Mit der größte Vorzug des Büchleins liegt darin, einen Begriff zu vermeiden, der in den vergangenen Jahren zum Modebegriff der politischen Zeitdiagnose geworden ist. Von dem Begriff des „Populismus“ ist die Rede. Fischer verwendet stattdessen den Begriff des „Neonationalismus“ – und das mit großem Recht. Tatsächlich ist das Phänomen (Parteien, Bewusstseinsformen, Einstellungen etc.), das mit dem Populismusbegriff bezeichnet werden soll, nichts weiter als konventioneller, ins Hier und Jetzt herübergewucherter Nationalismus, mit all seinen Schattierungen, vom Rassismus bis hin zur nationalen Mythenbildung. Der Begriff bildet mehr ein salonpolitologisches Sonderforschungsprogramm ab, als dass er neue Erkenntnismöglichkeiten in einer kompliziert gewordenen Welt eröffnet. Fischer jedenfalls verzichtet – kommentarlos – auf den Begriff.
Die Hauptthese Fischers kündigt sich im Titel an: Das Jahr 2016, nicht 1990, ist das Jahr, das die Epochenwende einläutet, das Viertel Jahrhundert dazwischen war nur ein Interludium. Das Ende des Kalten Krieges hat eben nicht das zunächst triumphalistisch ausgerufene „Ende der Geschichte“ gebracht, sondern bei denen, die vermeintlich triumphiert haben, im Jahr 2016 zwei Entscheidungen, die das Gegenteil des Triumphs auslösen, nämlich den Niedergang. Die Brexit-Entscheidung in Großbritannien und die Trump-Wahl in den USA haben den ehemaligen Außenminister offensichtlich dermaßen erschüttert, dass er sie gleich zum Signal für die These vom „Abstieg des Westens“ nimmt. Wir trennen das Jahr einmal von dem Berichteten.
Zum Berichteten: Bei der Titelgebung erfasste den Autor der Mut, und der Mut führte zur These vom „Abstieg des Westens“, bei der Textgestaltung verließ ihn wieder der Mut, und die These mäandert zwischen der „Wachablösung der USA“ (S. 56, 93), Chinas „Aufstieg zur globalen Führungsmacht“ (S. 105) einerseits und dem „Duopol“, „einer Art Doppelspitze“ (S. 106) mit den USA und China andererseits hin und her.
Die Just-in-time-Diagnose der Epochenwende ist ein schwieriges Geschäft, ein noch schwierigeres ist die Prognose. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass sich das Orakel zu früh meldet und Alarm schlägt. Nur scheinbar einfacher ist die Rekonstruktion des Vergangenen, das Geschäft der Zeitgeschichte. Ihre Diagnose ist schon gefestigt, weniger strittig und, je weiter entfernt der zurückliegende Gegenstand, nicht mehr durch interessierte Zeitgenossen verfälscht. In jedem Falle arbeitet die Zeitgeschichte mit Abbreviaturen in Gestalt von Begriffen. Ein solcher Begriff ist der der „Pax Americana“ bzw. der „globalen Vorherrschaft der USA“. Diese begrifflichen Abbreviaturen stellen Abstraktionen dar, die von mannigfaltigen konkreten Phänomen, Faktoren, Tatsachen usw. absehen. Wird das vergessen, besteht auch beim Referieren der Zeitgeschichte die Gefahr, dass man auf dem zeitgeschichtlichen Glacis ausrutscht.
Die Pax Americana – 1918–1990, dann deutlicher noch nach dem „Ende der Geschichte“ prolongiert in der Folge des Endes des Kalten Krieges – bestand zu keinem Zeitpunkt aus einer absoluten Hegemonie in dem Sinne, dass unilaterale singuläre Entscheidungen getroffen oder Fakten geschaffen werden konnten. Vom Beginn der Ära an suchten und benötigten die USA Bündnisse (als Alliierte im Zweiten Weltkrieg, in der NATO danach). Im Kalten Krieg waren die USA Supermacht und Vormacht, das eine, Supermacht, aber nur mit einem Gegenpol, der Sowjetunion, das andere, Vormacht, aber nur in der westlichen Hemisphäre. In jedem Falle waren sie Macht in einer Hierarchie und nicht Macht jenseits oder oberhalb einer Hierarchie. Die Kriege, die die USA führten, gewannen sie mit Bündnispartnern (Zweiter Weltkrieg), endeten „unentschieden“ (Korea 1950-53), gingen verloren (Vietnam, 1964-1975) oder mündeten in sozialen Desastern und Katastrophen (Afghanistan, seit 2001, Irak, seit 2003). Es ließe sich noch viel mehr anführen, alles läuft darauf hinaus, dass Fischers Redeweise von der beispiellosen amerikanischen Hegemonie (S. 57) in dieser Form problematisch ist.
Und diese Problematik pflanzt sich dann in die Epochendiagnose und Prognose fort. Fischer wird zwar nicht müde zu betonen, dass die amerikanische Vorherrschaft (machtpolitisch, wirtschaftlich, technologisch, militärisch) noch auf lange Zeit gelten wird, das hält ihn aber auf der anderen Seite nicht davon ab, schon das chinesische Zeitalter für das 21. Jahrhundert auszurufen. Was die US-amerikanische Überlegenheit angeht, kann am besten mit der Aussagekraft des Besitzes von Flugzeugträgern gearbeitet werden: Die USA verfügen über elf Flugzeugträger, China hat 1998 einen alten sowjetischen von der Ukraine gekauft, umgebaut und 2012 in Betrieb genommen. Das zum Thema des US-amerikanischen Hegemoniepotentials.
Wenn der eine absteigt – die USA, der Westen – steigt ein anderer, so will es die Gleichgewichtslehre, auf. Chinas historisch einzigartiger wirtschaftlicher Aufstiegsprozess vom Agrarland in ein Industrieland seit 1979 mit zunächst zweistelligen Zuwachsraten beim BIP, seit einigen Jahren nur mehr die Hälfte, basierend auf einer ebenso einmaligen ordnungspolitischen Basis, wird gerne als solches Indiz für den Aufstieg in die neue Rolle der Weltmacht genommen. Das unterstellt aber, dass sich das gigantische wirtschaftliche und soziale Experiment ohne größere Brüche und Krisen in die Zukunft verlängert und im politisch-kulturellen Sektor ebenso friktionslos bleiben wird wie bisher. Nicht erst die Weltfinanzkrise von 2008 hat aber gezeigt, dass China mittlerweile vollständig in den globalen Wirtschaftszyklus und -kreislauf eingebunden ist, dass insbesondere das Modell des exportgetriebenen Wachstums bald an ein Ende geraten könnte und dass noch längst nicht erprobt ist, wie die innerchinesischen Finanzmärkte und Finanzbeziehungen auf Dauer krisenfrei funktionieren.
Unverkennbar ist, das Jahr 2016 war für Fischer kein gutes Jahr. In der Psychologie nennt man das, was den Außenminister beschlichen hat, Katastrophendenken. Die Katastrophe wird förmlich herbeigedacht. Was aber, wenn das Jahr eine ganz andere Botschaft in den Geschichtsbüchern hinterlassen wird? Etwa – die nicht ganz neue – Botschaft, dass Demokratie zu merkwürdigen, desaströsen, dummen Ergebnissen führen kann. Oder die Botschaft, dass das große Rad der Globalisierung und Internationalisierung im vergangenen Vierteljahrhundert einen zu großen Schwung hatte. Freilich, diese Botschaften generieren keinen Buchtitel.
Auf dem „Abstieg des Westens“ sind nicht nur, so Fischer, die USA, sondern auch Europa als Teil des Westens. Und die Europäische Union trifft es im Grunde noch schlimmer, Europa stehe nicht nur ein relativer, sondern gar ein „absoluter ökonomischen und politischen Abstieg“ bevor (S. 115). Nachvollziehbar stellt Fischer fest, dass die „traditionelle europäische Erzählung … überwiegend von der Vergangenheit“ (S. 139) handelt, heutzutage reiche das aber bei weitem nicht mehr aus:
„Das neue Narrativ muss von der europäischen Zukunft handeln, die nicht mehr von einzelnen souveränen europäischen Staaten bestimmt werden wird, sondern von einer gemeinsamen europäischen Souveränität, die auf den Mitgliedstaaten und der europäischen Demokratie und ihrem gemeinsamen Rechtsraum gründet“ (S. 120). Ansonsten drohe „Fremdbestimmung“ (ebd.).
Zu dieser neuen europäischen Erzählung und Praxis weiß der ehemalige Außenminister, aber nur wenig Substantielles vorzuerzählen. Realistischerweise sei von einem neuen supranationalen Schwung nicht auszugehen, fürs Erste könne nur auf den Intergouvernementalismus gehofft werden. Es bliebe nur eine „Avantgardelösung“ (S. 123), d.h. eine vertiefte Integration im Rahmen der Eurogruppe, in militärischen Fragen und in der Flüchtlingsfrage. Entscheidend komme es dabei auf Frankreich und Deutschland an (S. 126 ff.). Warum greift Fischer in diesem Zusammenhang nicht auf die in der Sorbonne-Rede entwickelten Gedanken und Ansätze Macrons zurück, um etwas konkreter zu werden?
Blass bleiben auch die Anmerkungen zu den Erfordernissen einer neuen deutschen Europapolitik. Kein Wort zur deutschen Hegemonialposition in der Eurogruppe, kein Wort zur inneren und äußeren Austeritätspolitik Deutschlands, kein Wort zu den Vorschlägen Macrons (Euro-Finanzminister, Euro-Haushalt, Fiskalkapazität). Stattdessen nur der kryptische Hinweis, dass Deutschland Frankreich „ein gehöriges Stück“ (S. 130) entgegenkommen müsse.
Interessant, aber auch hier ohne Konkretion und Schlussfolgerung, der Hinweis zu Deutschlands zukünftiger Rolle in Europa:
„… und Deutschland ist gut beraten, Frankreich in strategischen Fragen die Führung zu überlassen, denn es mangelt ihm darin an Erfahrung, es ist für die Aufgabe weder geistig noch real vorbereitet. Die Erfahrungen der deutschen Geschichte sprächen eigentlich für ein deutsches Verbleiben im historischen Windschatten, aber die gegenwärtige Übergangsphase hin zu einer neuen, asienzentrierten Weltordnung erfordert die Europäische Union als globalen und regionalen Akteur, der sie ohne das große deutsch-französische Potential niemals werden kann“ (S. 222).
Wie nun für Deutschland – „Windschatten“ oder selbst Akteur werden? Französische Führerschaft in der Außenpolitik, deutsche Führerschaft in der Wirtschaftspolitik? Bleibt die Frage: Warum eigentlich gibt es in Deutschlands europapolitischer Diskurslandschaft die absolute Hegemonie des wirtschaftlich-neoliberalen Biedermeiers und – nicht einmal im Ansatz- einen geopolitischen Diskurs, wie ihn Fischer mit diesem Büchlein versucht hat.