Wie die realistische Theorie auf die internationale Politik blickt. Von Illusionen, Macht und Ordnungen

 

Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens, Bonn 2023, 199 Seiten (Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Original: Beck-Verlag, 2016).

 

Das Büchlein ist in der Erstauflage bereits 2016 erschienen, jetzt hat es die Bundeszentrale für politische Bildung in einer aktualisierten und um ein Nachwort zur „Zeitenwende“ erweiterte Fassung neu aufgelegt. Es ist unter drei Gesichtspunkten von Interesse: 1.) Es enthält ein Plädoyer für den Realismus als Theorie der internationalen Politik. 2.) Es trägt schonungslos die Illusionen des Westens zur internationalen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges zusammen. Und es entwickelt 3.) eine These über den gegenwärtigen Zustand der internationalen Politik.

 

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Den eigenen Ansatz charakterisiert Masala so: Ausgangspunkt ist die Annahme, „dass internationale Politik primär durch das Streben nach Macht gekennzeichnet ist. In einer Welt, in der es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die darüber wacht, dass Regeln eingehalten werden und die, wenn Regeln verletzt werden, diese automatisch sanktioniert, sind Staaten stets um ihre eigene Sicherheit besorgt. Und um diese zu garantieren, streben sie nach Macht. Dadurch entsteht zwischen Staaten ein Wettbewerb, der durchaus in Krieg münden kann. Großmächte sind in dieser Sichtweise die eigentlichen und zentralen Antriebskräfte der internationalen Politik. Sie ringen miteinander um regionale und letzten Endes auch um globale Vorherrschaft. Ihr Handeln wird nicht durch eine Orientierung am Allgemeinwohl motiviert, sondern durch nationale Interessen (was immer sie dafür halten). Institutionen, Regeln und Normen sowie das Völkerrecht haben in meiner realistischen Sichtweise eine eher nachrangige Bedeutung zur Erklärung der internationalen Politik“ (S. 16).

Hauptfeind des Verfassers ist die liberale Theorie der internationalen Politik, deren optimistische Betrachtungsweise er ganz offensichtlich nicht teilt, ebenso wenig wie den Nutzwert der Unterscheidung zwischen „guten“ und „bösen“ Staaten. Auch mit der Annahme, dass Demokratisierung und Kooperation zur Verbesserung der internationalen Politik beitragen könnten, kann sich der Verfasser nicht anfreunden.

Realismus soll also der Leitfaden in der Theoriebildung und der Politikberatung zum Internationalen sein. Dagegen ist nichts einzuwenden, wie sollte man etwas gegen Realismus haben. Der Fairness halben muss man allerdings hinzufügen, dass der Realismus raum-zeitlich ganz spät an der internationalen Politik ansetzt. Wenn alle anderen Politikberater (des Liberalismus, des Institutionalismus und des Konstruktivismus) mit ihren Vorschlägen fertig sind, kommt der Realismus aus dem Gebüsch und plärrt „Alles Illusion!“ Dazu passen auch die eher seichten Politikberatungen des Verfassers für die bundesdeutsche Außenpolitik: 1.) sich nur „selektiv“ international einzumischen und wenn, dann 2.) nur in Kooperation mit anderen, also nach der Olaf-Methode (S. 155 ff.).

Dass Masala in dem etwas eifernden Plädoyer für den Realismus auch höchst problematische Einschätzungen unterlaufen – vor allen anderen: Institutionalisierungen sind in der internationalen Politik „nachrangig“, – sei zunächst nur am Rande vermerkt. Wenn der Westen in der heraufziehenden neuen Blockbildung noch einen strategischen Vorteil hat, dann sind es seine Institutionen (NATO, EU).

 

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Ausgesprochen erfrischend lesen sich die Passagen, in denen sich Masala als Drachentöter betätigt, wenn es also gegen den Drachen „Liberalismus“ in seinen verschiedenen Gestalten geht. Der erste Drache, den er erledigt, ist die „Demokratisierung“ (S. 21 ff.), deren Ausbreitung in der Welt friedensstiftend wirken sollte. Der 1990 einsetzende Traum, so der Autor, sei drei Jahrzehnte später, ausgeträumt, denn die Entwicklung von Demokratie sei viel „voraussetzungsreicher und eher in Jahrzehnten als in Jahren zu messen“ (S. 28). Der zweite Drache steht für die Vorstellung von den segensreichen Wirkungen militärischer Interventionen, getarnt als humanitäre Interventionen (S. 32 ff.). Zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte kam es, so der Autor, zu mehr militärischen Interventionen (des Westens) wie in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges. Die Ergebnisse sind bekannt: verlorene Kriege, menschliches Elend, failed states, Instabilität, Beförderung des Terrorismus. Der nächste Drache, der dritte, der erledigt wird, betrifft die internationalen Institutionalisierungen (S. 46 ff.). Internationale Organisationen sollten die globale Politik stabilisieren. Aber wer soll diese These vertreten haben? Sicher nicht die USA, die nach dem Ende des Kalten Krieges begannen, die UNO zu schwächen, die NATO und in deren Windschatten die EU aus Eigeninteresse zu erweitern und zu festigen. Die in diesem Themenkomplex angesiedelten Thesen des Autors – die NATO suche weiter nach einer Aufgabe (S. 55), NATO und EU seien in Folge der Erweiterungen geschwächt („Als Instrumente globaler oder regionaler Ordnungspolitik haben sie im 21. Jahrhundert keine Relevanz“, S. 59) – sind so nicht haltbar. Der vierte Drache, den Masala zerstört, ist der der Verrechtlichung (S. 60 ff.). Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen (Einrichtung von Strafgerichtshöfen, Schiedsgerichtsverfahren im Rahmen der WTO usw.), so war die Hoffnung, könnte für mehr Gerechtigkeit, Stabilität und Sicherheit sorgen. Da der Westen, insb. die USA, sich aber selbst nicht um das Völkerrecht scherten (Kosovo, Irak), ist auch diese Illusion zerplatzt.

All diese großen Illusionen des „siegreichen“ Westens zerstoben in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges. Und der Autor fügt im Verlauf seiner Darstellung noch weitere geplatzte Illusionen hinzu: die Illusion, es ließen sich heutzutage noch große Sicherheits- und Stabilitätsstrategien entwickeln (S. 152 f.), die Illusion, es ließe sich wertebasierte Außenpolitik betreiben, so die Annahme der „Kreuzritter des Guten“ (S. 154), die Illusion, große Kriege würden unwahrscheinlich, da sie zu hohe Kosten verursachten (S. 164 f.), und schließlich die Illusion, dass ökonomische Interdependenzen („Wandel durch Handel“) zivilisierende Wirkung auf die internationalen Beziehungen zeitigten (S. 171 f.).

 

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All dieser trunkenen Politik des Westens und ihrer Theoretisierungen im Liberalismus und Institutionalismus setzt Masala seine realistische Theorie der internationalen Politik entgegen. Internationale Politik fuße auf einem „anarchischen internationalen System“ (S. 60, 153), das „keine den Staaten übergeordnete Zwangsgewalt“ (S. 16, 153) (mit „automatischen Sanktionsmechanismen“) kenne. In diesem System zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden, führe zu nichts (S. 62), da sich alle gleich verhielten, eine nihilistische Sichtweise, die so manchen politischen und medialen Akteur in Deutschland schlucken lassen dürfte, hat man sich doch nach Beginn „des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges“ (und was der Tautologien mehr sind) moralisch gerade so richtig aufgeblasen und in Positur gebracht. In der internationalen Politik agierten Großmächte und Mächte, die nicht kooperationsbereit sind, über „keine gemeinsame Idee“ (S. 150) für die Kooperation verfügten und nichts kennten als Macht, Interessen und das Recht des Stärkeren.

Oben wurde bereits auf eine Schwäche dieser Perspektive auf die internationale Politik hingewiesen: die Geringschätzung von Institutionalisierungen. Die Hauptschwäche liegt aber woanders und aus ihr folgen Konsequenzen für die Hauptthese des Textes. Die Hauptschwäche in Marsalas Blickweise auf die internationalen Beziehungen liegt in seiner Charakterisierung des internationalen politischen Systems als anarchisches System. Anarchie unterstellt einerseits Gleichheit der Akteure, andererseits Beziehungslosigkeit der Akteure. Beides sind unzulängliche Beschreibungen des internationalen Systems und seiner Beteiligten. Statt „Anarchie“ als Ordnungsbegriff der Wahl empfiehlt sich der Begriff „Hierarchie“ (einschließlich der darin angelegten Begriffe Macht und Einfluss). Es gibt eine begrenzte Anzahl von Akteuren, die am Spiel „internationale Politik“ teilhaben, wobei die Zahl nicht identisch ist mit der Mitgliederzahl der UN, sie ist erheblich kleiner. Von Dänemark als internationalem Player zu sprechen, macht sicher wenig Sinn. Territoriale Größe und Lage, Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und militärische Stärke sind die entscheidenden Dimensionen, wobei die militärische Dimension sicher die härteste Währung darstellt. Gemessen in dieser Währung sind die USA in Quantität und Qualität die einzig verbliebene Supermacht, die in der Lage ist, weltweit zu agieren. Nach den USA kommt lange lange nichts. Die beiden nächsten in diesem Zusammenhang Verdächtigen, Russland und China, können als Groß- oder Weltmächte bezeichnet werden, die in ihrem Aktionsradius aber deutlich auf Nähe zu ihrem eigenen Territorium beschränkt sind und sich so auch verhalten. Danach folgen eine Reihe von Mächten, von denen eine Gruppe über Atomwaffen verfügt und von daher eine gewisse Rolle in der internationalen Politik spielen kann, dann Staaten, die über eine gewisse Wirtschafts- und Technologiekraft (G-7, G-20) verfügen, schließlich solche, die unter regionalen Gesichtspunkten in der Bevölkerungsgröße herausragen (z.B. Brasilien für Südamerika). All das ist mit „anarchischem internationalen System“ falsch beschrieben.

Alles andere als Anarchie ist auch, dass sich Staaten in wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bündnissen zusammentun. An erster Stelle zu erwähnen sind für die Gegenwart in diesem Zusammenhang die NATO und die EU. Geschichtlich die NATO und der Warschauer Pakt. Auch kann nicht behauptet werden, dass zwischen den Staaten bzw. Blöcken keine Kommunikation bestehe. Im Kalten Krieg gab es sicherheitspolitische Absprachen und Abrüstungsverträge. Auch in der Gegenwart gibt es Formen der Kommunikation, die im Wesentlichen rund um das Abschreckungspotential der Kernwaffen angesiedelt sind. Die NATO bzw. die USA haben sich vor der russischen Invasion nicht dazu hinreißen lassen, eine Gegenreaktion offen zu lassen, also „Strategische Ambiguität“ walten zu lassen, wie die USA es für Taiwan tun (eine Einladung für Russland und v.a. eine der vielen Enttäuschungen für die Ukraine).

All das und noch vieles mehr spricht dagegen, vom internationalen politischen System als anarchischem System zu sprechen. Das führt uns zu der Hauptthese von Masalas Büchlein. Sie lautet: „Die Welt des 21. Jahrhunderts ist in Unordnung (Herv.d.Verf.). Ordnung wird sich weder auf der globalen noch in weiten Teilen dieser Welt regional einstellen“ (S. 159). Dazu wüsste man natürlich gerne, was sich der Autor unter einer internationalen Ordnung, die in Ordnung ist, vorstellt. Oder auch: Entsprach die internationale Welt des Kalten Krieges einer ordentlichen Ordnung?

Glaubt man die einzelnen im Text verstreuten Puzzlestücke zusammen, ergibt sich in etwa folgendes Bild. Internationale Ordnung ist für Masala eine konstruktivistisch angelegte Welt mit einer „übergeordneten Instanz“ (S. 153), die den Staaten und der Staatenwelt Regeln setzt, die sie zu befolgen haben; danach kommen Großmächte ins Spiel, die die internationale Politik kooperationsbereit und verständnisvoll mit einer „gemeinsamen Idee“ managen (S. 150, 180), die nicht auf nationalen Interessen, sondern auf dem „Allgemeinwohl“ aufbaut (S. 16). Soll das eine Karikatur der liberalen Theorie sein? Man weiß es nicht. Soweit ich die Sache überblicke, gab es eine solche Ordnung noch nie in der Weltgeschichte, selbst zu Hochzeiten der Imperien und des Imperialismus nicht. Sollte es dann etwa so sein, dass es noch nie internationale Ordnungen gab? Ist das die These des Realismus? Immer nur Anarchie?

Wo kommt die neue „Weltunordnung“ her oder – umgekehrt – warum kann es keine Weltordnung mehr geben? Eher nebenbei formuliert Masala: „Die Natur von Macht [hat] sich grundlegend verändert“ (S. 150). Der Autor deutet 1.) für den politisch-militärischen Bereich an, dass große in diesem Sektor machtvolle Staaten sich nicht mehr einfach durchsetzen könnten, womit wohl die Erfolglosigkeiten der US-amerikanischen Missionskriege gemeint sind. Und für die „ökonomischen Machtmittel“ hält er 2.) fest, dass „neben Staaten, transnationale Wirtschaftsunternehmen, unsichtbare Märkte und Nicht-Großmächte“ (S. 151) eine immer größere Rolle spielten. Beides allerdings, so der bescheidene Einwand, ließ sich aber schon für die Zeit des Kalten Krieges feststellen.

Im Nachwort der aktualisierten Auflage, nach der „Zeitenwende“ verfasst, kommen Masala dann doch Zweifel, ob die These von der „Weltunordnung“ stimmt. Einige seiner Prognosen von 2016 haben sich schließlich nicht bewahrheitet. Nimmt der Weltgeist doch wieder die Gestalt der Bipolarität (und damit der Ordnung) an (S. 179 f.)? Masala: Das mögen die Chinesen zwar anstreben, sie sind aber noch weit davon entfernt (was militärisch gesehen stimmt). Das Bündnis mit Russland, einer absteigenden Macht, sei „keine Allianz für die Zukunft“ (S. 180). Warum eigentlich nicht? Und die BRICS-Formation? Zu konstatieren wäre aber auch: Die Durchsetzungsfähigkeit des Westens mit den USA an der Spitze sinke beständig. Ergo: „Es bleibt also bei einer Weltunordnung, … in der die auf- und absteigenden Mächte sich weiterhin nicht als Manager des internationalen Systems im 21. Jahrhundert verstehen“ (S. 180).

Man kann die Sache auch anders sehen: Es gibt spontane Ordnungen, die Masala nicht kennt, und konstruktivistische Ordnungen, die er kennt. Die Ordnung des Kalten Krieges (1947-1990) war eine Mischung. Sie entstand als spontane Ordnung im Sinne von ungeplanter Ordnung zwischen zwei Systemen, Westen und Osten, die einander feindlich mit Aufrüstung, Systemkonkurrenz und einem gefesselten Vernichtungswillen gegenüberstanden. Sie wurde später um konstruktivistische Elemente (KSZE, Ostpolitik, Abrüstungsvereinbarungen usw.) angereichert. Die darauffolgende Ordnung der „Unipolarität“ der US-Hegemonie (1990-2020) war eine spontane Ordnung, die aus dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers resultierte und auf keinerlei offizieller Verständigung beruhte. Sie zeichnete sich einerseits durch einen gewaltigen wirtschaftlichen Globalisierungsschub und andererseits einen ungebremsten internationalen „Gestaltungswillen“ der US-Administration aus. Die gegenwärtig entstehende neue Ordnung wird die Unipolarität ihrer Vorgängerin überwinden und in ihrer Anfangszeit eher Züge einer spontanen Ordnung aufweisen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sich eine neue Bipolarität herauskristallisieren wird, für deren einen Pol mit dem „Westen“ bereits eine Begrifflichkeit existiert. Der andere Pol sucht sich noch seine Begrifflichkeit. Was seine Mitgliederkartei angeht – und die des Westens ebenso –, sollte man die Zuordnungen internationaler Organisationen wie dem IWF für die Begriffe „Industrieländer“ und „Schwellenländer“ zu Rate ziehen.