen sich die beiden Autoren mit einer Radikaldiät heran. Der EZB als deren Zentrum soll, wie gesehen, die Bankenregulierung entwunden werden. Ein wesentliches Mittel zur Deflationsbekämpfung, das OMT-Programm, also die Interventionsmöglichkeit auf den Sekundärmärkten für Staatspapiere, soll ihr untersagt werden. Da den Autoren offensichtlich nur Inflation als ökonomisches Problem bekannt ist, soll die Aufgabe der EZB strikt auf die Inflationsbekämpfung beschränkt bleiben. Das wäre die Magerstufe einer Währungsunion. Nimmt man noch die fiskalischen Vorschläge hinzu – die Accountability Bonds und die auf Vorrat beschlossenen Kürzungen der Staatsausgaben sowie das Faible für die Staatsinsolvenz – dann wird die Schwäche der beiden Autoren für Deflationspolitik noch deutlicher. Aus der Magerstufen-Währungsunion würde dann ganz schnell die Schwundstufe der Währungsunion.

Auf die naheliegendste aller Fragen gehen die Autoren nicht ein: Wie und in welchem Zustand wäre die Währungsunion aus der großen Krise von 2008 und der nachfolgenden Euro-Krise 2010 mit dem Reglement der Magerstufen-Währungsunion und dem Fiskal-Automatismus herausgekommen? Die Frage wird nicht gestellt, weil die Antwort auf der Hand liegt. Um die Seefahrer-Metaphorik der Autoren wieder aufzugreifen: Das vor lauter Selbstbindung manövrierunfähige Schiffchen wäre krachend gegen die Klippen gefahren. Angesichts der kaum verhohlenen Begeisterung der Autoren für die Selbstreinigungskräfte der Krise, die Staateninsolvenz, Automatismen und Regelbindung werden die Autoren das nicht als Problem erkennen. Der Sache nach landen sie dann doch noch bei den ominösen Gestalten, die von einer Auflösung der Währungsunion fabulieren.