Außenpolitik bleibt auch in der Krise Angelegenheit der Räte. Der Fall der Ukraine

Rainer Bühling, „Die EU und die Ukraine. Das Dilemma des strategischen Defizits“, Baden-Baden 2018, Nomos, 393 Seiten.

Der Politikwissenschaftler Rainer Bühling untersucht auf der Basis der Theorie des „New Intergovernmentalism“ (Bickerton, Hodson, Puetter) den „Integrationskonflikt“ um die Ukraine zwischen der EU und Russland und möchte herausfinden, warum die EU in dem Konflikt wirtschaftlich und nicht sicherheitspolitisch antwortete. Mit dem unscharfen und nicht austheoretisierten Begriff des „Neuen Intergouvernementalismus“ versuchen seine Begründer der Tatsache Rechnung zu tragen, dass in der Eurokrise die Methode des Intergouvernementalismus einen enormen Aufschwung genommen hat, aber nicht, wie vor dem Hintergrund der alten Begrifflichkeiten zu erwarten gewesen wäre, zu weniger, sondern zu mehr Europa geführt hat.

Seit die Außenpolitik Eingang in die Verträge gefunden hat, also mit Maastricht, ist sie Veto-Bereich und wird – trotz ambitionierter Institutionalisierungen „Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ (im Verfassungsvertrag sogar „Außenminister“ genannt) – als Politikbereich der Mitgliedstaaten intergouvernemental strukturiert.

Der Autor kommt zu folgenden Ergebnissen: Auch in der Ukraine-Krise konnte kein supranationales Krisenmanagement entwickelt werden. Die EU ist kein eigenständiger Akteur, mehr eine „Plattform“, auf der die Nationalstaaten ihre Politik koordinieren („transnationales Netzwerk-Regieren“). Die Politik wird von den Räten gemacht. Mehr Staatlichkeit der EU wäre erforderlich. Durch ihr Selbstverständnis als „soft power“ hat die EU auch keine Machtbasis. Als EU beschränkt sich die Gemeinschaft auf wirtschaftliche und diplomatische Handlungsoptionen. Auch über ein strategisches Konzept verfügt die EU nicht.

Als politische Alternative empfiehlt der Autor, dass die EU eine allgemeingültige Strategie mit intergouvernementalen Steuerungsmechanismus entwickelt. Auch sollten die Nationalstaaten den supranationalen Organen mehr vertrauen. Obwohl eine Verlagerung auf die supranationale Ebene wünschenswert wäre, kommt der Autor zu einem pessimistischen Ergebnis: „Ein rein durch EU-Organe durchgeführtes, ganzheitliches Krisenmanagement unter Einbeziehung aller Dimensionen und unter Rückgriff auf alle potentiell möglichen Instrumente des Handlungssystems wird es auf absehbare Zeit deshalb – außer vielleicht im Verteidigungsfall nach Artikel 42, da dort auch mit großer Wahrscheinlichkeit die NATO involviert wäre … – nicht geben“ (S. 360).

Wider das Narrativ von der europäischen Integrationsteleologie. Kiran Klaus Patels Geschichte des Projekts Europa.

Kiran Klaus Patel, „Projekt Europa. Eine kritische Geschichte“, München 2018, Verlag C.H.Beck, 463 Seiten.

Von wem genau sich der Autor mit dem im Buchtitel anklingenden Kritikaspekt absetzen will, wird nicht ganz klar. Von anderen historischen Darstellungen zur europäischen Geschichte oder von den in den Hochglanzflyern präsentierten Selbstdarstellungen der EU – das wird nicht ganz klar. Der Bezug auf letztere wäre nicht der Mühe wert, geht es dort doch um vereinfachende politische Werbung. Ein expliziter Bezug auf andere historische Darstellungen wird im Buch nicht hergestellt.

Ansonsten muss man bei dem Label „Kritik an Europa“ ja mittlerweile auf der Hut sein. Für die Verlage scheint es sich zu rentieren, darunter schlicht dümmliche nationalistische Propaganda zu publizieren, nach dem aus anderen Wäldern bekannten Motto „Das muss man doch mal sagen dürfen“. Von dieser Machart ist das vorliegende Werk Patels, das sei ausdrücklich betont, nicht.

Der Historiker Kiran Klaus Patel greift eine Vorstellung von europäischer Geschichte auf, die – in der Art von Matroschkapuppen – eine Teleologie in den Anfängen sucht, die mit eherner Notwendigkeit zu der heutigen EU geführt habe. Der Samen, der mit der EGKS gesät, gut gedüngt und gewässert wurde, sei Jahrzehnte später als das kunstvolle Gebilde der Europäischen Union aufgegangen. Dem will Patel mit seiner material- und quellengestützten Historiographie bis zum Maastrichter Vertrag in acht Kapiteln, nicht in einer Chronologie, sondern gereiht nach acht Themen, entgegenarbeiten.

Im Kapitel „Europa und europäische Integration“ (1) steht im Mittelpunkt der Darstellung, dass es bis in die 70er Jahre hinein keineswegs ausgemacht war, dass es die EG war, die zum zentralen Bezugspunkt für westeuropäische Integration wurde. Im Gegenteil. Patel zählt auf, dass sich im Zeitraum zwischen 1945 und 1948 global rund hundert internationale Organisationen gründeten, die Zahl schwoll bis 1960 auf 1255 an (S. 24). In Europa gab es den Europarat und die OEEC, mit denen sich viele Hoffnungen verknüpften, es gab die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE), die EFTA, die EZU, die Europäische Produktivitäts-Agentur usw. Die Gründung der EGKS (1952) und der EWG (1957) waren keineswegs Einzelphänomene, sondern Organisationen in einem „Labyrinth“ (S. 28). Dass sich die EG schließlich durchsetzte, war eher „unwahrscheinlich“ (S. 50), so der Autor. Dass die EG das bedeutendste Forum für europäische Kooperation wurde, lag an drei Faktoren: 1.) dem speziellen Ansatz im Handel, der geeignet für spill overs war, 2.) dem Recht, das eine autonome Entwicklung nahm, und schließlich 3.) daran, dass die EG finanzielle Ressourcen zu verteilen hatte. Einen „Masterplan“ bzw. eine „Intentionalität“, wie dies häufig erzählt wird, gab es nicht.

Im Kapitel „Frieden und Sicherheit“ (2) berichtet der Autor – wenig überraschend –, dass die EG im untersuchten Zeitraum bis 1990 auf keiner der drei Ebenen der Friedensdimension (Welt, Inneres, Soziales) eine entscheidende Rolle gespielt hat. Zu sehr war die alles übergreifende NATO präsent und zu sehr sorgten sich die Nationalstaaten für die anderen Aspekte des Friedens. Selbst die als konkretes Friedensprojekt geplante Montanunion konnte nicht mit überzeugenden Ergebnissen dienen. Die Kohlekrise Ende der 50er Jahre vermochte die Hohe Behörde nicht im Ansatz zu regulieren, Historiker kamen später auf die Idee, sie als „supranationale Investitionsruine“ (S. 78) zu bezeichnen.

Das Kapitel über „Wirtschaftswachstum und Wohlstand“ (3) beschäftigt sich zunächst etwas länglich mit einer Frage, die empirisch nicht zu beantworten ist, nämlich der Frage, wie hoch der Beitrag des Einigungsprozesses zum Wirtschaftswachstum in der Betrachtungsperiode war. Letztlich lässt der Autor die Frage offen, vermutet aber, dass der Beitrag nicht allzu hoch anzusetzen ist. Der Autor hält weiter fest, dass der Stellenwert der Sozialpolitik in jener Zeit nie im Mittelpunkt stand. Am Ende folgt noch eine interessante Aussage: „Eine klare wirtschaftstheoretische Ausrichtung lässt sich nicht ausmachen. Die EG stand für Handelsliberalisierung, verschärften Wettbewerb und das Marktprinzip, aber auch für Protektionismus, Regulierung und teilweise sogar für zentralistische Planung unter kapitalistischen Vorzeichen… Einem eindeutigen Modell, etwa dem Neoliberalismus oder dem deutschen Ordoliberalismus, lässt sich die EG .. nicht zuschlagen“ (S. 146).

Im Kapitel „Werte und Normen“ (4) liest man, dass sich die EG lange schwer damit getan hat, diesen Politikbereich in sich aufzunehmen. Letztlich gelang dies ja erst mit dem Verfassungsvertrag (2005) bzw. dem Lissabon-Vertrag (2007). Eine Station bestand darin, dass sich die EG in den 60er Jahren dazu verhalten musste, dass sich 1967 in Griechenland eine Militärjunta an die Macht putschte, in einem Land also, mit dem sie ein Assoziationsabkommen hatte. Die EG entschloss sich dazu, die Beziehungen einzufrieren, während bspw. die Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland (auch die NATO) weiter Beziehungen mit dem Land pflegten. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung wertegebundener Positionen spielt auch der Europarat.

Im etwas missverständlich titulierten Kapitel „Partizipation und Technokratie“ (5) geht es um Akzeptanz und Ansehen der Gemeinschaft bei „ihren“ Bürgern zwischen zivilgesellschaftlicher Partizipation und Elitenpolitik. Die Darstellung bildet die Europapolitik der Nazis ab, die Initiativen Coudenhove-Kalergis und Denis de Rougemonts, auch Hannah Arndts, Churchills und der westeuropäischen Kommunisten. Warum gelang es nicht, zivilgesellschaftliches Engagement für Europa zu mobilisieren? Weil die Integrationsmaterie eben technokratisch ist, so der Autor. Auch weil die Akteure Europa für zu wichtig hielten, als dass sie es den Launen der Völker überantworten wollten. Alles in allem blieb Europa ein „Adiaphoron“, ein Ding, das weder angenehm noch unangenehm, weder lohnens- noch tadelnswert ist, mithin den Menschen gleichgültig oder, anders formuliert, das Ergebnis eines „permissiven Konsenses“.

Im – unnötig sensationistisch aufgemachten – Kapitel „Bürokratisches Monster oder nationales Instrument“ (6) erfährt der Leser, dass die EG/EU das Gegenteil eines „Bürokratischen Monsters“ – einen solchen Unsinn glauben nur rechtsradikale Idioten oder Enzensberger – ist. Der Verfasser wusste es natürlich auch schon vor seiner Untersuchung, dass „die EG erstaunlich klein und kompakt“ (S. 232) ist, dass sie mit einem kleinen, außerordentlich sachkundigen Beamtenapparat auskommt und „mausgrau, aber wirkungsvoll“ arbeitet, u.a. weil sie sich mit den nationalen Bürokratien verflochten hat. Das Cassis-de-Dijon-Urteil des EuGH von 1979 wird in seiner Bedeutung für den Integrationsfortschritt referiert (S. 242 ff.), es führte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, ebenso die Neue Konzeption (Festlegung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen) sowie die Einführung des Artikel 100a (Maßnahmen der Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften). Das früher außerordentlich europa- und integrationsfreundliche Italien wird erwähnt, das aber viele Beschlüsse wegen der fehlenden „administrativen Leistungskraft“ kaum umsetzen konnte (S. 259).

Im Kapitel „Desintegration und Dysfunktionalität“ (7) wird hervorgehoben, dass der Integrationsprozess nicht immer nur die eine Richtung kannte, also dem Narrativ des „immer engeren Zusammenschlusses“ folgte, sondern Algerien 1962, Grönland 1985 und die Insel Saint-Barthélemy in der Karibik 2012 die Gemeinschaft verließen, der Luxemburger Kompromiss 1966 schon eine Verabschiedung von dem supranationalen Integrationsprinzip brachte, die Montanunion Ende der 50er Jahre schon nicht mehr funktionierte und mit dem Lissabon-Vertrag die Austrittsmöglichkeit in den Vertrag rückte. Insgesamt gehören Desintegration und Dysfunktionalität, wie man am Beispiel der unsanktionierten rechtsstaatlichen Verstöße osteuropäischer Länder sieht, heutzutage zum Alltag der EU.

Im Kapitel über die „Gemeinschaft und ihre Welt“ (8) erfährt der Leser, dass die Kommission immer wieder versuchte, als Akteur nach außen in Erscheinung zu treten, ihr dies aber selten gelang. Sicherheitspolitisch blieb bspw. die NATO die bestimmende Größe. Zwar entwickelte sich eine gewisse Eigendynamik, mehr aber ließen die Mitgliedstaaten nicht zu.

Dass sich der Autor in der jüngeren europäischen Geschichte nach Maastricht noch nicht so gut auskennt, merkt man an folgender Einschätzung:

Wahrscheinlich hätte es selbst ohne das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Einheit einen Integrationsschritt in Form eines neuen Vertrags gegeben. Das gilt besonders für die Wirtschafts- und Währungsunion. So sei die in Deutschland lieb gewordene Legende, dass in Maastricht die Bundesregierung die solide Deutsche Mark als europäischen Preis für die nationale Einheit habe opfern müssen, ins Reich der Mythen verbannt. Tatsächlich waren die Verhandlungen über eine gemeinsame Währung seit den 1970er Jahren in Gang gekommen und hatten im Verlauf der 1980er Jahre Tempo aufgenommen; insofern war das Fundament der Währungsunion bereits Ende der 1980er Jahre gelegt. Ein Scheitern der Verhandlungen über eine europäische Währungsunion wäre in Maastricht nicht unmöglich, aber doch recht unwahrscheinlich gewesen. Für eine derartige Übereinkunft gab es genuin währungs- und wirtschaftspolitische Gründe – nichts zuletzt angesichts des Binnenmarktprojekts seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Der Umbruch von 1989/90 machte die Sache lediglich noch dringlicher“ (S. 343).

Es mag sein, dass dem Historiker Kohl 1990 mit der Hergabe der D-Mark vorschwebte, eine Opferzeremonie für die Nationenbildung zu inszenieren, etwa nach dem Motto: „Die gute Deutsche Mark musste für die noch viel wertvollere deutsche Einheit hergegeben werden.

Patel ist aber insofern zu widersprechen, als die Wahrscheinlichkeit eher für die Gegenthese spricht, dass nämlich ohne die Epochenwende keine Währungsunion gekommen wäre. Hier nur einige Argumente: 1.) Im Sommer 1989 lag ein unverbindlicher Plan vor, der Delors-Plan, der, wie der Werner-Plan rund zwei Jahrzehnte vorher auch im historischen Nichts hätte auslaufen können. 2.) Nur mit größtem Druck Mitterrands ließ sich Kohl Ende 1989 zu der Einberufung einer Regierungskonferenz zum Thema „Währungsunion“ bewegen. 3.) Die Bundesbank und ihr Präsident (Pöhl) hatten nur mit größtem Widerwillen bei der Arbeit im Delors-Ausschuss mitgemacht. Ihre Abneigung gegenüber der Währungsunion und – nach der totalen „Niederlage“ (deutsche und europäische Währungsunion) – ihre Rachegelüste und vielleicht auch Torpedierungsversuche in Hinblick auf den Übergangsprozess lassen sich an der Irrationalität ihrer Zinspolitik 1992/93 in etwa ermessen. 4.) Die klare Mehrheit der (West)Deutschen wollte keine europäische Währungsunion.

Insgesamt stellt das Werk Patels eine sehr lesenswerte EG-Geschichte zwischen 1952 und 1990 dar, die mit vielen wenig bekannten Details und Zusammenhängen sowie mit immer wieder neuen Perspektiven zu überzeugen weiß.