Alles wird gut: Die USA werden wieder Vereinigte Staaten. Wie und warum die Polarisierung überwunden wird

 

Stephan Bierling, Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie, München 2024, Verlag C.H.Beck.

 

Wenn europäische politische Beobachter in dieser Zeit auf die USA blicken, packt sie die schiere Verzweiflung. Sie registrieren eine abgrundtiefe Spaltung des Landes. Zwei etwa gleichstarke Lager stehen sich gegenüber, und eine Überwindung der Spaltung ist ebenso wenig absehbar, wie die Ursachen der Spaltung greifbar sind. Hoffnung stellt sich nur ein, wenn bei den kommenden Wahlen die demokratische Kandidatin, Kamala Harris, den Sieg davonträgt. Im Fall eines Sieges von Donald Trump dräuen, so die politischen Beobachter, wahre Untergangsszenarien, bis hin dazu, dass sich die USA zu einem autokratischen oder gar faschistischen System verwandelten.

Gegenüber diesen Beobachtungen setzt Stephan Bierling in seinem jüngsten Buch einen eindeutigen Kontrapunkt. In zehn Kapiteln beschreibt er in historischen Querschnittsanalysen das politische System der USA und gibt im elften Kapitel einen Ausblick auf die Zukunft der Demokratie, der sich fundamental von den Untergangsszenarien absetzt.

Für das politische System der USA gelte, wie es im Klappentext heißt: „Ältere Einführungswerke in das politische System der USA besitzen im Grunde nur noch historischen Wert – so dramatisch haben sich die Zustände in der Supermacht in den letzten drei Jahrzehnten verändert… (All das, was die USA früher auszeichnete, d.Verf.) ist längst überholt oder steht auf der Kippe.“

Die zentrale These des Textes lautet: „Die parteipolitische Polarisierung ist das zentrale Problem für die Funktionstüchtigkeit des amerikanischen Staatswesens, mehr noch, sie ist eine Bedrohung der Demokratie an sich“ (S. 260). Einst hätten die USA und ihr Staatswesen Mäßigung, Kompromiss und checks und balances ausgezeichnet (ausführlich dargelegt in Kapitel 1). Seit drei Jahrzehnten (Klappentext) bzw. einem halben Jahrhundert (S. 260) – die zeitliche Periodisierung schwankt hier etwas – greife stattdessen die Polarisierung um sich.

In den historisch angelegten zehn Kapiteln wird der Leser/die Leserin reichlich entlohnt für seine/ihre Lesearbeit. Nur drei Beispiele:

  • In Kapitel 6 („Aufstieg zur dominanten Regierungsgewalt: Der Präsident“) zeichnet der Autor den Prozess nach, wie der Präsident zur dominierenden Figur im amerikanischen Regierungssystem wurde. Das war weder in der Verfassung noch in den Federalist Papers so angelegt, im Gegenteil. Ursprünglich sollte der Kongress das Machtzentrum sein. Die amerikanische Demokratie war anfänglich nicht als Präsidialsystem gedacht. Erst mit Franklin Delano Roosevelts Präsidentschaft und der Antikrisenpolitik nach der Weltwirtschaftskrise sowie dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg erfuhr das Amt einen „enormen Machtschub“ (S. 139). Für die Gegenwart, so der Autor, gilt: „Die Rolle des Präsidenten im Regierungssystem ist heute größer als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte“ (S. 164). Das gilt für alle Bereiche der nationalen Politik, insb. die Außenpolitik, am wenigsten für die Innenpolitik. Selbst im Inneren der Exekutive ragt der Präsident hervor: Er ist zugleich der Regierungschef, verfügt über eine mächtige Präsidialbürokratie, das Executive Office of the President (mit 2000 Mitarbeitern), in dem die wichtigsten Entscheidungen in kleinen Zirkeln, meist ohne Einbezug der Ministerien, gefällt werden (vgl. S. 142 ff.).[1]

  • In Kapitel 9 („Vom Schiedsrichter zum Mitspieler: Die Gerichte“) steht der Supreme Court, das Verfassungsgericht, im Mittelpunkt. Geschildert wird dessen Politisierung im Laufe der Geschichte, zentrale Urteile werden aufgegriffen und eine Einordnung vermittelt („mächtigstes Gericht der Weltgeschichte“, S. 226). Der Leser/die Leserin erfährt auch das Folgende zum Gebäude des Supreme Courts (zitiert, weil es so schön ist): „Bei der Ausstattung des neuen Sitzes des Supreme Court kam mehr Marmor zum Einsatz als in irgendeinem anderen Gebäude der USA. Zum ‚Marmorpalast‘, so schon bald sein Spitzname, mit einem Portikus mit 16 korinthischen Säulen und den Worten ‚Equal Justice Under Law‘ im Fries führen 44 breite Stufen hinauf. Der Gerichtssaal mit seinen 24 Säulen misst 30 mal 25 Meter und ist gut 13 Meter hoch. Unter der Decke zeigen Reliefs 18 historische Gesetzgeber wie Hammurabi, Moses, Solon, Konfuzius, Mohammed oder Napoleon. Auf der erhöhten Bank aus honduranischem Mahagoni ist der Vorsitzende Richter in der Mitte platziert, flankiert nach Seniorität abwechselnd rechts und links von den Beigeordneten Richtern“ (S. 219 f.).

  • In Kapitel 10 („Die Unvereinigten Staaten: Der Föderalismus“) hält Bierling zunächst fest, dass die USA weltweit zu den wenigen föderalistisch organisierten Staaten zählen (90 Prozent der Staaten sind zentralistisch organisiert). Dabei ist der US-Föderalismus ausgeprägter als anderswo. Zentrale Lebensbereiche, darunter die Sozial-, Bildungs- und Energiepolitik, Waffengesetze, Todesstrafe etc. sind in den Bundesstaaten höchst unterschiedlich geregelt (vgl. S. 238). Der Autor schildert weiter, dass Republikaner und der Supreme Court tendenziell auf der föderalistischen Seite, Demokraten eher auf der bundesstaatlichen Seite stehen. Ein weiteres Phänomen, das der Autor herausarbeitet, ist die parteipolitische Polarisierung innerhalb der Bundesstaaten: „Die Staaten verkörpern immer weniger die Vielfalt eines riesigen heterogenen Gemeinwesens, sondern sind Schlachtfeld der Kulturkriege und Antreiber der parteipolitischen Polarisierung“ (S. 259). Die in der Öffentlichkeit gelegentlich diskutierte Möglichkeit von Sezessionen oder eines Zerfalls der USA in rote und blaue Staaten spricht der Autor nur am Rande an (S. 261), da er eine solche Zukunft offensichtlich für unwahrscheinlich hält.

Bierling macht also die parteipolitische Polarisierung für die Demokratiekrise in den USA aus. Er vermittelt einen detailreichen Überblick über alle Facetten der Polarisierung im politischen System, beschäftigt sich mit den „Polarisierungsunternehmern“ und malt die Stilblüten, die sie hervortreibt, aus. Nur, und das ist auffällig, auf die Ursachen der Polarisierung geht er nicht ein. Dabei legt er mit seiner Periodisierung selbst eine Spur, die er mit einer Ausweitung seiner Argumentation in die Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte nachvollziehbar hätte vertiefen können. Vor gut einem halben Jahrhundert ging wirtschaftsgeschichtlich die Periode von Bretton Woods unter, vor gut drei Jahrzehnten setzte, nach einer Übergangszeit von einem Jahrzehnt, der Formwandel des Kapitalismus in den USA ein, der Übergang zum Finanzkapitalismus und mit etwas Verzögerung die technologische Revolution, welche die reich gewordenen politisierenden Unternehmer hervorgebracht hat. Es fällt auf, dass der Autor diese neue Kaste mit ihren libertären Anwandlungen (Musk, Thiel, die Kochs etc.), selbst Treiber der Polarisierung, kaum unter die Lupe nimmt. Zu diesem Einwand gehört auch, dass die Polarisierung im politischen System kein Alleinstellungsmerkmal der USA ist, sondern die Staaten des Westens fast durchgehend betrifft. Auch dazu finden sich keine Ausführungen des Verfassers.

Für die aktuelle Debatte hochinteressant ist das Schlusskapitel 11, es trägt die Überschrift „Todeskampf oder Neubelebung: Die Zukunft der Demokratie in Amerika“. Der strikt eingehaltenen politikwissenschaftlichen Selbstbeschränkung folgend siedelt der Autor seine Thesen zur Zukunft der Demokratie in den USA fast ausschließlich auf der politischen Ebene an, gegliedert nach vier Ebenen, und reiht sie nach stochastischer Reihenfolge: „Änderung der Verfassung“, „Gesetzliche und prozedurale Reformen“, „Politische Elite“ und „Gesellschaft“. Es fällt auf: „Wirtschaft“ fehlt. Der Autor hält sich rigoros an die Selbstbegrenzung der politikwissenschaftlichen Disziplin, durchbricht sie dann aber doch auf den letzten Seiten, wenn er in die Soziologie eintaucht. Die Frage ist, ob das reicht.

„Verfassung“

Die Änderung der Verfassung, politisch eigentlich der zentrale Hebel, hält der Autor für einen „wenig erfolgversprechenden Weg“ (S. 261). Wahlsystem, Lebenszeitberufung der Verfassungsrichter und Föderalismus seien zwar anachronistische Kennzeichen des politischen Systems. Aber: „Von allen Demokratien haben die USA die am schwierigsten zu reformierende Verfassung“ (S. 263).[2]

„Gesetzliche und prozedurale Reformen“

Das scheint dem Autor „realistischer“ (S. 264). Die Abschaffung solcher politischen Albernheiten wie Filibuster, Gerrymandering, The-Winner-Takes-All-Prinzip und bestimmter Züge des Föderalismus könnte helfen, insbesondere wenn der konsequente Übergang zum Verhältniswahlrecht, dem einzig demokratischen Wahlrecht, gelänge.

„Politische Elite“

Aber all das sei nicht „vielversprechend“ (S. 269). Es komme auf die Politiker der Polarisierung an, sie müssten zurückgedrängt werden. Die „Hauptschuld“ (ebd.) an der Polarisierung, so der Autor, trügen die Republikaner, wobei auch die Demokraten nicht zurückstünden. „Künftig braucht es Führungsfiguren, die aus der einbetonierten Konfrontation zwischen Republikanern und Demokraten ausbrechen“ (S. 270). Vermutlich sieht er in der Kür von Harris einen Lichtblick.

„Gesellschaft“

„Im Letzten kommt es auf die Bürger an“ (S. 271), und das eröffne eine Perspektive. Langfristig setze sich die gemäßigte Mitte durch. In der Wirtschafts- und Außenpolitik gäbe es genügend Bereiche des Konsenses zwischen Demokraten und Republikanern. Dem extremen Pessimismus von politischen Beobachtern, ihrer Verzweiflung über die Polarisierung setzt Bierling eine erstaunliche Gegenposition entgegen. „Das gewichtigste Argument, dass sich die USA nicht dauerhaft in Kulturkriegen verstricken müssen, freilich lautet: Die Mehrheit der Bevölkerung ist gemäßigter, als Polarisierungsunternehmer und Parteiaktivisten annehmen“ (S. 274). Insbesondere der bevorstehende demographische Wandel werde dies befördern: Schwarze, Hispanics und Asien-Amerikaner seien Gruppen der politischen Mitte, und die stellten bis zur Jahrhundertmitte die Mehrheit der Bevölkerung. Die Sache mit dem „Todeskampf“ war also nicht ganz ernst gemeint. Langfristig wird alles gut.

Fazit: Eine überaus lesenswerte Monographie zur Demokratie in den USA, die zum Weiterdenken anregt.

[1]              Es ist eine Ironie der Geschichte, dass in den beiden ersten Demokratien der neueren Geschichte, den USA und Frankreich – beide hervorgegangen aus Revolutionen gegen die Monarchie – Präsidialsysteme entstanden sind, die auf der Skala der Regierungssysteme ziemlich nahe an der Monarchie angelagert sind. Pointiert zum Ausdruck kam dies jüngst, als nach der jüngsten Entscheidung des Supreme Court zur Möglichkeit der Strafverfolgung eines US-Präsidenten dies ausgeschlossen wurde. Die Richterin Sonia Sotomayor dazu: „Bei jeder Ausübung von Amtsgewalt ist der Präsident jetzt König, der über dem Gesetz steht“ (S. 165).

[2]              Der Verfasser geht mit der Verfassung nicht nur behutsam um, sondern nimmt sie auch immer wieder als Maßstab für eine Neubesinnung. Und das bei einer Verfassung mit ziemlich fragwürdigen Fragwürdigkeiten (Exzeptionalismus etc.), reichlich Anachronismen und markanten Merkmalen der Zeit- und Entstehungsbedingtheit.