Macrons Rede an der Sorbonne – Der eigentliche Inhalt

France Europe

Macrons Rede an der Pariser Sorbonne im vergangenen September wird in Deutschland häufig auf den darin enthaltenen Bezug zur Reform der Währungsunion verkürzt. Das ist unstatthaft, weil die Ausführungen zur Währungsunion nur einen sehr kleinen, einen minimalen Teil der Rede ausmachen. Auch die abstrakte europhile Begeisterung für die Rede, die ansonsten vorherrscht, wird der Essenz der Rede nicht gerecht und verpufft im atmosphärischen Dunst.

Völlig übersehen, man kann fast sagen, ignoriert wird der eigentliche Gehalt der Rede, wahrscheinlich weil in Deutschland der neoliberale Mainstream unangefochten dominiert und der hat sich viel zu sehr im Dickicht der Abwehrkämpfe gegen die Weiterentwicklung der Währungsunion verheddert und sieht mit der neuen Regierung und ihrem sozialdemokratischen Finanzminister seine Felle davon schwimmen. Dabei ist das Kleinklein der Reform der Währungsunion nichts gegen die eigentliche Essenz der Rede.

 

Die zeitgemäße, moderne Begründung des europäischen Projekts vor dem Hintergrund gravierender geopolitischer Konzentrationen und Machtverschiebungen ist das eine große Thema, das Macron anspricht, und die zukünftige Integrationsstrategie der Gemeinschaft, nachdem die Krisen der jüngsten Vergangenheit – die Krise um die Währungsunion, die Krise um die Migration und der Brexit – fürs Erste zu einer gewissen Ruhe gekommen sind, ist das andere.

 

Eine neue Begründung für das europäische Projekt

Als Motto über der Rede fanden sich die Begriffe „Souveränität, Einheit und Demokratie“. Staunen und Rätseln beim Publikum hervorgerufen hatte zunächst, was mit dem Begriff der „Souveränität“ gemeint sein könnte. Macron unterbreitet mit dem Begriff die zentrale, wenn man so will geopolitische Begründung für das europäische Projekt, sowohl in Hinblick auf die Gegenwart, als auch und mehr noch in Hinblick auf die Zukunft.

Zu verzeichnen ist gegenwärtig nicht mehr und nicht weniger als ein Paradigmenwechsel – hier passt der Begriff einmal – in der Begründung des europäischen Einigungsprozesses. War es in der Vergangenheit immer das „Europa als Friedensprojekt“ mit der kriegerischen Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts im Hintergrund, anhand dessen die europäische Einigung in den tiefsten Tiefenschichten begründet wurde, lautet die Begründung der Zukunft auf das „Europa als Schutzraum“ in einer überaus turbulent gewordenen Welt. Der Blick auf das 21. Jahrhundert kann keinen Zweifel lassen: die alten und neuen großen politischen und wirtschaftlichen Einheiten der Welt sind in den entscheidenden Parametern einem nationalistischen, regionalistischen, kleinstaatlichen Europa meilenweit überlegen, auch politischen Mittelmächten wie Frankreich und wirtschaftlichen Mittelmächten wie Deutschland. Vereinigt sich Europa nicht, wird es, wenn nicht geschluckt, dann mindestens an den äußersten Rand marginalisiert.

Und genau in diesem Sinne setzt Macron den Begriff der „Souveränität“ ein, durchaus abweichend von den gang und gäben herkömmlichen Definitionen:

„Allein Europa kann tatsächlich Souveränität gewährleisten, das heißt, die Fähigkeit, in der heutigen Welt zu bestehen, um unsere Werte und unsere Interessen zu verteidigen. Es gilt, die europäische Souveränität aufzubauen und es besteht die Notwendigkeit, sie aufzubauen.“

Nur ein souverän werdendes Europa vermag in Zukunft – so die dialektische Volte – die Souveränität seiner Mitglieder zu sichern. Das könnte sogar den Anhängern des „Europas der Vaterländer“ gefallen.

An andere Stelle heißt es noch prononcierter, dass es darum gehe, Europa zu einer „Weltwirtschaftsmacht“ zu entwickeln. In dem Maße, wie das 21. Jahrhundert Entfernung von seinem Vorläufer gewinnt, ist die Bestimmung Europas als globaler Macht tatsächlich die zentrale rationale Bestimmung.

Als „Herzstück“ des neu aufzubauenden souveränen Europas benennt Macron sechs „Souveränitätsschlüssel“. Es sind dies: 1.) die Sicherheit in allen inneren und äußeren Aspekten, 2.) die Grenzsicherung und der Umgang mit den Migrationsströmen, 3.) die Außenpolitik, 4.) der ökologische Wandel, 5.) die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und schließlich 6.) die Reformierung der Eurozone.

Während die Mainstream-Debatte in Deutschland die Reform der Währungsunion unter rein inneren Dimensionen diskutiert und sich biedermeierlich mit dem neoliberalen Guckkasten einrichtet, überwindet Macron diese Selbstvergessenheit und verleiht der Währungsunion einen äußeren Zweck, der sich auf die geopolitische Umwelt richtet.

Das „Herzstück eines integrierten Europas“ soll also die reformierte Eurozone werden. In deren Zentrum sollte ein „stärkerer Haushalt“ stehen, dessen Mittel sich dem ökologischen Wandel, der Entwicklung des digitalen Binnenmarktes sowie der (harmonisierten) Körperschaftssteuer speisen sollte. All das ergebe sich nicht als Resultat eines Marktprozesses, sondern bedürfe der „starken politischen Steuerung“ durch einen „gemeinsamen Minister“. Nur so lasse sich über den Euro – dem alle EU-Länder beitreten sollten – eine „Weltwirtschaftsmacht“ entwickeln:

„Ein Haushalt kann nur einhergehen mit einer starken politischen Steuerung durch einen gemeinsamen Minister und eine anspruchsvolle parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene. Alleine die Eurozone mit einer starken und internationalen Währung kann Europa den Rahmen einer Weltwirtschaftsmacht bieten.“

All das bedeutet, dass sich die Deutschen schleunigst an eine Relativierung ihrer bisherigen Schwerpunkte in der Debatte um die Reform der Eurozone und eine Einbettung der Euro-Debatte in übergreifende Rahmenbedingungen machen sollten. Auf den neoliberalen Spielwiesen wird die Zukunft Europas nicht entschieden.

 

Die Integrationsstrategie der Zukunft: Wettbewerb oder Konvergenz?

Diskussionen über die Finalität des europäischen Projekts sind gegenwärtig nicht gerade en vogue. Zuletzt konnte man das an dem Aufschrei erkennen, der des armen Schulzes Hinweis auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ während der Koalitionsverhandlungen auslöste. Das kann man nachvollziehen. Nicht nachvollziehen kann man aber die Verweigerung gegenüber einer Diskussion um die zukünftige Strategie des europäischen Einigungsprozesses. Es hat fast den Anschein, als würde über dieses Thema in Deutschland nur in den Katakomben der Freimaurer debattiert, da es für hochgradig kontaminiert und höchst gefährlich gilt und die Öffentlichkeit nicht verunsichert werden soll.

Den einzigen Reim, den man sich auf dieses Phänomen machen kann, findet man bei den Diskussionen um die hegemoniale oder halbhegemoniale Stellung Deutschlands mindestens in der Währungsunion, wenn nicht in der Union überhaupt. Das ist für Deutschland offensichtlich eine höchst unangenehme Wahrnehmung von außen, und auch seiner selbst. Dabei ist die Diskussion doch gar nicht so gefährlich, hat die jüngere Vergangenheit doch gezeigt, dass es mit der deutschen (Halb)Hegemonie doch nicht so weit her ist. Weder konnte der Hegemon gegenüber Großbritannien ein Remain erzwingen noch ließ sich die deutsche Flüchtlingspolitik mir nichts dir nichts auf ganz Europa ausdehnen. Auch der Aufstieg der so genannten Populisten in ganz Europa zeigte doch die Grenzen des vermeintlichen Hegemons auf. Die Liste ließe sich verlängern.

Sieht man von den marktradikalen und nationalradikalen Alternativen zur europäischen Einigung ab, lassen sich grundsätzlich zwei – gegensätzliche – Integrationsstrategien ausmachen. Es sind dies erstens die Wettbewerbsstrategie und zweitens die Konvergenzstrategie. In der Vergangenheit konnte man den Kampf der beiden Strategien auf dem Gebiet des Wirtschaftlichen beobachten, nämlich bei der Herstellung des Binnenmarktes (Vereinheitlichung versus gegenseitige Anerkennung). Offen wurde er im Politischen noch nicht geführt. Jetzt aber ist es soweit, spätestens mit der Rede Macrons ist der Streit eröffnet.

Mit dem maßgeblich durch Deutschland gesteuerten Umbau der Währungsunion von einer ehedem egalitären in eine hegemoniale Währungsunion hatten sich die deutschen Akteure – ob bewusst oder unbewusst, muss an dieser Stelle nicht erörtert werden – als Verfechter der Wettbewerbsstrategie erwiesen. Hat im ersten Jahrzehnt der Währungsunion noch an den Finanzmärkten der gleiche Zins für die Kreditaufnahme der Mitgliedstaaten geherrscht, so wurde dies mit der Eurokrise anders. Es setzte eine Differenzierung zwischen den Staaten ein, und seither gilt der unterschiedliche Zins mit differenzierten Risikoprämien an den Kapitalmärkten als prägendes Merkmal. Das nennt man Staatenwettbewerb, zumal mit der rücksichtslosen Durchsetzung des Haftungspostulats in der Eurodiskussion die materielle Basis dafür gelegt wurde. Im Verlauf der Krise gab es etliche Anzeichen, dass man von deutscher Seite gerne den kompetitiven Föderalismus für die Währungsunion zum strukturbestimmenden Prinzip erhoben hätte.

Macron setzt dem mit der Sorbonne-Rede eine glasklare Alternative entgegen. Ablesbar ist dies wiederum am Motto der Rede – „Souveränität, Einheit und Demokratie“. Es kommt ihm auf Einheit an, ganz ohne über die Finalität des europäischen Projekts zu philosophieren.

„Diese europäische Einheit, von der deutsch-französischen Aussöhnung bis zur Wiedervereinigung von Ost und West ist unser schönster Erfolg und unser wertvollster Trumpf… Wir werden kein starkes und souveränes Europa haben, wenn es nicht vereint ist, zusammenhält, kohärent ist. Verlieren wir diese Einheit, gehen wir das Risiko ein, zu unseren todbringenden Brüchen und unserer zerstörerischen Hegemonie zurückzukommen.“

Im Sinne der Einheits- und Konvergenzstrategie und gegen die „Diktatur des Marktes“ führt Macron dann einzelne seiner Forderungen auf: die Überarbeitung der Entsenderichtlinie, die Vereinheitlichung der Körperschaftssteuer und – vor allem und grundlegend – die Sozialkonvergenz, die zu einer schrittweisen Annäherung der europäischen Sozialmodelle führen sollte.

Und unverkennbar und warnend an die deutsche Adresse formuliert er:

„Anstatt also all unsere Energie auf unsere inneren Spaltungen zu konzentrieren, wie wir es nun schon viel zu lange machen, anstatt unsere Debatten in einem europäischen Bürgerkrieg zu verlieren – denn darum handelt es sich bei den Haushalts-, Finanz- und Politikdebatten –, müssen wir eher darüber nachdenken, wie wir Europa stärker machen in der Welt, wie sie ist.“

Ins achte Jahr gehende Austeritätspolitik in Europa durchzusetzen und die immerwährend um Stabilitätspolitik und Haftungsprinzip kreisenden Reformdiskussionen um die Währungsunion als „Bürgerkrieg“ zu bezeichnen, ist ein überdeutliches Signal nach Berlin. Die Zukunft Europas wird nicht im Staatenwettbewerb, sondern in seiner Vereinheitlichung und Konvergenz liegen.

Seit der Rede ist schon viel Zeit verstrichen. Die Deutschen sollten sich bald daran machen, ein Antwort auf dem Gebiet zu entwickeln, das Macron mit seinen Forderungen nach einem Europa als Schutzraum und einem Europa der Konvergenz skizziert hat. Warum eigentlich genau fand sich dafür kein Platz im Koalitionsvertrag?