Wissensbildung um die Europäische Union

Berthold Rittberger, Die Europäische Union. Politik, Institutionen, Krisen, Verlag C.H. Beck, München 2021.

Der kleine Band (125 Seiten) ist in der Reihe „Wissen“ im Beck-Verlag erschienen und verfolgt genau dieses Anliegen, das Wissen um die EU zu verbreiten. Er ist zwar (politik)wissenschaftsbasiert, möchte aber nicht die Europawissenschaft vorantreiben. Das Büchlein ist flüssig durchformuliert, kommt ohne jedes Zitat aus, ohne Fußnoten und enthält im Anhang einige Hinweise auf weiterführende Literatur, eine knappe Zeittafel zur Geschichte der EU und eine Synopse zu den wichtigsten Organen der EU. Es gliedert sich in drei Teile: I. Die Schwerkraft der Marktintegration: Wofür die EU zuständig ist, II. Tagesgeschäft und Meilensteine: Wie die EU entscheidet und III. Sogkräfte und Fliehkräfte: Die Dynamik europäischer Integration.

Die Leitidee des Verfassers ist, die „Schwerkraft der Marktintegration“ herauszuarbeiten (Teil I). Weitgehend wertungsfrei und mit knappen historischen Rückblicken arbeitet er hier die verschiedenen Zuständigkeitsbereiche der EU von der Agrarpolitik über den Haushalt bis zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) heraus. Es gilt: je weiter vom Markt entfernt der Politikbereich ist, desto weniger wird er europäisch bestimmt. Aber auch die Innenpolitik wurde „schleichend europäisiert“ (S. 40 ff.) (Schengener Abkommen, Migrationskrise). Das gelte nicht für die Außen- und Sicherheitspolitik (S. 46 ff.), die weiter weg liegt von der „Anziehungskraft der Marktintegration“ (S. 51). Mit Blick auf die WWU ließen sich Einwände formulieren: 1.) Die Währungsunion ist keineswegs als „Liberalisierungsmaschine“ (Streeck) (S. 12) zu interpretieren, sondern eher als ihr Gegenteil, da sie die Währungskonkurrenz beseitigt. 2.) Artikel 125 AEUV spricht auch nicht, wie in Deutschland oft behauptet wird, von einem Haftungsverbot (S. 26), sondern stellt die Nicht-Haftung lediglich fest. 3.) Auch ist die EZB nicht zuständig für die Durchsetzung der Wirtschafts- und Währungspolitik (rückwärtiger Buchdeckel); die Wirtschaftspolitik wird von den beiden Räten intergouvernemental koordiniert.

In Teil II schildert der Verfasser das Regierungssystem der EU und geht der Frage nach ihrem politischen Charakter nach. Das ist zwar alles nicht neu, setzt aber doch Nuancen, ist kompakt referiert und auf dem neuesten Stand. Für die Kommission wird festgestellt: „Aufbau und Funktionsweise … ähneln denen einer Regierung“ (S. 58) und für den Europäischen Rat, dass er als „Kommandobrücke der EU“ (S. 61) bezeichnet werden kann. Als Gründe für den Machtzuwachs des Europäischen Parlaments gibt der Verfasser einerseits die „Logik des EU-Integrationsprozesses“ (S. 66), andererseits dessen „eigene Ungeduld“ (S. 67), die sich bei dem Spitzenkandidatenmodell gezeigt habe, an. Gut herausgearbeitet wird auch die Konstitutionalisierung der EU-Rechtsordnung, für die maßgeblich der Europäische Gerichtshof mit seinen Grundsatzentscheidungen verantwortlich ist. Das Wesen der EU charakterisiert der Verfasser so, dass sie „Attribute von Staatlichkeit“ (S. 91) angenommen habe. Und zusammenfassend: „Die EU ist primär ein Regulierungsstaat und kein Interventionsstaat mit eigener Steuerpolitik und weitreichender Umverteilungspolitik“ (S. 92). Staatlichkeit sei ein „dynamischer Prozess“ und in diesem habe die EU an Staatlichkeit gewonnen (S. 93).

In Teil III geht der Verfasser den Sogkräften (Spillover, Krisenbewältigung, öffentliche Unterstützung) und Fliehkräften (Politisierung, Demokratiedefizit, Tabuisierung Europas) nach. Er registriert ein Aufkommen von Euroskeptizismus und Populismus und eine neue Konfliktlinie, die des Identitätskonflikts, eine Art Euphemismus für kruden Nationalismus. Mit Blick auf die Zukunft Europas fragt sich der Verfasser, wie die EU aus der Krise gelangen könne. Hier ließen sich Einwände anbringen. Zunächst beklagt er mit Grimm die „Überkonstitutionalisierung des Binnenmarkts“ (S. 122). Aber: Wer dem Rechtsstaat den Status einer unabhängigen, eigenen Gesetzlichkeiten folgende Größe beimisst, muss eben auch mit der Dynamik europäischer Rechtsstaatlichkeit rechnen. Weiter beklagt er, dass die Parlamente während der Rettungspolitik zu „bloßen Erfüllungsgehilfen der Regierungen degradiert wurden“ (S. 123). Aber als Politikwissenschaftler weiß er doch sicher, dass Parlamente in den westlichen Demokratien längst dort angekommen sind. Regierungen arbeiten Gesetze aus und lassen sie durch „ihre“ Parlamente verabschieden. Warum ausgerechnet bei europäischen Fragen so auf die Rechte der nationalen Parlamente pochen? Auch die Klage über die Tabuisierung der Europäisierung und die Deklarierung nach dem Tina-Prinzip kann nicht recht überzeugen. Wenn in den letzten Jahren ein Tabu bspw. in Deutschland niedergerissen wurde, dann war es das „Europa-Tabu“ – mit Folgen für das gesamte politische System (neue anti-europäische Partei, zahllose Klagen vor dem Verfassungsgericht). Dass die Kanzlerin die Rettungspolitik und den Euro als „alternativlos“ bezeichnet hat, war ja mehr aus der rhetorischen Kiste gegriffen, als dass es irgendetwas Realistisches abgebildet hätte. Die Alternativen lagen ja längst auf dem Tisch, Eurobonds auf der einen Seite, Exitstrategien auf der anderen.

Am Ende spricht sich der Verfasser – zu Recht – dafür aus, der Marktintegration Grenzen zu setzen (S. 124). Gerne hätte man etwas mehr darüber erfahren, in welchem Zusammenhang der EuGH mit seiner Rechtsprechung in die Tarifautonomie und das Streikrecht eingegriffen hat. Oder meint er damit nur einen fiktiven Fall?

Insgesamt: Ein sehr lesenswertes, kompaktes, auf dem neusten Stand befindliches Einführungsbüchlein in die EU, mit vielen Vertiefungshinweisen und Anregungen zur Diskussion.